Geers: Herr Gabriel, wenn wir auf diesen Sommer blicken, dann ist das sogenannte Sommerloch vielleicht ganz gut gefüllt. In diesem Jahr domminiert das Thema Innere Sicherheit. Und ob es einem passt oder nicht, das Thema Innere Sicherheit ist natürlich unauflöslich mit dem Kurs in der Flüchtlingspolitik verbunden. Die Kanzlerin hat jetzt vor Kurzem dazu gesagt: "Wir schaffen das" – sie hat ihren Satz wiederholt. Sie hat gesagt, wir haben im Übrigen auch in den letzten elf Monaten viel geschafft und deswegen werde man auch die neue Herausforderung, sprich den islamistischen Terrorismus, bewältigen hierzulande. Das klang so ein bisschen nach Autosuggestion in meinen Ohren, und bis heute will ja auch nicht jeder der Kanzlerin darin folgen. Was sagen Sie denn als SPD-Chef zu diesem Mantra der Kanzlerin "Wir schaffen das"? Schaffen wir es?
Gabriel: Na, ich würde erst mal antworten: Das Motto muss jetzt sein "Wir machen das!". Es nützt ja nichts, ständig zu wiederholen, wir schaffen das und dann immer wieder doch nur sehr zögerlich die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass dieses Land es auch wirklich packt. Und meine Erfahrung war eben, dass es mit der CDU/CSU oft sehr lang gedauert hat, bis wir wichtige Voraussetzungen dafür hingekriegt haben, damit es auch wirklich geschafft wird. Das beginnt beim Thema Integration, Sprachkurse, Geld für die Kommunen, die sonst überlastet gewesen wären und endet damit, dass wir endlich mehr Polizeistellen brauchen. Das alles dauert manchmal ein Jahr in den Verhandlungen mit der CDU/CSU, und da haben wir viel Zeit verpasst. Das wäre eigentlich sozusagen meine Hauptkritik: Wir müssen schneller werden bei der Umsetzung und das Mantra, "Wir schaffen das", alleine, reicht nicht.
Geers: Wenn Sie sagen, "wir müssen schneller werden", dann sind wir natürlich automatisch auch bei der Frage: Wie schaffen wir das? Und wenn ich jetzt mal Würzburg und Ansbach nehme, dann gibt es natürlich seitdem eine Verbindung zwischen dem, was die Menschen bewegt, also zwischen dem Thema Flüchtlinge und auch dem Thema Innere Sicherheit und wie schützen wir uns vor dem Terror. Vor einer Woche haben Sie jetzt der Union vorgeworfen, diese haben in den letzten elf Jahren, also in denen die CSU den Innenminister stellte, immer nur gespart – bei Hubschraubern und Polizisten, also beim Personal wie bei der Technik – und Sie haben natürlich auch konsequenterweise gefordert, da müsse jetzt was passieren. Jetzt hat vor drei Tagen, am Donnerstag, Thomas de Maizière, der Innenminister, Vorschläge gemacht und die Dinge sind im Fluss, es kommen auch nächste Woche noch Vorschläge von den CDU-Innenministern. Das heißt, kommen wir da jetzt in so eine Art Überbietungswettbewerb: Wer ist der härteste Hund in Sachen Innere Sicherheit hierzulande?
"Wir haben flexible Gegner – und müssen flexibel darauf antworten können"
Gabriel: Nein. Also, erst mal geht es damit los, dass die SPD zum Teil gegen die CDU/CSU ja bereits 3.000 zusätzliche Stellen bei der Bundespolizei durchgesetzt hat. Das Thomas de Maizière jetzt noch mehr schaffen will, da wird er unsere Unterstützung bekommen. Der Kurs, bei der Bundespolizei einzusparen und dann eine sinnlose Debatte über die Bundeswehr im Inneren zu führen, den habe ich für falsch gehalten. Weil zur Unterstützung der Länderpolizeien in Großeinsatzlagen, wie beispielsweise in München, ist die Bundespolizei da. Und die Bundespolizei ist vor allen Dingen dort, wo sie flexible Einsatzhundertschaften haben, in den letzten Jahren eingespart worden. Allein neun Hundertschaften fehlen dort. Und wenn die Union jetzt sagt: Wir wollen da den Kurs wieder ändern, dann wird sie unsere Unterstützung haben – wir fordern das schon ganz lange von ihr.
