
Doch Mahler ist nicht nur Fahrgast, sondern auch Geschäftsführer des privaten Eisenbahnverkehrsunternehmens Metrans Rail Deutschland, das mit anderen Metrans-Tocherunternehmen Schienengütertransporte durch Mittel- und Osteuropa organisiert. Und je enger die Taktung im Personenverkehr, desto schwieriger wird es für seine Güterzüge, überhaupt noch einen Platz auf den Schienen zu finden.
„Und dieser Halbstundentakt bedeutet für uns, dass wir mehr stehen müssen, also wir gehen meinetwegen in Hagenow an die Seite, das nächste Mal gehen wir irgendwo in Ludwigslust an die Seite für einen Zug, dann gehen wir wieder an die Seite irgendwo hinter Wittenberge, Glöwen oder Paulinenaue,“ erklärt Mahler.
Fakt ist: Wir fahren auf einem Netz, das dieses Jahr 187 Jahre alt wird.
EU-Kommission will Schienengüterverkehr bis 2050 verdoppeln
„Also man macht teilweise den zweiten Schritt vor dem ersten Schritt, und das ist auch unsere große Befürchtung im Netzwerk, dass der Deutschlandtakt für den Fernverkehr durchgeprügelt wird, ohne dass große Baumaßnahmen, die auch dem Güterverkehr zugute kommen, umgesetzt werden können und dadurch der Güterverkehr eben nicht auf das politische Ziel gesteigert werden kann.“
Auch Michael Theurer von der FDP kennt die Schwierigkeiten des Schienengüterverkehrs. Er ist der parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Digitales und Verkehr und Beauftragter der Bundesregierung für den Schienenverkehr.
„Güterzüge sind heute mit nur einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 50km/h unterwegs, manche Kritiker sagen: Sie stehen die Hälfte der Zeit, es fehlen Überholgleise und genau diesen Problemen stellen wir uns, ohne massive Kapazitätserhöhungen lässt sich die von der Ampelkoalition angestrebte Steigerung des Schienengüterverkehrs nämlich nicht erreichen.“
Nur: Um „massive Kapazitätserhöhungen“ zu erreichen, wie sie der FDP-Staatssekretär ankündigt, kommt es erst einmal zu massiven Behinderungen durch Baustellen, die Monate oder Jahre bestehen bleiben.

„Die Situation beim Güterverkehr insgesamt auf der Schiene ist dramatisch, auch für die Deutsche Bahn mit DB Cargo. Fakt ist: Wir fahren auf einem Netz, das dieses Jahr 187 Jahre alt wird, teilweise ist es in einem Zustand, als würde man heute noch Dampflokomotiven darauf fahren und keine ICEs.
Das will die Politik ändern: Für die gesamte Schieneninfrastruktur sind im aktuellen Haushaltsplan deshalb Investitionen in Höhe von 9,4 Milliarden Euro für 2022 vorgesehen – zum ersten Mal seien damit die Investitionen in die Schiene höher als in die Straße, rühmt sich die Bundesregierung.
Pläne der Bundesregierung in der Kritik
Doch selbst wenn es der Bundesregierung gelingen sollte, den Investitionsstau im Bereich Schieneninfrastruktur schnell aufzulösen, hätten international agierende Unternehmen wie die Metrans Rail Deutschland von Roger Mahler noch längst nicht freie Fahrt. Zwar wird knapp ein Fünftel des europäischen Frachtverkehrs auf der Schiene transportiert. Doch während auf der Straße der grenzenlose Warenverkehr längst gelebte Realität ist, herrsche auf der Schiene noch immer eine Kleinstaaterei, die mit einer europäischen Idee wenig zu tun habe, so Mahler:
„Und das ist natürlich ein ganz großer Nachteil zum LKW, der rumänische LKW-Fahrer, der steigt in Rumänien auf seinen LKW und fährt durch bis nach Rotterdam.“
„Wir haben, wenn wir von Rumänien fahren würden, haben wir einen Lokführer in Rumänien, dann haben wir den Lokführer an der ungarischen Grenze, der fährt dann bis in die Slowakei, dann brauchen wir einen slowakischen Lokführer, der dann bis an die tschechische Grenze fährt, der tschechische Lokführer fährt bis nach Decin, dort übernimmt der deutsche Lokführer, fährt bis nach Emmerich, und in Emmerich übernimmt der holländische Lokführer.“
Für jedes Land wird ein eigener Lokführer benötigt
Es ist kurz nach halb vier Uhr morgens, mitten in der Nacht. Gerade musste Rubín nördlich von Berlin mehrere Stunden darauf warten, dass die Strecke Richtung Tschechien für seinen Zug freigegeben wird. Nun darf er endlich wieder fahren.
