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Run auf die Arktis
Deutsche Forschung im Zwiespalt

Die Arktis wird heiß umworben, vor allem, seit prognostiziert wird, dass ab 2040/50 der arktische Ozean im Sommer komplett eisfrei sein könnte. Hier lagert ein Drittel der unerschlossenen Erdgas- und Erdölreserven weltweit. Aufgrund der Begehrlichkeiten stehen deutsche Polarforscher unter Druck.

Von Christiane Habermalz | 25.05.2015
    Die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Johanna Wanka (CDU), steht am 09.04.2015 in Ny-Ålesund auf Spitzbergen (Norwegen) in der Forschungsbasis AWIPEV mit dem Wissenschaftler Roland Neuber
    Die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Johanna Wanka (CDU), in Ny-Ålesund auf Spitzbergen (Norwegen) in der Forschungsbasis AWIPEV mit dem Wissenschaftler Roland Neuber. (dpa/picture alliance/Jens Büttner)
    Ny-Alesund, Spitzbergen, 78 Grad nördliche Breite. Bundesforschungsministerin Johanna Wanka steht im roten Polar-Anorak im Schnee vor dem Atmosphären-Observatorium der deutsch-französischen Forschungsbasis AWIPEV, in der Hand einen großen, orangenen Ballon. Bis 30 Kilometer hoch wird er aufsteigen und unterwegs per Funk jede Sekunde Messdaten aus den unterschiedlichen Luftschichten an die Forschungsstation senden: Temperatur, Luftdruck, Feuchtigkeit, Windgeschwindigkeit, Ozongehalt. Die Fotografen gehen in Position, Wanka lässt los.
    Der Ballon schnurrt in die Höhe, bald ist er nur noch als roter Punkt im Himmel zu sehen. Im Frühjahr dieses Jahres reiste Wanka in die Arktis, um sich über den Stand der deutschen Polarforschung zu informieren. Der tägliche Wetterballon ist Teil der regelmäßigen Forschungstätigkeit des deutschen Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung in Ny-Alesund, der nördlichsten Forschungsbasis der Welt. Das zu Norwegen gehörende Spitzbergen, das zeigen die neuesten Messungen der Wissenschaftler, ist der Hotspot des Klimawandels: Die Inselgruppe nördlich des Polarkreises erwärmt sich doppelt so schnell wie andere Regionen der Welt – um 1,3 Grad in zehn Jahren. Die Reise nach Ny-Alesund lässt die CDU-Politikerin nicht unbeeindruckt.
    Johanna Wanka:
    "Einige der Zahlen die wir hier gehört und erfahren haben, sind erschreckend. Dass der Permafrostboden seit 1995, das ist ja ein geringer Zeitraum, 86 Kilometer in Richtung Nordpol gewandert ist. Oder dass uns gegenüber der Bereich, der eine Halbinsel war, jetzt schon eine Insel ist, weil so viel abgeschmolzen ist. Dass das Meereseis, was in den 1960er-Jahren drei Meter dick war, jetzt nur noch einen Meter dick ist. Also das finde ich sind so alarmierende Signale, die bestärken mich in meinem Engagement, dass wir nicht nur ambitionierte Ziele, sondern immer auch überlegen müssen, auf welchem Weg können wir sie erreichen, und können wir nicht noch mehr. "
    Deutschland gehört in der Polarforschung zu den weltweit führenden Nationen. 220 Millionen Euro fließen jedes Jahr aus Wankas Etat in die Forschung an beiden Polen. Dazu kommt der Neubau des arktischen Forschungsschiffes "Polarstern", das 2018 den 30 Jahre alten Vorgänger ersetzen soll. Damit wird die Bundesrepublik eines der größten und modernsten packeistauglichen Forschungsschiffe der Welt besitzen. 113 Millionen Euro kostet der Schiffsneubau - angesichts immer knapper werdender Projektmittel im Etat des Ministeriums eine beträchtliche Summe.