Geers: Haben Sie eine Hausnummer, wie viele neue Bundespolizisten es geben könnte oder sollte?
Gabriel: Na, ich kann Ihnen sagen, dass die Gewerkschaft der Polizei sagt, dass insgesamt 14.000 Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte bei der Bundespolizei fehlen. Weil die Bundespolizei eben riesige Aufgabenzuwächse bekommen hat, bloß nicht mehr Personal. Aber das Wichtigste sind vor allen Dingen mal die knapp 1.000 Beamtinnen und Beamten, die wir brauchen im Bereich der Bundesbereitschaftspolizei. Wir haben flexible Gegner – Amokläufer, auch Terroristen – und wir müssen auch flexibel darauf antworten können. Und es kann nicht sein, dass die Überlastung der Länderpolizeien voranschreitet, weil sie sozusagen überall in Deutschland aushelfen müssen, weil die Bundespolizei zu wenig Leute hat.
Geers: Wie viele neue Leute wollen Sie haben bei der Bundespolizei? Was schwebt Ihnen da vor?
Gabriel: Also, im nächsten Schritt vor allen Dingen mal die ...
Geers: Und bis wann?
Kein "Überbietungswettbewerb mit Symbolthemen wie Burka-Verbot"
Gabriel: Darf ich noch antworten. Im nächsten Schritt zunächst einmal natürlich, eine gezielte Erhöhung um diese knapp 1.000 Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte so schnell es irgendwie geht bei der Bundesbereitschaftspolizei zu schaffen. Nun muss man wissen, die müssen erst einmal ausgebildet werden. Also das, was an Fehlern gemacht wurde, kann man nicht von jetzt auf gleich wiedergutmachen, denn sie brauchen drei Jahre Ausbildung, bis die Leute da sind. Das ist wichtig. Wir müssen die Bundespolizei mit dem entsprechenden Material ausstatten bis hin dazu, für Spezialisten, die zum Beispiel im Internet das Darknet überwachen, dort, wo der illegale Waffenhandel stattfindet zum Beispiel, werden wir auch bessere Bezahlungen brauchen, sonst gehen die nämlich zu Siemens und nicht zur Bundespolizei. Das heißt, da, glaube ich, sieht es für mich danach aus, dass wir einen großen Schritt vorankommen, weil die CDU/CSU sich jetzt bewegt. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass der Bundesfinanzminister sich jetzt noch querstellt.
Anders sieht es aus bei anderen Forderungen, von denen ich froh bin, dass sie der Bundesinnenminister nicht übernommen hat. Diesen Überbietungswettbewerb zum Teil mit Symbolthemen wie Burka-Verbot oder Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft, den macht Thomas de Maizière nicht mit – da bin ich sehr froh darüber. Ich meine, ich persönlich finde die Burka auch schrecklich und wir müssen alles dafür tun, dass die Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen, schrittweise verstehen, warum das in diesem Land etwas ist, was wir hier eigentlich nicht haben wollen. Aber es gilt der kluge Satz des Bundesinnenministers: "Nicht alles, was man falsch findet, kann man verbieten." Sie würden die Frauen nur aus dem öffentlichen Raum heraus verdrängen, die dürften dann zu Hause nicht mehr verlassen. Und es hilft uns auch nicht im Kampf gegen Terror. Also, das sind Themen, wo ich glaube, dass auch der Konflikt mit der CDU/CSU deshalb nicht so groß werden wird, weil der Bundesinnenminister – wie wir auch – solche Vorschläge aus Reihen der CDU-Innenminister der Länder für falsch hält.