„So, jetzt fahren wir mit einem Vorsprung von 18 Minuten, planmäßige Ankunft in Děčín Hbf 9:48 Uhr. Das schaffen wir, wenn nicht Strecke verstopft ist.“
Der Zug setzt sich langsam in Bewegung, doch schon nach einer halben Stunde Fahrt macht ihm die Technik einen Strich durch die Rechnung.
Der Zug kommt zum Stehen, Rubín öffnet die Tür zum Motorenraum der Lok. Das Problem ist schnell behoben. Langsam fährt Rubín ein paar Meter weiter, dann startet er das Betriebssystem der Lok einfach neu und meldet sich beim Fahrdienstleiter.
„Ich bin schon abfahrbereit – ja, dann fahr ich weiter – ja, ok, ich fahre weiter, danke. Ein wenig Stress hinter uns. Naja, das ist unsere Arbeit.“
Im Schienenverkehr gibt es keine einheitliche Amtssprache
Die Gewerkschaften fürchten zudem eine Aufweichung der Sicherheitsstandards auf der Schiene und Sozialdumping, weil der Arbeitsmarkt bei einer Einheitssprache auch für Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland geöffnet würde. Auch Roger Mahler ist skeptisch.
„Vielleicht ist man in 30 Jahren dabei, dass man auf den Korridoren prinzipiell Englisch spricht, aber dann weiß man nicht, ob man auch noch das Fachpersonal dafür kriegt, weil wenn der Lokführer jetzt auch in Deutschland noch Englisch sprechen müsste jetzt als Zwangssprache, ich glaube, dann hätten wir noch einen größeren Fachkräftemangel.“
„Derzeit stellen wir eine Tendenz fest, dass einzelne dieser nationalen Aufsichtsbehörden sehr stark auf ihre Kompetenzen achten und in Einzelregelungen den grenzüberschreitenden Verkehr nicht gerade vereinfachen. Ich glaube, dass hier politisch von den Mitgliedstaaten in der Europäischen Union nochmal gehandelt werden muss, um eben einen gemeinsamen europäischen Schienengüterverkehrsmarkt zu schaffen.“
Kein einheitliches Schienenmaß in Europa
Das Eisenbahnbundesamt sieht sich unterdessen schon auf einem guten Weg, wie es schriftlich mitteilt.
„Die gesamteuropäischen Regelungen für Interoperabilität und Sicherheit wurden in Arbeitsgruppen der Europäischen Eisenbahnagentur durch Fachleute aus den europäischen Verbänden des Eisenbahnsektors und aus den nationalen Sicherheitsbehörden wie dem Eisenbahn-Bundesamt (EBA) formuliert.“
Derzeit laufe hierzu ein Revisionsprozess, der 2022 abgeschlossen sein soll. Das Eisenbahnbundesamt sei dabei eingebunden. Erschwert wird der Schienengüterverkehr auch dadurch, dass es in Europa keine einheitliche Spurweite, also kein einheitliches Schienenmaß gibt. Während die Spurweite in Zentraleuropa 1435 mm beträgt, liegt sie in Russland sowie den früheren Sowjetrepubliken wie den baltischen Staaten bei 1520mm und auf der Iberischen Halbinsel bei 1668 mm. Dazu Aleksandra Röhricht vom Logistikdienstleister Forwardis:
„Also im Osten, in Ex-Sowjetunion-Ländern, das ist historisch bedingt noch aus den Zar-Zeiten, Ende des 18. Jahrhunderts, glaube ich, hat man angefangen mit dem Bau des Schienennetzes, und da gibt es verschiedene Theorien, warum es zu den unterschiedlichen Spurbreiten kam.“
Und eine laute, „dass es schon militärische Gründe hatte und eine Art Barriere herstellen sollte, damit die europäischen Armeen nicht nach Russland einfach so reinfahren können.“
Ungeachtet ihres Ursprungs: Fakt ist, dass die unterschiedlichen Spurweiten im Alltag zu großen Problemen führen: Rohstoffe wie etwa Gas oder Öl müssen dort, wo die russische Spurbreite und die europäische Regelspur aufeinandertreffen, in riesigen Terminals zwischen verschiedenen Wagen umgepumpt oder umgeschlagen werden. Deshalb gibt es EU-Projekte wie die Rail Baltica, die die baltischen Länder an die europäische Normalspur anschließen sollen.
