Samstag, 27. April 2024

Emma Braslavsky: "Erdling"
Ein abgedrehter Roman über deutsche Kosmos-Fantasien

In ihrem neuen Roman beschreibt Emma Braslavsky eine wilde Reise durch das Weltall: Detektivin Emma Erdling wird von Oscar Lafontaine beauftragt, dessen von Aliens entführte Frau Sahra Wagenknecht zu finden. Eine verworrene Jagd beginnt.

Von Enno Stahl | 08.01.2024
Andromedagalaxie und Sternbild Andromeda
In Emma Braslavkys neuem Roman wurde Sarah Wagenknecht von Aliens entführt - und die Protagonistin beginnt eine Reise durchs Weltall. (picture alliance / Westend61 / Christian Zappel)
Emma Erdling, die Protagonistin von Emma Braslavskys neuem Roman, hat ihr Studium geschmissen und stattdessen ein Detektivbüro aufgemacht. Echte Aufträge bekommt sie allerdings nicht. Vielmehr posiert sie als „geschundene linke Detektivin“ bei Instagram, was ihr einige Berühmtheit eingebracht hat. Dabei ist die politische Ausrichtung bei ihr eher Zufall.
„Lang ignorierte ich diese Gleichgültigkeit, nein, eher diese Verwirrung, die bei mir mit dem Wort links aufkam. Ich ignorierte, dass in mir bei all dieser bundesdeutschen Links-Romantik nichts brannte, ich fühlte nichts. (…) Und weil ich mit Sicherheit nicht rechts fühlte, weil ich jung war und progressiv dachte, war ich natürlich links. Ich reihte mich ein und flog mit dem Schwarm. Mein Verstand war wie betäubt von dieser Unbeschwertheit, die überall wie Frischeduft von Lenor aus den Köpfen dampfte, dabei erschien mir die Welt hohl und seelenlos.“

Entführung in einer Parallelwelt

Ihre Existenz ist einigermaßen gesichert, dank der Unterstützung durch ihre alte Tante Klara, die einst als Philosophie-Professorin Logik an der Humboldt-Uni lehrte. Emmas leidlich funktionierende Existenz wird jedoch zerstört, als sich wegen eines missverständlichen Postings ein Shitstorm über sie ergießt. Nicht nur das gerät aus den Fugen.
Emma Braslavsky: „Erdling“
Suhrkamp Verlag, 2023
425 Seiten, 26 Euro
Nach einer Berliner Antiquariatsfeier wird die Protagonistin in eine Parallelwelt nach München entführt. Sie erfährt von einer interstellaren Auseinandersetzung von Außerirdischen und dass sie, wie alle Deutschen, in Wahrheit aus dem viele Lichtjahre entfernten Doppelsternsystem Aldebaran stammt.
Dann kommt, einigermaßen überraschend, Oskar Lafontaine in ihr Büro und erzählt, dass seine Frau Sahra Wagenknecht von Aliens geraubt wurde. Erdlings erster Suchauftrag.

Tour de Force von Wurmloch zu Wurmloch

Jetzt entspinnt sich eine völlig überdrehte Tour de Force, von einem Wurmloch ins nächste. An einer Stelle zitiert Erdling einen Zeitungsartikel, der gut als Poetik des Romans selbst zu verstehen ist:
 „Wenn ein Autor eine Welt eigener Ordnung erschafft, sei sie in jedem Fall in sich logisch und hätte ihre eigene Mathematik. Dieser neue Raum sei nun erschlossen und für die Allgemeinheit betretbar. Jedoch auf eigene Gefahr. Wahrscheinlichkeiten seien genauso real wie faktische Realität, selbst wenn sie zunächst jeder Logik zu entbehren scheinen. Fiktion sei Expansion. Alles, was ein Mensch sich vorstellen könne, beginne ab diesem Moment zu existieren.“
Nach diesem Prinzip geht die Protagonistin auf ihre verworrene Jagd nach Sahra Wagenknecht. Allerdings stellt sich heraus, dass der Plot vom Unterbewusstsein der Ich-Erzählerin selbst ersonnen und auch von ihr beeinflussbar ist. Die Reise geht in astrale Gegenden, die von frühen deutschen Science-Fiction-Autoren wie Kurd Lasswitz oder Paul Scheerbart erdacht wurden.

Viele Längen auf 400 Seiten

Irgendwann landet Erdling im Berlin der 1920er-Jahre, bei einer wilden Dichter-Party mit Thomas, Klaus und Erika Mann, Vicki Baum, Rudolf Herzog und Hanns Heinz Ewers.
Ewers, berühmt-berüchtigter Unterhaltungsschriftsteller der Weimarer Republik, wird ihr Ciccerone auf dem Parforce-Ritt durch Fantasmen und Abgründe der deutschen Geisteswelt. Immer neue Ideen und Gebilde deutscher Esoteriker, Visionäre oder Zukunftsautoren werden hier erzählerisch durchmessen. Wie an einer Perlenkette reihen sich Szenen und Szenerien aneinander.
Der Dramaturgie bekommt das nicht. Auf über 400 Seiten ausgedehnt, ergeben sich schon ziemliche Längen. In einem umfangreichen Nachwort bezeichnet Braslavsky ihren Roman treffend als „narratives Kulturdenkmal“. Das weist aber auch auf das Problem des Buchs.
Denn all die metaliterarischen Übernahmen aus anderen Werken, ein massives Namedropping und Zitieren wie zu postmodernen Hochzeiten fügen sich nicht recht in die Romanform. Die Ausgangskonzeption Braslavskys ist vielleicht etwas zu theoriegesteuert für ein Erzählwerk.
Im Nachwort führt sie aus: „Als mir bei weiteren Recherchen dann klar wurde, dass die Deutschen bis heute, aber offenbar nicht immer schon ihre Schwierigkeiten mit Außerirdischen haben, vor allem die linken Deutschen, als ich verstand (…), wie wichtig Weltraum und Außerirdische im deutschen Denkraum und der Literatur einmal gewesen waren, da begann ich zu begreifen, worin ich hier hineingezogen werden sollte und dass ich es hier mit einer Untersuchung der deutschen Geistesgeschichte anhand meiner eigenen Psyche zu tun hatte.“
Zwar zeichnet sich der Roman durch eine höchst geschmeidige Sprache aus, schnoddrig, lakonisch und amüsant. Die Erzählung ist sehr elaboriert, gespickt mit Verweisen auf Philosophie und Theorie.
Dennoch kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich ein echter erzählerischer Drive nicht recht einstellen will. Der rote Faden reicht dafür nicht aus. Und was genau Sahra Wagenknecht eigentlich im Weltraum erlebt hat, erfährt man auch nicht.