Geers: Herr Gabriel, das klingt sehr, sehr moderat. Es gibt aber andererseits auch Punkte, die die SPD bislang abgelehnt hat. Da gibt es jetzt von Herrn de Maizière den Vorschlag, zumindest bei Dschihadisten den deutschen Reisepass wieder einzuziehen und die deutsche Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Das ist für SPD – Stichwort "Doppelte Staatsbürgerschaft" – möglicherweise ein rotes Tuch.
"Muslime nicht unter Generalverdacht stellen"
Gabriel: Darüber haben wir in Wahrheit noch nie geredet. Bei der doppelten Staatsbürgerschaft geht es um was ganz Anderes. Da hat die CDU und CDU-Politiker gefordert, dass die generell wieder abgeschafft wird, obwohl wir sie gerade erst für Jugendliche, die in Deutschland geboren sind, eingeführt haben – übrigens mit der CDU. Und damit stellen sie alle, die hier leben, unter einen Generalverdacht, die so eine doppelte Staatsbürgerschaft haben. Wenn ich ganz ehrlich bin, damit betreibt man das Geschäft von Herrn Erdoğan. Der freut sich, wenn wir wieder spalten in Türken und Deutsche und solche Forderungen, die nichts bringen außer einer weiteren Konfrontation und einer Spaltung gerade unter denen, die bei uns geboren sind oder die seit Jahrzehnten hier leben. Und da finde ich es richtig, dass de Maizière das nicht mitmachen will. Jetzt geht es um einen Sonderfall: Was machen wir mit denen, die beide Staatsbürgerschaften haben und denen wir nachweisen können, dass sie entweder Terrororganisationen unterstützen oder dass sie denen sozusagen sogar angehören. Wir haben ja sogar Leute, die nur einen deutschen Pass haben, die übrigens auch keine ausländischen Vorfahren haben, sondern die sozusagen "Bio-Deutsche" sind, da haben wir ein Beispiel aus Frankreich gesehen, bei denen das die Franzosen auch versucht haben und damit gescheitert sind. Ich finde, über den Vorschlag muss man reden, auch mit Blick auf die Verfassung, ob das eigentlich geht, aber das ist ein Sonderfall. Da müssen wir jetzt drüber reden, über diesen Vorschlag, aber die generelle Forderung, nun wieder alle in Deutschland lebenden Ausländer, insbesondere dann, wenn sie Muslime sind, unter Generalverdacht zu stellen, da bin ich sehr froh darüber, dass auch der CDU-Bundesinnenminister das nicht mitmachen will. Diese scharfmacherischen Vorschläge aus den Reihen der CDU und der CSU gehen ja eher ein bisschen zurück in die unseligen Zeiten, in denen ein CDU-Ministerpräsident in Hessen, Herr Koch, einen ausländerfeindlichen Wahlkampf gemacht hat. Dahin will hoffentlich die CDU nicht zurück – wir werden es auf gar keinen Fall mitmachen.
Geers: Und über den Sonderfall "Dschihadisten" wollen sie reden?
"Nur reiche Leute können sich privaten Schutz leisten"
Gabriel: Müssen wir reden, na klar. Ich meine, wissen Sie, ich bin sowieso nicht dafür, dass wir über die innere Sicherheit einen riesen Parteienstreit führen, weil die Verunsicherung der Menschen ist ja hinreichend groß. Denn auch das verunsichert viele Menschen, wenn im Alltag zum Beispiel Einbruchsdiebstähle steigen. Wir haben so etwas in den letzten Jahren gehabt. Wir müssen dafür sorgen, dass die Polizei sichtbar ist, dass sie gut ausgestattet ist, dass sie mit den technischen Mitteln der Verbrecher schritthalten kann. Innere Sicherheit ist ein sozialdemokratisches Thema. Denn nur ganz wohlhabende und reiche Leute können sich privaten Schutz leisten, der normale Bürger ist darauf angewiesen, dass der Staat das gewährleistet. Und deswegen bin ich sehr dafür, dass wir auch hier nicht nur einen starken Sozialstaat haben, sondern auch einen starken Staat, der die innere Sicherheit gewährleistet.