    Zehn Nationen mit eigener Forschungsstation
    Doch die deutschen Wissenschaftler sind nicht die einzigen, die im hohen Norden aktiv sind. Im früheren Steinkohledorf Ny-Alesund sind zehn Nationen mit eigenen Forschungsstationen vertreten, unter ihnen Norwegen, China, Japan, Indien und Südkorea. Die Polarforschung hat weltweit Konjunktur. Nicht nur, weil die schmelzenden Polkappen das arktische Ökosystem gefährden. Weil das Meereis massiv zurückgeht, gerät die Region rund um den Nordpol auch immer stärker in den Fokus wirtschaftlicher Interessen. Doch man weiß noch zu wenig über Rohstoffvorkommen und Tiefseeökologie, über das Driftverhalten von Meereis oder Materialverschleiß im Eis. Internationale Rohstoffunternehmen investieren große Summen in die Entwicklung neuer Technologien. Und die Daten der Wissenschaftler werden plötzlich zu heiß begehrter Ware. Das ist auch Wissenschaftlern wie Roland Neuber klar, wissenschaftlicher Koordinator der Forschungsbasis AWIPEV in Ny-Alesund.
    Roland Neuber:
    "Wir müssen zuerst verstehen, was sind die Ursachen für den Rückgang, und wir müssen verstehen, wie sieht es überhaupt aus, wenn weniger oder gar kein Meereis da ist. Der Lebensraum dort wird sich ändern, es werden zum Beispiel völlig neue Fischgründe auftreten, das wird aber auch die Möglichkeit geben, dann Rohstoffe zu gewinnen. Wobei ich dazu sagen muss: Im Winter, in der Polarnacht, wird es immer eine Eisbedeckung geben. Das heißt, zum Beispiel Ölbohrplattformen werden immer so konstruiert werden müssen, dass sie auch Eis aushalten können, und das ist eine sehr, sehr große technologische Herausforderung."
    Ab 2040/50, prognostizieren die Forscher, könnte der arktische Ozean im Sommer komplett eisfrei sein, möglicherweise auch schon sehr viel früher. In der Arktis wird etwa ein Drittel der weltweit noch unerschlossenen Erdgas- und Erdölreserven vermutet – etwa so viel wie in Saudi-Arabien vor Beginn der Exploration. Die Arktis beherbergt zudem ein Drittel der weltweiten Fischgründe. Angesichts des massiven Drucks der industriellen Fischtrawler ziehen sich die letzten atlantischen Fischschwärme immer weiter nach Norden zurück. Und neue Schiffsrouten über den arktischen Ozean tun sich auf. Angesichts dieser Begehrlichkeiten steht auch die deutsche Polarforschung unter Druck. Neuber verweist auf die Verantwortung der Politik:
    Roland Neuber:
    "Wir müssen zuerst durch unsere Forschung zeigen, was geht und was nicht geht, und wie man gegebenenfalls z.B. während der Sommermonate würde Rohstoffe abbauen oder Fischfang machen können. Aber die Entscheidung, ob das nun richtig ist, in einen eisfreien Ozean hineinzufahren oder nicht, ist nicht eine Entscheidung, die die Forschung machen kann, sondern ist eben eine politische Entscheidung, ob man sagt, das Ökosystem, auch das sich verändernde arktische Marineökosystem ist uns so viel wert, dass wir es schützen wollen."
    Eine Entscheidung, die, so scheint es, von der Politik längst getroffen wurde. Erst kürzlich vergab die US-Regierung dem niederländisch-amerikanischen Ölkonzern Shell eine Lizenz zum Probebohren in der Tschuktschenensee östlich von Alaska. Und das, obwohl Shell erst drei Jahre zuvor mit seiner Bohrinsel "Kulluk" nur knapp an einer Katastrophe vorbeigeschrappt war. Die Ölplattform hatte sich im Golf von Alaska in arktischem Sturm mit zehn Meter hohen Wellen vom Schlepper losgerissen und trieb führungslos auf dem Meer, bis sie schließlich an einer Küste strandete. Vor der russischen Küste ist der Ölkonzern Gazprom in arktischen Gewässern aktiv. Angesichts des aktuell niedrigen Ölpreises und der hohen Kosten ist das Interesse der Ölfirmen derzeit zwar noch mäßig. Doch die Ruhe trügt, warnt Tobias Münchmeyer, Politikwissenschaftler und stellvertretender Leiter der politischen Vertretung von Greenpeace in Berlin.
