Freitag, 19. April 2024

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Röttgen (CDU) zu syrischen Flüchtlingen
"Europa muss den Flüchtlingen dort helfen, wo sie sind"

Angesichts der Flüchtlingskrise an der syrisch-türkischen Grenze wäre es falsch von der EU, Flüchtlinge von dort aufzunehmen, sagte der CDU-Politiker Norbert Röttgen im Dlf. Das wäre nur eine Honorierung der Politik, die Putin, Assad und Erdogan betreiben, und das wäre keine Lösung.

Norbert Röttgen im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 10.03.2020
Norbert Röttgen sitzt im Studio der ARD-Talkshow "Anne Will" in Berlin.
CDU-Politiker Norbert Röttgen ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag (picture alliance / Eventpress Staufenberg)
Der syrische Präsident Baschar al-Assad und der russische Präsident Waldimir Putin hätten die rund eine Million Flüchtlinge an die syrisch-türkische Grenze gebombt, sagte CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen im Dlf. Die EU müsse den Menschen nun dort helfen, wo sie sind, "ansonsten werden sie auch nach Europa durchbrechen".
Migranten warten an der türkisch-griechischen Grenze. Die Grenze ist mit Stacheldraht gesichert.
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Das Problem für die EU sei nur, dass sie keine strategische Positionierung in dieser Krise habe. Die EU müsse endlich auch den russischen Präsidenten unter Druck setzen, damit er an den Verhandlungstisch komme. Putin habe in dem Konflikt die strategische Macht, er werde aber bislang außen vorgelassen.
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Da komplette Interview im Wortlaut:
Münchenberg: Herr Röttgen, es heißt ja immer so schön, wenn man nicht weiter weiß, dann gründet man einen Arbeitskreis. Gilt das auch für die EU und die Türkei?
Röttgen: Ich muss zugeben, es ist mir genau diese Formel eben in den Sinn gekommen. Die Europäische Union hat ganz offensichtlich immer noch keine strategische Positionierung gegenüber dieser dramatischen, humanitär und außenpolitisch dramatischen Lage, und das drückt sich darin aus, dass man jetzt einen Arbeitskreis gründet. Das ist viel zu wenig und die EU hängt schon zurück. Sie hat viel verschlafen und darum ist das sehr enttäuschend.
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Münchenberg: Hat keine strategische Positionierung, sagen Sie. Was meinen Sie damit?
Röttgen: Damit meine ich, dass man die Probleme erfassen muss und die strategischen Spieler auch adressieren muss. Das zentrale Problem liegt darin, dass Erdogan das Wasser bis zum Halse steht. Deshalb müssen wir mit ihm kein Mitleid haben, aber es ist Teil der strategischen Lage - dadurch, dass Assad und Putin ihm eine Million Menschen an seine syrisch-türkische Grenze bombardiert haben. Die strategische Macht in diesem Drama hat Wladimir Putin und der wird von den Europäern komplett aus dem Spiel gelassen. Wenn dieses Kriegstreiben weitergeht, wenn der Krieg weitergeht, inklusive der Geländegewinne, die jetzt Assad gemacht hat, mit dem sogenannten Waffenstillstand, der nur zum Nachteil von der Türkei und nur zum Vorteil von Syrien und Russland war, dann wird dieses weitergehen, und da muss man ansetzen.
"Erdogan ist mit seiner Politik gescheitert"
Münchenberg: Auf der anderen Seite, Herr Röttgen, nutzt Erdogan die Flüchtlinge aus, schickt sie an die Grenze, um da Druck zu machen auf die Europäer. Auf der anderen Seite hat er ja in Syrien selbst interveniert und sich da faktisch eine blutige Nase geholt, angesichts der Machtverhältnisse dort.
Röttgen: Sie haben völlig recht und darum verteidige ich auch überhaupt nicht Erdogan, sondern ich gehöre zu denen, die ihn in den letzten Jahren immer kritisiert haben, und stelle jetzt fest: Er ist mit seiner Politik gescheitert, vollständig gescheitert. Aber das ist seine Lage und die Frage ist nun, was bedeutet das für die Europäer, dass Erdogan in dieser Lage ist. Die eine Million Flüchtlinge sind eben da.
Münchenberg: Was fordern Sie konkret von der EU, weil Sie sagen, auch die strategische Positionierung fehlt. Was konkret soll die EU Ihrer Meinung nach tun?