Geers: Ich will noch einen weiteren Vorschlag aus dem Katalog von Herrn de Maizière herauspicken, Herr Gabriel. Er lautet, härter vorzugehen gegen Menschen, die die innere Sicherheit bedrohen, die sich gegen das Abschieben mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln zur Wehr setzen. Ist das mit der SPD auch zu machen?
Gabriel: Ja, das machen wir doch längst. Sondern es geht ja darum, dass wir schneller Passersatzpapiere beschaffen. Wir sind ja deshalb unter anderem mit Ländern wie Tunesien und Marokko unterwegs, damit wir schneller Passersatzpapiere bekommen. Die sind sogar bereit, uns Dolmetscher herzuschicken, um schnell herauszufinden, ob die Leute, um die es da geht, marokkanische, tunesische oder auch andere Staatsangehörigkeiten haben. Das, finde ich, ist absolut richtig, dass wir dabei schneller werden müssen, auch übrigens, wenn wir Schutz für die haben wollen, die aus guten Gründen flüchten. Das ist kein Streit zwischen CDU/CSU und SPD, da ist eher eine Frage der Praxis und es hindert uns niemand daran, das schneller zu tun. Im Gegenteil, Herr de Maizière ist ja selbst dafür zuständig, er ist sozusagen der Minister, der das gewährleisten muss. Und ich fand das richtig, dass er nach Marokko geflogen ist, um solche Abkommen zu treffen. Da gibt es keinen Streit.
Geers: Sie haben gerade gesagt, die SPD sei die Partei der inneren Sicherheit. Sehen Sie sich eigentlich auch so ein bisschen in der Rolle des Korrektivs in der Koalition, das dann verhindert, dass vielleicht auch untaugliche Vorschläge aus den Kreisen der Union gesetzt werden, Vorschläge, die nahe am Populismus sind – Sie haben das Burka-Verbot gerade selbst erwähnt?
"Wir müssen zeigen, dass wir die Alltagsinteressen der Menschen kennen"
Gabriel: Na, ich meine jeder – hoffentlich – in der Bundesregierung sorgt dafür, dass wir nur das machen, was sinnvoll ist. Und noch mal, Sie merken das ja daran, dass ich gerade die innere Haltung, die der Kollege de Maizière hat, richtig finde, dass man eben nicht mit Schauthemen kommt. Was ich mehr möchte, ist, dass wir uns darüber im Klaren sind, dass, glaube ich, unser Land insgesamt mehr Sicherheit braucht und zwar soziale wie innere Sicherheit.
Die Aufgewühltheit vieler Menschen, die Unzufriedenheit, die es gibt, obwohl ja es wirtschaftlich Deutschland ganz gut geht, hat, glaube ich, was damit zu tun, dass viele Menschen den Eindruck haben, dass der Staat seine eigentlichen Aufgaben nicht mehr wahrnimmt. Ich begegne vielen die sagen: 'Mensch, ihr hattet hunderte von Milliarden für die Banken, ihr habt jetzt Geld für Flüchtlinge, aber was ist eigentlich mit Polizei, was ist mit Rente, was ist mit Schulsanierungen?' Ich glaube, wir müssen schon zeigen, dass wir die Alltagsinteressen unserer Menschen kennen und dass wir uns darum kümmern und dass wir in unserem Land wieder mehr Sicherheit schaffen, Sicherheit für alle, soziale wie innere.
Wir erleben auch, dass das Pendel jetzt in die andere Richtung ausschlägt: Die Menschen können diese ganzen Heilsversprechen der Globalisierung der Liberalisierung nicht mehr hören, wenn sie sehen, dass ihre eigenen Kinder keinen festen Arbeitsplatz mehr bekommen oder dass man 40 Jahre arbeitet und am Ende eine Rente hat, die kleiner ist als jemand, der noch nie gearbeitet hat. Und ich finde, sich kümmern um Flüchtlinge ist das Eine und das Richtige, aber wir müssen uns auch darum kümmern, dass in der Gesellschaft insgesamt wieder mehr Vertrauen darin existiert, dass sich Leistung lohnt, dass Menschen in sozial schwierigen Lagen Hilfe bekommen, dass der Staat ein starker Staat ist, der soziale Fragen genauso sicher behandelt wie die Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus. Ich glaube, dass die Rolle des Staates wieder wichtiger geworden ist und die Zeit, in der uns Konservative und Liberale eingeredet haben, man müsse eigentlich den Staat immer kleiner werden lassen, dass die vorbei sind.