    Ölpreis beeinflusst Rahmenbedingungen für arktische Bohrungen
    Tobias Münchmeyer:
    "Das kann sich innerhalb von Wochen und Monaten oder ein, zwei Jahren radikal verändern. Ein Ölpreis, der nach oben schießt, würde natürlich die ökonomischen Rahmenbedingungen für arktische Bohrungen ganz erheblich verbessern, und darauf muss man sich einstellen. Ölpreise sind praktisch nicht prognostizierbar."
    Der Greenpeace-Experte Tobias Münchmeyer
    Der Greenpeace-Experte Tobias Münchmeyer (picture-alliance / dpa/Sebastian Kahnert)
    Eine Ölkatastrophe im arktischen Meer würde weitaus schlimmere Folgen haben als in wärmeren Gewässern. Die Kälte verlangsamt biologische Abbauprozesse, die Abgeschiedenheit der Region erschwert jede Gegenmaßnahme. Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace fordern daher einen kompletten Verzicht auf die Exploration von fossilen Rohstoffen in der Arktis. Vorbild ist die Antarktis, 1961 legte die internationale Gemeinschaft vertraglich fest, dass der Kontinent nur für Forschungszwecke genutzt werden darf. Die Staaten sagten zu, ihre territorialen Ansprüche ruhen zu lassen. Für die Arktis jedoch standen dafür die Chancen von Beginn an schlecht.
    Tobias Münchmeyer:
    "Der Antarktisvertrag, der hat Jahrzehnte gebraucht – 40 50,60 Jahre – zum einen, und zum anderen gab es weniger Rohstoffinteressen in der Antarktis als es sie in der Arktis gibt. Das sind zwei große Unterschiede. Und vielleicht noch ein dritter Unterschied, dass die territorialen Ansprüche viel näher an den Nordpol heranrücken."
    "Arctiv Five" haben Gebietsansprüche nach Norden verschoben
    Gebohrt wird im Polarmeer derzeit erst vereinzelt in der 200-Meilen-Zone vor den Küsten der Anrainerstaaten. Doch längst haben die "Arctic Five" – USA, Kanada, Russland, Norwegen und Dänemark – ihre Gebietsansprüche weit nach Norden verschoben. Russland reklamiert ein riesiges Gebiet des Polarmeers für sich. Um seinen Anspruch zu untermauern, rammte 2007 ein russisches U-Boot eine Titanflagge am Nordpol in über 4.000 Meter Tiefe in den Meeresboden. Just an dem Tag, an dem die Bundesforschungsministerin die Arktis besuchte, verlagerte Russland Abwehrraketen nach Franz-Josef-Land im Nordpolarmeer. Schon vor Jahren hatte Moskau begonnen, nordsibirische Häfen auszubauen und mit Militärtechnik auszurüsten. Gerade an den nördlichen Küsten, in denen Menschen bislang mit einer lebensfeindlichen Umwelt kämpfen mussten, sieht man die Eisschmelze als Chance. Das weiß auch Karin Lochte, Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven.
    Neuen Schiffsrouten werden Arktis verändern
    Karin Lochte:
    "Es gibt immer Gewinner und Verlierer. Die Gewinner, die wir haben, sind zum Beispiel in Sibirien oder auch in Kanada. Sowohl Kanada als auch Russland als auch Norwegen sehen den hohen Norden als positive Entwicklungsregionen an. Also Regionen, in denen man vorher keine Landwirtschaft betreiben konnte, sind auf einmal für die Landwirtschaft möglich geworden. Die Fischerei hat sich verändert, und es gibt eben auch Möglichkeiten, Häfen zu nutzen, die vorher sehr lange eisbedeckt waren."