"Müssen Putin auffordern an den Verhandlungstisch zu kommen"
Röttgen: Die EU muss zwei Dinge tun. Sie muss erstens unmittelbar den eine Million Flüchtlingen, die an der Grenze sind, wo zum Teil Kinder erfroren sind, Zelte und Menschen im Matsch versinken, sie muss unmittelbar an dieser Druckstelle Linderung schaffen durch humanitäre Hilfe. Dafür brauchen wir, damit die Hilfe ankommt, die Kooperation der Türkei, weil es das Nachbarland und an der Grenze zur Türkei ist.
Das Zweite ist: Wir müssen mit Putin und Russland reden. Und nicht nur reden, sondern ihn auffordern, an den Verhandlungstisch zu kommen, statt Bombenpolitik, Verhandlungspolitik zu machen. Und wir müssen unsere Ernsthaftigkeit unterstreichen damit, dass es andernfalls wirtschaftlichen Druck in Form von Sanktionen auf Moskau geben wird. Wenn wir dort nicht ansetzen, dann setzen wir nicht an der Ursache an, und wir werden immer nur die Empfänger desastrröser Folgen von katastrophaler Politik von Erdogan, Assad und Putin bleiben als Europäer.
Münchenberg: Sie sagen, humanitäre Hilfe für die eine Million Flüchtlinge an der türkischen Grenze. Schließt das auch mit ein, Menschen nach Europa zu holen?
Röttgen: Das schließt nicht ein, Menschen nach Europa zu holen. Sondern wir müssen gerade im Gegenteil dieser Million Menschen - es sind eine Million Menschen - dort helfen, wo sie sind. Sie sind ja noch in Syrien. Sie sind auf dem Weg, zum Teil schon an der Grenze zur Türkei oder auf dem Weg dorthin. Sie können gar nicht anders, als vor den Bomben Assads und Putins zu fliehen. Das ist ja die Kriegstaktik, die angewendet wird. Menschen werden bombardiert auf Marktplätzen, in Hospitälern, in Schulen, damit sie fliehen müssen, damit man das Land im Nachhinein erobern kann. Nun sind sie zusammengepfercht in einem immer kleiner werdenden Teil von Idlib an der Grenze. Dort müssen wir sie erreichen. Dort sind sie, nur dort können wir ihnen helfen. Ansonsten werden sie auch in ihrer Not nach Europa durchbrechen. Wir müssen ihnen dort helfen. Das ist mein Appell.
Erdogan gibt sein Problem an die Europäer weiter
Münchenberg: Aber noch mal, Herr Röttgen. Das ist die Metaebene.
Röttgen: Nein!
Münchenberg: Die große geopolitische Sichtweise. Die Frage für die EU ist auch schon ganz konkret: Wie umgehen mit der Türkei, die ja versucht, mit den Flüchtlingen die EU zu erpressen.
Röttgen: Das ist keine Metaebene, wenn wir Menschen, die sterben und im Matsch versinken, helfen. Das ist sehr konkret. Das ist das Praktischste, was man tun kann. Das Problem, das wir mit der Türkei an der griechischen Grenze haben, entsteht dadurch, dass Erdogan sein noch größeres Problem an seiner syrischen Grenze auf die Europäer weitergibt und uns veranlassen will, man kann auch sagen drohen will, dass Europa sich mit dieser Situation beschäftigt und engagiert. Das ist inakzeptabel, was er dort macht. Da hat Frau von der Leyen völlig recht. Aber es ist genauso inakzeptabel, dass die Europäer glauben, weggucken zu können an dem anderen Drama. Wir beide müssen das Verhalten ändern.
Münchenberg: Aber ist es nicht trotzdem ein Dilemma von der EU, weil sie muss sich auch gegenüber der Türkei positionieren, und die Türkei bekommt auch sechs Milliarden für die Flüchtlingshilfe im eigenen Land. Ist das nicht auch schwierig für die EU, jetzt zum Beispiel auf die Türkei zuzugehen, wenn auf der anderen Seite der Vorwurf steht, Erdogan erpresst die EU?