Geers: Sind das die Themen, mit denen die SPD auch in den Wahlkampf ziehen will?
"In den schwierigsten Stadtteilen müssen die besten Schulen stehen"
Gabriel: Das sind erst mal die Themen, von denen ich den Eindruck habe, dass sie viele Menschen von allen Parteien erwarten und dass wir darüber reden müssen. Ich bin übrigens auch nicht dafür, dass wir einen überbordenden Staat bekommen. Aber ich bin schon dafür, dass wir wieder zeigen, dass wir die ganz normalen Dinge leisten können, dass wir Schulen sanieren. Ich bin eingeschult in eine neue Grundschule, dann bin ich in eine neue Mittelschule gekommen, dann in ein neues Gymnasium, ich konnte richtig anfassen, dass Bildung was wert ist, die sanitären Anlagen in den Schulen waren besser als bei uns zu Hause. Und heute haben wir einen riesigen Sanierungsstau in unseren Bildungseinrichtungen. Ich finde, dass in den schwierigsten Stadtteilen die besten Schulen stehen müssen, das müssen Leuchttürme sein. Nicht die Banktürme sind die Kathedralen unseres Landes, sondern die Schulgebäude. Und man kann nicht immer den Eltern sagen: Nehmt einen Eimer Farbe in die Hand und macht es selber – damit ist es nicht getan, wir brauchen auch Lehrer, Sozialarbeiter. Da zu investieren, das ist ja nichts, wo ein Mensch, der das von der Politik fordert, jetzt was irgendwie Unbotmäßiges oder nicht Bezahlbares fordern würde, das sind ganz normale Dinge. Dass man, wenn man arbeitet, anständige Geld verdient, dass wenn man Rentner ist, sicher ist, dass die Mieten nicht explodieren, dass es bezahlbare Wohnungen gibt, das sind die Themen, die Menschen von der Politik erwarten. Und die Zeit, in der sie immer vertröstet wurden, dass das nun mal so ist in der Globalisierung, dass man das nicht alles machen kann und wir kein Geld haben, da sehen die Menschen jeden Tag, dass wir für alles mögliche Geld haben und erwarten – zu Recht –, dass wir diese ganz normalen Bedürfnisse auch erfüllen in unserem Land.
Geers: Ist das jetzt gerade der Einblick gewesen in das, womit Ihre Partei im nächsten Jahr punkten will in der Bundestagswahl? Ich frage das auch vor dem Hintergrund, dass Ihr Hauptgegner, sprich die CDU/CSU, einen eher personalisierten, auf Angela Merkel zugeschnittenen Wahlkampf führen dürfte – den Sie dann mit SPD mit Sachthemen kontern werden?