„1435mm breite Gleise, Verbindung zwischen Warschau und Tallinn in Estland, und wenn das irgendwann fertig gebaut ist, dann können nicht nur Personenzüge, sondern auch Güterzüge auf dieser Strecke ohne Umschlag, ohne Umpumpen hin und her pendeln.“
Hoffnung liegt auf der Einführung des europäischen Eisenbahnverkehrsleitsystems ERMTS
„Ich verwende hier häufig den Begriff Milchzähne, das heißt wir haben da Zähnchen, aber so richtig zubeißen können wir noch nicht.“
Denn Doppelbauers Behörde darf schon Güterwaggons in der ganzen EU zulassen; besondere Hoffnung aber setzt der Österreicher in die Einführung des europäischen Eisenbahnverkehrsleitsystems ERMTS. Es soll vor allem die unterschiedlichen Zugsicherungssysteme zu einem einheitlichen Standard, dem European Train Control System, kurz ETCS, zusammenführen. Bisher arbeiten die unterschiedlichen nationalen Sicherungssysteme mit Signalanlagen entlang der Strecke. Mit dem vereinheitlichten Zugsicherungssystem würden diese nur noch virtuell existieren, die entsprechenden Informationen sollen dem Lokführer dann schon im Voraus direkt im Führerstand angezeigt werden.
„Man hat dann ein wahnsinnig komplexes System geschaffen, und es gab dann die Entwicklung von ungefähr 50 verschiedenen Dialekten dieses Systems – Dialekte, die aber nicht miteinander kompatibel sind.“
Doch mit dem sogenannten vierten Eisenbahnpaket der Europäischen Kommission von 2013 mit Verordnungen zur Weiterentwicklung des europäischen Eisenbahnrechts wurde der ERA die Aufgabe übertragen, die Einführung des gemeinsamen Eisenbahnverkehrsleitsystems in den EU-Mitgliedstaaten umzusetzen.
„Wir sind allerdings jetzt erst auf dem Schritt, um von dem Wildwuchs wieder auf ein einheitliches System zu kommen. Und ich denke, wir sind da auf einem guten Weg, aber wie immer in der Bahn dauern die Prozesse relativ lange. 2040 soll dann die Ausrollung dieses ERTMS auf dem Kernnetz in Europa abgeschlossen sein.“
Bis zur Vereinheitlichung dürften noch Jahre vergehen und bis dahin gelten national unterschiedliche Regeln und Prüfungen für die Zugsysteme. Der tschechische Lokführer Jiri Rubin kennt das neue Eisenbahnverkehrsleitsystem und die Zugsicherung ETCS, die europaweit vereinheitlicht werden soll.
„Ich muss die Schulung und Prüfung in Tschechien machen und das Gleiche in Deutschland, die tschechische Prüfung gilt nicht in Deutschland und die deutsche Prüfung gilt nicht in Tschechien – für ETCS, für internationale Zugsicherung, das ist dasselbe System.“
Zwei unterschiedliche nationale Prüfungen für ein und dasselbe Sicherungssystem – so sieht die europäische Harmonisierung des Schienenverkehrs im Jahr 2022 aus. Denn sowohl die Technik als auch die Betriebsvorschriften können nach wie vor von Land zu Land unterschiedlich sein. Rubin schüttelt den Kopf und wendet sich wieder dem Streckenverlauf zu.
„Das ist perfekt, es läuft perfekt, aber andere Tage nicht.“
Denn der einzige elektrifizierte Bahngrenzübergang zwischen Deutschland und Tschechien wird modernisiert, während der Bauarbeiten ist die Strecke nun nur noch eingleisig zu befahren, zwischendurch sogar ganz gesperrt – kein Einzelfall bei innereuropäischen Bahngrenzübergängen, von denen viele erneuert und elektrifiziert werden müssen.
Weil auch der Bahnhof Děčín Vychod wegen Bauarbeiten gesperrt ist, müssen alle Güterzüge am Děčíner Hauptbahnhof die Fahrtrichtung wechseln, die auf der anderen Elbseite weiter Richtung Osttschechien fahren. Das dauert auch wieder eine Dreiviertelstunde. Aber das ist nicht mehr Rubins Problem. Kurz hinter der deutsch-tschechischen Grenze übergibt er an seinen tschechischen Kollegen und macht Feierabend.
Die Baustellen, die Grenzprobleme, die Sprachbarrieren in Europa: Wie der Güterverkehr besser laufen könnte, zeigt Europas oberster Eisenbahner Josef Doppelbauer am Beispiel der Vereinigten Staaten:
„Man hat in den USA kein Sprachproblem, weil man überall die gleiche Sprache spricht, man hat kein Problem der nationalen Vorschriften, weil man sich in einem einheitlichen Regelraum befindet.
Dann macht Doppelbauer eine Rechnung auf: Wenn man alle Straßentransporte, die länger als 700 Kilometer sind, auf die Schiene verlagern würde, käme man in Europa auf einen Schienengüterverkehrsanteil von 36 Prozent am gesamten Transportaufkommen.
„Aber der große Pferdefuß ist die mangelnde Kapazität der Schienenstrecken und ich denke, das sieht man jetzt ganz deutlich bei den aktuellen Problemen in Deutschland, dass hier großer Nachholbedarf besteht.“
Es sind Versäumnisse, die sich auch mit viel Geld und vorhandenem politischen Willen nicht so schnell aus der Welt schaffen lassen werden.