    Die Folgen der neuen Eisfreiheit für die Schifffahrt erleben die Wissenschaftler in Ny-Alesund bereits am eigenen Leib. Seit ein paar Jahren legen im Sommer bis zu drei Kreuzfahrtschiffe täglich in dem aus wenigen Häusern bestehenden Forscherdorf an. Tausende Touristen überschwemmen dann die wissenschaftlichen Stationen, besuchen das nördlichste Postamt der Welt und die alte Lokomotive mit den Kohleloren. Nach wenigen Stunden ist der Spuk vorbei – bis zum nächsten Tag. Ein Gefühl wie im Zoo, sagen die Wissenschaftler. Doch die Reedereien zahlen Gebühren an die norwegische Regierung – willkommenes Geld für den staatlich geförderten Unterhalt der internationalen Forschungsstationen. Im August 2013 gelang dem chinesischen Frachter "Yong Shen" erstmals die Passage vom südkoreanischen Busan über den Pol durch die Nordostpassage nach Rotterdam. 33 Tage dauerte die Reise – zwei Wochen weniger als der übliche Weg durch den Suezkanal. Die neuen Schiffsrouten werden die Arktis verändern wie einst der Eisenbahnbau den Wilden Westen, glaubt Antje Boetius, polare Meeresbiologin und Professorin an der Universität Bremen.
    Karin Lochte, Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven.
    Karin Lochte, Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven. (picture-alliance/dpa/Jens Büttner)
    Antje Boetius:
    "Also, in dem Moment, wo es dort oben wirklich einen sicheren Schiffsverkehr geben soll, da braucht es dort Häfen, da braucht es dort Schienen und Straßen, dann ist die Frage, wie sieht das dann aus, wo kann das passieren, wo sind Siedlungen notwendig. Ich halte das durchaus für wahrscheinlich. Bestimmt nicht in den nächsten zehn Jahren, aber es ist eine langfristige Arbeit, genau wie eben damals bei der Erschließung von Amerika."
    Umweltschutzorganisationen sehen den zunehmenden Schiffsverkehr in der Arktis kritisch – sie befürchten Schiffshavarien im empfindlichen Ökosystem der Arktis – mit katastrophalen Folgen. Gewöhnliche Schiffe seien nicht für die Arktis ausgerüstet, eine Infrastruktur für Notfälle gebe es nicht, warnt Tobias Münchmeyer von Greenpeace.
    Tobias Münchmeyer:
    "Wir können immer nur sagen Vorsicht, Vorsicht! Gerade in einer Situation, in der sich diese Routen öffnen, ergeben sich natürlich mit Treibeis und Packeissituationen dann ganz besondere Herausforderungen und Gefahren. Das ist ja nicht so, dass dann das Eis sozusagen auf einmal verschwunden wäre."
    Arktis-Schutz steht im Koalitionsvertrag
    Und Deutschland? Bislang stand die Arktis nicht sehr weit oben auf der politischen Agenda der Bundesregierung. Das könnte sich jetzt ändern: Erstmals ist der Schutz der Arktis als Ziel im Koalitionsvertrag der Großen Koalition verankert. Auf Seite 84 heißt es: "Union und SPD setzen sich für die Einrichtung von Schutzgebieten in Arktis und Antarktis ein." Als sich vergangenen Oktober die Arctic Circle Assembly in Reykjavik traf, kam Bundeskanzlerin Angela Merkel zwar nicht persönlich, richtete sich aber per Videobotschaft an die Delegierten:
    Videobotschaft Angela Merkel:
    "Umweltschäden wirken sich im sensiblen arktischen Ökosystem langfristiger als anderswo aus. Folgen eines Umweltunfalls lassen sich viel schwerer unter Kontrolle bringen. Umso wichtiger ist das Vorsorgeprinzip als Richtschnur der Arktispolitik. Daher würde ich es begrüßen, intensiver darüber nachzudenken, bestimmte Gebiete in der Arktis unter besonderen Schutz zu stellen."