"Wir müssen die Ausgaben für Forschung und Entwicklung erhöhen"
Gabriel: Also jedenfalls ist das, glaube ich, was Vernünftiges, dass wir sagen, was wir machen wollen im Land. Ich will vielleicht noch etwas hinzufügen, was genauso wichtig ist. Wenn man das alles schaffen will, auch wieder mehr Sicherheit – soziale wie innere – zu schaffen, muss man ja sagen: Wo kommt das Geld eigentlich her dafür? Und ich glaube, was das Wichtigste ist, dass wir alles dafür tun, dass unser Land wirtschaftlich erfolgreich bleibt. Meine Sorge – und das muss auch ein Thema im Wahlkampf sein – ist, dass wir zu viel, sagen wir mal, uns ausruhen auf den Anstrengungen der Vergangenheit und dass wir ein bisschen zu wenig dafür tun, was morgen kommt. Ich glaube, wir müssen unsere Ausgaben für Forschung und Entwicklung erhöhen. Wir werden dafür sorgen müssen, dass junge Unternehmen mehr Chancen haben. Wir müssen dafür sorgen, dass die berufliche Bildung wieder an Stellenwert gewinnt – wir haben einen Fachkräftemangel bei uns. In der Energiepolitik haben wir, Gott sei Dank, viel geschafft, sie ist endlich wieder planbar und berechenbar geworden. Aber es wird auch darum gehen müssen, Investitionen in die Digitalisierung zu schaffen, die Infrastruktur zu verbessern. Nur wenn wir gute wirtschaftliche Rahmenbedingungen haben, dann bleibt es so wie heute, dass wir eine hohe Beschäftigtenzahl haben, dass wir endlich wieder steigende Löhne haben, auch besser Renten haben. Wir haben jetzt eine Rentenerhöhung gehabt, die hatten wir in den letzten 20 Jahren nicht so hoch, mit knapp sechs Prozent. Das, glaube ich, gehört auch dazu, dass wir in den nächsten zwölf Monaten auch darüber diskutieren müssen in Deutschland: Was ist notwendig, damit das Land erfolgreich bleibt. Das sind die beiden Dinge, mehr Sicherheit zu schaffen, aber auch den Erfolg der deutschen Wirtschaft, die Schaffung von Arbeitsplätzen zum Thema zu machen. Ich fände es jedenfalls gut, wenn es in einem Bundestagswahlkampf um die Zukunft unseres Landes ginge und nicht nur um die Frage, wer irgendwie die besten Personen aufstellt.
Geers: Die SPD muss natürlich auch die Frage beantworten: Wie wird das bezahlt? Also, wenn ich jetzt überlege oder wenn ich jetzt zusammenzähle: Mehr innere Sicherheit, mehr äußere Sicherheit, Bekämpfung des Terrorismus, Bekämpfung vielleicht auch von Fluchtursachen in Ländern wie Syrien oder in Afrika, wenn ich an weitere Stichworte, die auch immer in der Debatte fallen, wie mehr Geld für die Bundeswehr oder – wie Sie es gerade gesagt haben, Herr Gabriel – mehr Geld für soziale Sicherheit, für den sozialen Zusammenhalt im Land, mehr Geld für Bildung, vielleicht auch mehr Geld für Wachstum in Europa nach einem möglichen Brexit, da kommt Vieles zusammen. Und dann muss natürlich auch die SPD Antwort geben darauf, dass es das alles nicht zum Nulltarif gibt. Also, woher kommt das Geld?
"Formen legaler Steuervermeidung bekämpfen"
Gabriel: Erstens haben wir das große Glück, dass wir in einer Phase leben, wo es uns wirtschaftlich gut geht und wir Überschüsse produzieren. Wir wären nicht klug beraten, wenn wir die nicht investieren würden in Bildung und in Infrastruktur - das ist die Zukunft unseres Landes. Zweitens wird es auch darum gehen - Sie haben das Stichwort völlig zurecht genannt -, was machen wir eigentlich in Europa. In Europa ist es heute so, dass jeder Bäckermeister in Deutschland höhere Steuersätze zahlt als große Konzerne wie Amazon, Google und manche anderen, Starbucks, weil wir in Europa Steueroasen haben und dann gigantische Gewinne zum Beispiel in Deutschland gemacht werden, aber nur ein Prozent Steuern gezahlt werden. Unser Land verliert nach Berechnungen der Europäischen Kommission in jedem Jahr 150 Milliarden Euro durch diese Form legaler Steuervermeidung - das ist die Hälfte des Bundeshaushaltes! Ich glaube nun auch nicht, dass wir das alles kriegen werden, aber stellen Sie sich vor, wir würden es schaffen, wenigstens zehn Prozent davon zu bekommen, indem wir in Europa diese Briefkastenfirmen bekämpfen, dass wir eine gemeinsame Grundlage der Besteuerung haben. Ich will ja gar nicht gleiche Steuersätze - das ist eine Illusion, das wird man nicht hinkriegen -, aber dass wir uns wenigstens darauf verständigen, was besteuern wir. Das muss Europa schaffen. Wenn nicht, werden die Menschen immer weniger bereit sein, sagen wir mal, in Europa etwas zu erkennen, was ihren Lebensinteressen entspricht. Und es kann nicht sein, dass der Stärkste sich davor drückt, zum Gemeinwohl beizutragen. Das ist auch ein großes europäisches Thema.