Röttgen: Natürlich ist es schwierig, aber wir müssen klar erst mal wissen, was wir wollen. Das habe ich gerade versucht zu beschreiben, was unsere Interessenlage ist. Dann haben wir eine klare Position gegenüber Erdogan und gegenüber der Türkei, die wir formulieren, dass das Verhalten an der griechischen Grenze sofort beendet wird, dass im Gegenzug die Europäer sich kümmern um die eine Million Flüchtlinge, die ihm den Druck machen. Er hat ja schon dreieinhalb Millionen syrische Flüchtlinge allein im Land. Das heißt, die Flüchtlingskrise der Türkei ist ein Vielfaches von unserer Flüchtlingskrise in Zahlen gemessen. Eine neue steht ihm bevor und wir müssen anfangen, als Europäer Politik zu machen, Syrien-, Russlandpolitik, so unangenehm das ist, aber es hilft nichts. Und wenn wir das sagen, das machen wir, dann können wir auch mit der Türkei wieder in ein Verhältnis kommen.
Nebenbei, bei aller grundlegenden scharfen Kritik an Erdogan: Die Türkei ist von strategischem Interesse für die Europäer. Dass Erdogan nun gescheitert ist mit seiner Annäherung an Putin, ist auch eine strategische Chance für die Europäer.
"Die Türkei ist der Willkür Assads und Putins völlig ausgeliefert"
Münchenberg: Herr Röttgen, im Augenblick herrscht ja ein Waffenstillstand in der Region Idlib. Die Frage ist, wie lange das hält. Sie haben die eine Million Menschen angesprochen, die an der Grenze zur Türkei Schutz gesucht haben. Die Frage ist: Wenn die Lage jetzt wieder eskaliert, kann dann Europa fordern, dass die Türkei auch mit diesen Menschen allein klarkommt, oder muss die EU nicht letztlich auch Menschen in Europa aufnehmen?
Röttgen: Wir müssen, glaube ich, jetzt allein das tun, was nach meiner Überzeugung jetzt das Gebotene ist. Sie haben völlig recht: Der Waffenstillstand, der abgeschlossen worden ist, hat das weitere Vordringen von Assad besiegelt und hat die Situation der Flüchtlinge in der Türkei noch weiter an den Rand gedrängt. Ob es hält, hängt allein an der Entscheidung von Herrn Putin, die militärische Offensive zusammen mit Assad wieder aufzunehmen oder nicht. Das heißt, die Türkei und die Flüchtlinge sind dem Willen und der Willkür Assads und Putins völlig ausgeliefert. Das Drama ist noch steigerungsfähig.
Münchenberg: Aber Europa duckt sich ja gleichzeitig trotzdem weiter weg!
Röttgen: Sie haben völlig recht. Europa duckt sich weg und darum müssen wir mit Politik anfangen, und das heißt, wir müssen Druck auf Putin und Moskau ausüben, dass sie zu Verhandlungen kommen und zu einer Verhandlungslösung bereit sind, anstatt Eroberungspolitik zu machen. Das ist der absolute Schlüssel!
Keine Honorierung der Politik von Putin, Assad und Erdogan
Münchenberg: Und notfalls aber auch Flüchtlinge aufnehmen, wenn die Türkei vollkommen überfordert ist, was sie ja eigentlich faktisch jetzt schon ist. Es gibt auch in der Türkei selber mittlerweile doch auch Proteste gegen die Anwesenheit der Flüchtlinge dort.
Röttgen: Natürlich! Die Türkei hat fünf Millionen Flüchtlinge aufgenommen, 3,7 Millionen Syrer, aber es bleibt auch richtig, dass wir die wirksamste Hilfe in jeder Hinsicht dort leisten als Europäer, wo die Flüchtlinge sind. Die verlassen ja auch nicht freiwillig ihre Heimat, sondern sie werden dazu durch Bombardierung gezwungen. Dort müssen wir helfen, das können wir auch effektiver und mit weniger Geld, und gleichzeitig Politik machen.
Münchenberg: Aber noch mal: So weit gehen Sie dann nicht, dass Sie sagen würden, im Notfall muss Europa auch Menschen aufnehmen und die Türkei damit entlasten?
Röttgen: Das wäre jetzt das Falsche, zu sagen, weil das ja nur eine Honorierung der Politik wäre, die Putin, Assad und Erdogan dort betreiben. Und das wäre keine Lösung, sondern ein Umgang mit Folgen, und wir brauchen Lösungen, die an Ursachen ansetzen, und wir müssen auch darauf bestehen, dass das möglich ist. Wir müssen nur anfangen, es endlich zu tun.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.