Mittwoch, 01. Mai 2024

Archiv

Sowjetische Kriegsgefangene
Spätes Gedenken in Russland

Geheimdienstverhöre und Zwangsarbeit im Gulag – das drohte sowjetischen Soldaten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aus deutscher Kriegsgefangenschaft zurückkamen. Denn die Sowjet-Führung betrachtete sie als Verräter. Immer mehr russische Familien arbeiten diese Geschichten für sich auf.

Von Andrea Rehmsmeier | 03.06.2019
Ein historisches Foto (Häftlinge bei der Arbeit) in der Ausstellung im Gulag Perm 36. Das Arbeitslager am Dorf Kucino befindet sich ca. 90 Kilometer östlich der Stadt Perm im Ural.
Heimkehrende aus deutscher Kriegsgefangenschaft wurden unter Stalin erneut in die Zwangsarbeit geschickt (imago / Hohlfeld )
Zwei junge Rotarmisten untergehakt mit ernsten Gesichtern. Bewegungslos betrachtet die Rentnerin Galina Burmantowa das vergilbte Schwarz-Weiß-Foto. Es stammt aus dem Jahr 1928 und gehört zu den wenigen, die ihren Vater in jungen Jahren zeigen.
"Mein Vater Maksim als 18-Jähriger. Er und sein Cousin, der später ums Leben gekommen ist."
Auf Galinas Esstisch stehen Fleischplatten und Salate bereit, Ehemann Petr stellt ein Fläschchen Cognac dazu. Das Paar wohnt in Krasnowischersk, einer 16.000-Einwohner-Stadt inmitten der Bergwälder des Ural, 350 Kilometer nördlich der Metropole Perm.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Spätes Gedenken - Sowjetische Kriegsgefangene in Russland und Deutschland.
An diesem Tag ist Konstantin Ostalzev zu Besuch, der Leiter des städtischen Archivs. Tochter Irina ist auch gekommen. Gemeinsam wollen sie die Erinnerung an Maksim Burmantow hochhalten, der von der Wehrmacht nach Deutschland deportiert worden war. Sein Leben ist der Familie ein Geheimnis geblieben, weil er bei seinem Tod im Jahr 1987 seine Erinnerungen mit ins Grab nahm.
"Er hat gesehen, wie man seinen Cousin abgeführt hat, das hat er einmal erzählt. Das war im Kriegsgefangenenlager. Danach hat er ihn nie wiedergesehen. Er wollte sich nicht erinnern. Und wir, die dummen Kinder, haben ihn nie gefragt. Einfach, weil das früher nicht üblich war."
Galina Burmantowa reicht zwei Blätter am Tisch herum, Ausdrucke aus dem Internet. Einer zeigt eine gräuliche Personenkarte. "Burmantow, Maksim. Gefangennahme: 10.07.1941", steht da in akkurater Handschrift. "Gesund". Auf dem anderen Blatt ist ein Foto ausgedruckt: Maksim als hagerer Gefangener, der ein Schild mit einer Nummer vor seine Brust hält.
Suche nach Verwandten im Internet
Kaum ein Jahr ist es her, seit die Familie von der Existenz dieser Dokumente erfahren hat. Sie stammen vom Russischen Verteidigungsministerium, das das Kriegsgefangenenarchiv der deutschen Wehrmacht ausgewertet und im Internet für die Personenrecherche freigeschaltet hat. Auch Archivar Konstantin Ostalzev hat das Thema als neuen Forschungsbereich für sich entdeckt.
"Diese Aufarbeitung passiert gerade im ganzen Land. Überall suchen die Menschen jetzt im Internet nach ihren Verwandten. Die junge Generation will endlich die Wahrheit über den Krieg wissen. Ihnen gefällt nicht mehr, was ihnen die Alten in die Schulbücher geschrieben haben. Sie wollen mehr erfahren."
Im Jahr 1941 lebt Maksim in einem Dorf am Ural. Er ist verheiratet und hat eine dreijährige Tochter. Als die deutsche Wehrmacht in der Sowjetunion einfällt, wird er als Reservist ins ferne Lettland abkommandiert. Im Aufnahmelager trifft er seinen Cousin wieder, der hier ebenfalls auf den Fronteinsatz vorbereitet werden soll. Doch die beiden haben ihre Schlafstätten kaum bezogen, da ist das Lager plötzlich von den Deutschen umzingelt. Der Lagerkommandant hat sich heimlich abgesetzt.
Die von der Wehrmacht angelegte Personalkarte von Maksim Burmantow
Maksim Burmantow wurde von der Wehrmacht nach Deutschland deponiert (Deutschlandradio / Andrea Rehmsmeier)
"Vermisst", lautet die offizielle Mitteilung
"Sie waren noch nicht einmal bewaffnet. ‚Wie eine Herde Schafe haben wir in der Falle gesessen‘, hat Maksim gesagt. 'Keine Waffen, keine Landkarten. Und keine Ahnung, wo wir eigentlich sind.' So ist er in Kriegsgefangenschaft geraten", erzählt Enkelin Irina.
Heute kann sie die historischen Ereignisse im Internet nachlesen. Damals jedoch erfährt Maxims Familie von all dem nichts. "Vermisst", lautet die knappe offizielle Mitteilung. Laut Wehrmachtsarchiv wird Maksim nach Wietzendorf in der Lüneburger Heide transportiert, in ein Lager mit dem Namen "Stalag X D".
Er selbst berichtet später von harter Arbeit im dortigen Steinbruch und von regelmäßigen Prügeln. Über drei Jahre ist er in deutscher Kriegsgefangenschaft – und er überlebt. Sein Cousin und viele andere nicht. Als Maksim nach Kriegsende in sein Dorf im Ural zurückkehrt, erwartet ihn auch dort nichts Gutes: Erst zerbricht seine Ehe, dann wird er von Stalins Geheimdienst zum Verhör abgeholt. Für heimgekehrte Kriegsgefangene waren damals spezielle "Filtrationslager" eingerichtet worden, berichtet Archivar Ostalzev.
"Auch bei uns in Krasnowischersk gab es in den Jahren 1944 und 1945 ein Filtrationslager. Lange, zweistöckige Baracken, in denen die ehemaligen Rotarmisten auf Pritschen schliefen – bis zum Verhör. Dort wollte man herausbekommen, ob sie Deserteure oder Vaterlandsverräter waren."
Abertausende verschwinden im Gulag
Wer das Verhör nicht besteht, der wird erneut in die Zwangsarbeit geschickt. Unter Stalins repressivem Regime verschwinden damals Abertausende im Gulag. Maksim Burmantow aber hat Glück: Er wird in die Freiheit entlassen und lernt kurz darauf seine zweite Ehefrau kennen, Galinas Mutter. Das Stigma der Kriegsgefangenschaft aber wird ihn sein Leben lang begleiten.
"Die Zeiten haben sich Gott sei dank geändert", sagt Petr, Galinas Ehemann. Er öffnet mit feierlicher Geste die Cognac-Flasche. Alle erheben ihre Gläser.
"Früher hat man uns zum Schweigen gezwungen. Wir haben vieles nicht gewusst. Trinken wir auf die Freiheit des Wortes! Auf echte Freiheit, ohne Zensur! Trinken wir auf Maksim!"