Geers: Das heißt aber auch, aus Ihrer Sicht wackelt dann zum Beispiel das Thema Haushaltsausgleich – dann wackelt die schwarze Null nicht unbedingt?
"Es ist kein Ziel per se, Schulden zu machen"
Gabriel: Also, ich weiß nicht genau, warum man Spaß daran haben soll, Schulden zu machen, sondern das Schönste ist natürlich, wenn man keine macht. Und deswegen, es ist ja kein Ziel per se, Schulden zu machen. Ich glaube, dass die Frage, ob man sich verschuldet oder nicht, mit zwei zentralen Fragen zu tun hat. Erstens, sind es Daueraufgaben, für die man sich verschuldet, dann darf man das eigentlich nicht machen. Oder sind es Investitionen, die man tätigt, damit die Bedingungen gut werden in der Infrastruktur, in der Digitalisierung, dann darf man das natürlich, wenn man eine zweite Bedingung einhält und gleich klärt, wie man eigentlich das wieder abbezahlt. Und der Fehler der Politik der Vergangenheit ist in der Regel gewesen, dass sich gerade um die zweite Frage keiner Gedanken gemacht hat. Ich persönlich bin froh darüber, dass wir in einer Situation leben, in der wir das nicht müssen, in der wir ausgeglichene Haushalte haben. Und das ist der Grund, warum ich als Wirtschaftsminister sage: Das klappt alles nur, weil wir eine gut laufende Wirtschaft haben. Und das bedeutet: Wer das in Zukunft auch haben will, der muss die Bedingungen für erfolgreiche Wirtschaft in Deutschland gut halten. Und da gibt es eine Reihe von Dingen, wo wir in den letzten Jahren, glaube ich, nicht genug gemacht haben.
Geers: Als da wären?
Gabriel: Zum Beispiel die Entlastung von mittelständischen Unternehmen dort, wo sie junge Unternehmen haben, wo die Unternehmen investieren wollen. Wir haben Regeln, die zum Teil 15, 20 Jahre alt sind bei der Frage, was können sie an kurzlebigen Wirtschaftsgütern von der Steuer absetzen, welche Vorschriften müssen sie einhalten, wenn sie ein junges Unternehmen gründen. Wir haben jetzt, Gott sei Dank, zwei Bürokratieentlastungsgesetze mit insgesamt mit mehr als zwei Milliarden Euro Entlastung gemacht. Aber ich sage Ihnen: Da ist noch mehr drin! Dann die Frage Fachkräfte, die Digitalisierung. Wir werden in Deutschland auf Sicht keine Chance haben, wirtschaftliche Erfolge zu haben, wenn wir nicht wesentlich besser werden bei der digitalen Infrastruktur. Wir haben jetzt ein Ziel von 50 Megabit pro Sekunde im Jahr 2018. Das ist in Ordnung, aber jeder weiß: Das ist viel zu wenig. Eigentlich muss Deutschland, muss sich Europa das Ziel setzen, im Jahr 2025 die beste digitale Infrastruktur der Welt zu haben – ohne das werden wir das nicht schaffen. Das sind Dinge, die als Voraussetzung geschaffen werden müssen, damit die Wirtschaft gut läuft.
Geers: Würden Sie soweit gehen, Herr Gabriel, dass Sie sagen, mit Blick auch auf die aktuell ja eher günstige Lage, was die Finanzierungsmöglichkeiten des Staates betrifft – er zahlt ja so gut wie keine Zinsen derzeit, der Staat, Deutschland –, dass man diese Zeiten nutzen sollte möglicherweise, um auch für solche Projekt, die man ja definieren könnte als sinnvoll, zukunftsgewandt und, und, und, dass man sagt, für solche Projekte machen wir auch Schulden und haben dann eben jetzt die Möglichkeit, jetzt für vergleichsweise preiswertes Geld Zukunftsinvestitionen zu tätigen?