    Schaut man jedoch in die vom Auswärtigen Amt herausgegebenen Leitlinien der deutschen Arktispolitik", so wird deutlich, dass Deutschland im hohen Norden doch nicht ganz so selbstlos im Sinne des Umweltschutzes agiert - wie es nach außen vorgibt. In dem Papier wird vor allem das "große ökonomische Potential" der Arktis beschworen und die sich daraus bietenden Perspektiven für die deutsche und europäische Wirtschaft.
    Eine langfristige stabile und ökologisch verträgliche Energieversorgung ist für Industrie und Verbraucher in Deutschland von großer Bedeutung, ebenso wie die nachhaltige Versorgung mit Rohstoffen. In diesem Rahmen könnte die Nutzung von Rohstoffvorhaben in der Arktis einen Beitrag zur Rohstoffversorgung Deutschlands leisten.
    Heißt es in den "Leitlinien deutscher Arktispolitik". Deutschland spricht sich darin für die freie Durchfahrt von Schiffen in arktischen Gewässern aus. Und weiter:
    Die Bundesregierung ist überzeugt, dass Deutschland als Partner mit großem Spezialwissen in Forschung, Technologie und Umweltstandards zur nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung beitragen kann und ist zu Kooperationen in der maritimen Wirtschaft - etwa im Bereich der Polartechnologien - mit Arktis-Anrainern bereit.
    Deutschland ist Beobachter im Arktischen Rat
    Mit anderen Worten: Deutschland will die Arktis zwar ein bisschen schützen - aber es will auch etwas abbekommen vom großen Kuchen. Direkt - durch die Nutzung der in der Arktis gewonnenen fossilen Rohstoffe – und indirekt durch den Einsatz deutscher Umwelttechnologie und Forschung bei der Förderung. Eine Doppelbödigkeit, die auch in der zögerlichen Haltung Deutschlands im Arktischen Rat deutlich wird. Im Arktischen Rat sitzen acht Anrainerstaaten sowie Vertreter der Ureinwohner, um über die Entwicklung der Region zu befinden. Deutschland ist – zusammen mit einigen anderen Ländern – als Beobachter zugelassen. Bei den alle zwei Jahre stattfindenden Treffen auf Ministerebene, zu denen regelmäßig US-Außenminister John Kerry und sein russischer Amtskollege Sergej Lawrow anreisen, bringt sich Berlin jedoch bislang wenig ein, kritisiert Greenpeace.
    Tobias Münchmeyer:
    "In Wirklichkeit ist es durchaus so, dass man als Beobachter im Umfeld einer Arktischen Ratssitzung sehr, sehr viel Impulse setzen kann, Veranstaltungen machen kann, mit Delegierten sprechen kann, und wenn da eben immer nur der dritte oder vierte Rang aus dem Außenministerium aufgefahren wird, dann ist das sicher nicht angemessen. Ich glaube Deutschland sollte das dann auch ernster nehmen, wenn die Bundeskanzlerin selbst sich schon so persönlich einsetzt."
    Auch die deutsche Forschungspolitik ist entsprechend zwiespältig ausgerichtet und motiviert. Die Ergebnisse deutscher Polarforschung werden regelmäßig nicht nur an die Ressorts Forschung und Umwelt übermittelt, sondern auch an die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, die dem Wirtschaftsministerium unterstellt ist. Zu verlangen, dass Rohstoffe ungenutzt bleiben, hält Bundesforschungsministerin Johanna Wanka für unrealistisch.
    Johanna Wanka:
    "Ich denke, wir haben hier in der Polarregion wirklich die Chance, was noch nie geglückt ist vor Jahrzehnten, dass man bei der Ausbeutung von Ressourcen sehr frühzeitig über nachhaltige Nutzung nachdenkt. Also nicht: Wir haben hier etwas, und das versuchen wir jetzt maximal auszunutzen und dann reparieren wir irgendwann die Schäden, was wir ja auch in Deutschland, Braunkohle und anderes, mit großem Aufwand machen, sondern von Anfang an, und das ist etwas was nur die Wissenschaft friedlich vorantreiben kann."