"Für die Digitalisierung wäre ich dafür, Schulden zu machen"
Gabriel: Alle auf der Welt sagen uns das. Alle. Es gibt nur einen, der anderer Meinung ist, das ist der Bundesfinanzminister. Weil alle Ökonomen sagen: 'Ihr seid ja verrückt, dass ihr eure Schulen und eure Infrastruktur verkommen lasst in einer Zeit, wo euch die Investitionen zur Sanierung von Infrastruktur und Schulen nichts kostet und in paar Jahren müsst ihr es dann doch machen und wenn ihr Pech habt, sind die Zinsen dann höher.' Es spricht viel dafür, für Investitionen in die Infrastruktur im Zweifel auch bereit zu sein, sich zu verschulden. Aber ich sage noch mal: Das kann kein Ziel an sich sein. Zurzeit haben wir mit Hilfe auch von Wolfgang Schäuble und der Bundesregierung insgesamt ja zum Beispiel die kommunale Investitionsmöglichkeit deutlich erhöht und mussten dafür überhaupt keine Schulden machen. Zweitens, wenn man das macht – zum Beispiel für die Digitalisierung wäre ich dafür, es zu tun –, dann muss man auch eine Vorstellung darüber haben, wie man das zurückzahlt. Ein Thema dabei ist – muss man auch offen sagen –, dass ich zum Beispiel glaube, dass es nicht in Ordnung ist, dass wir die Einkommen durch Arbeit stärker besteuern als die Einkommen die man hat, wenn man Aktien besitzt. Es kann ja nicht sein, dass einer, der arbeiten geht, höhere Steuern zahlt auf den gleichen Betrag, als jemand, der auf dem Sofa liegt und das über die Aktien bekommt. Das haben wir mal eingeführt, weil wir gehofft haben, dass die Steuerflucht nachlässt. Heute haben wir Datenaustausch, es gibt kein Bankgeheimnis mehr, wir können die Steuerhinterziehung anders bekämpfen.
Geers: Also, Abgeltungssteuer abschaffen?
Gabriel: Die Abgeltungssteuer ist der Fachbegriff dafür. Und das Geld, das wir dort bekommen, sollten wir ausschließlich in den Bildungsbereich stecken. Ein großes Schulsanierungsprogramm, Sanierung der Sportstätten, Einstellung von Sozialpädagogen in den Ganztagsschulen. Das wäre ein großes Programm, was auch mal zeigen würde: Bildung ist uns was wert!
Geers: Sagt Sigmar Gabriel, der Vizekanzler, der SPD-Chef und der mögliche SPD-Kanzlerkandidat, der dabei bleibt, dass diese Entscheidung erst Anfang nächsten Jahres getroffen wird?
"Erst mal sagen, was man will und dann eine Person bestimmen"
Gabriel: Ich habe schon darauf gewartet, dass die Frage kommt.
Geers: Ich stelle sie am Schluss.
Gabriel: Ja, ist ja auch in Ordnung. Ich meine, ich will es einfach nur erklären. Wenn wir jetzt anfangen, Personal bei uns zu debattieren, können Sie als Journalisten überhaupt nicht anders, als nur darüber zu reden. In dem Interview hier war es deshalb gut, weil wir fast nur über Sachfragen geredet haben, sonst hätten wir ausschließlich über Personen geredet – ist meine Vermutung. Und ich glaube, dass es klug ist, erst mal zu sagen, was man will und dann am Ende auch eine Person – natürlich brauchen wir die – zu bestimmen und es nicht umgekehrt zu machen. Und dann bin ich ein bisschen lästerlich und sage: Solange die Kanzlerin noch nicht einmal gesagt hat, ob sie noch mal kandidiert, müssen wir noch keinen Kandidaten nennen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.