    Doch dafür müsste sich die Bundesregierung erst einmal über ihre eigenen Prioritäten im Klaren sein. Für die deutschen Wissenschaftler ist die Frage "Qui bono" – wem nützt unsere Forschung?" jedenfalls längst mehr als ein Gedankenspiel. Wie umgehen mit Kooperationsangeboten aus der Wirtschaft? Mit Ölkonzernen, die anbieten, ein bestimmtes Messgerät zu finanzieren, um dafür Zugriff auf die Daten zu erhalten? Vieles habe man abgelehnt, erklärt AWI-Direktorin Lochte. Allerdings müssen die meisten Forschungsergebnisse ohnehin veröffentlicht werden.
    Der Thwaites-Gletscher in der Antarktis
    Der Thwaites-Gletscher in der Antarktis (dpa / picture-alliance / Jim Yungel)
    Karin Lochte:
    "Auch Erdölfirmen können dann an unsere Daten ran. Wir können aber schon sicherstellen, wenn wir Forschung in Zusammenarbeit mit irgendwelchen Firmen machen, dass wir dann schauen – mit welcher Intention nehmen die uns denn an Bord? Haben die tatsächlich ein Umweltbewusstsein? Haben die Regeln und ganz besonders auch: Nutzen die uns nicht nur als Feigenblatt?"
    Viele Wissenschaftler haben sich mit der Tatsache, dass die Arktis auch mit ihrer Hilfe für wirtschaftliche Nutzung erschlossen wird, offenbar abgefunden. Öffentlich finanzierte Forschung müsse immer auch ihre Relevanz für die Menschheit belegen können, sagt Neuber. Ihn habe die Katastrophe der Ölplattform "Deepwater Horizon" im Golf von Mexiko vor fünf Jahren mit ihren schlimmen Folgen für die Millionen dort lebenden Menschen nachdenklich gemacht.
    Roland Neuber:
    "Wenn ein solches Unglück in arktischen Gewässern stattfinden täte, wäre es für die Umwelt eine noch schlimmere Katastrophe. Aber die Anzahl der dadurch unmittelbar betroffenen Menschen wäre ein geringer Bruchteil dessen als derer die beim Unfall von Mexiko betroffen worden sind. Das heißt, auch da ist wieder die spannende Frage die: Ist uns das Wohlergehen der Menschen, die in den Gebieten leben, wo heute Öl abgebaut wird, wichtiger? Oder ist es uns wichtiger, ein bisher unberührtes Naturgebiet als solches zu erhalten?"
    Also: Lieber die Ölpest in der Arktis statt Ölcholera im Golf von Mexiko? Sollte es nicht gerade die Aufgabe der Forschung sein, Alternativen zu entwickeln? Tatsache ist: Um eine Positionierung kommt auch die deutsche Polarforschungscommunity nicht herum. Genügt es, Risiken zu beschreiben und vor den Folgen zu warnen, in der Hoffnung, die Ölförderung dadurch sicherer zu machen? Und auch das Energiewendeland Deutschland muss sich entscheiden, ob es langfristig auf den Schutz der Arktis hinwirken will oder auf die fossilen Rohstoffe für die eigene Wirtschaft spekuliert – womöglich, um die Energieversorgung trotz des postulierten Atom-Ausstiegs abzusichern. Denn noch ein weiteres Argument spricht dafür, Erdöl und Erdgas möglichst tief unter dem arktischen Meeresboden zu lassen: Deren Verbrennung würde das Erdklima noch weiter anheizen. Der Versuch, den CO2-Ausstoß weltweit zu begrenzen, wäre damit kaum zu bewerkstelligen.
    Anmerkung der Redaktion
    Recherchen für diesen Beitrag wurden unter anderem durch eine Reisekostenbeteiligung des Bundesforschungsministeriums ermöglicht.