Donnerstag, 18. April 2024

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Spanische Identitäten (1/5)
"Nationalismus erstickt das freie Denken"

Die Spanier haben ein gespaltenes Verhältnis zu ihrer Nation. Die Erinnerung an die einstige Größe, an Bürgerkrieg und Diktatur lasten auf dem kollektiven Gedächtnis. Auch der katalanische Separatismus stellt die Nation infrage. Eine schwierige Ausgangslage für Nationalismusforscher José Álvarez Junco.

Von Hans-Günter Kellner | 19.11.2018
    Menschen schwenken spanische Flaggen in Madrid
    Protest in Madrid gegen die katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen, organisiert von der "Stiftung zur Verteidigung der spanischen Nation" Denaes (AFP/ Javier Soriano)
    José Álvarez Junco hat für Chico und Roque, seine beiden Hunde, im Eingangsbereich seines geräumigen Hauses in einem Madrider Vorort einen gemütlichen Platz freigeräumt. In die Küche dürfen die beiden nämlich nicht. Dort macht der Historiker erst mal Kaffee. Er blickt durch die Fenster in den Garten. Das Gras ist hochgewachsen, aber zur Gartenpflege hat er keine Zeit, auch wenn er seit vier Jahren pensioniert ist. Ob in Parlamentsausschüssen oder bei Podiumsdebatten, seine Meinung ist gefragt. Zu viele Verpflichtungen, klagt er:
    "Ich bin müde, ich bin es leid. Ich will schreiben, aber ich komme nie dazu. Mir fehlen die Zeit und die Ruhe."
    Der frustrierende Kampf gegen Stereotypen
    Es ist kalt geworden in Madrid. Álvarez Junco trägt eine Cordhose und einen dicken Pullover, im Kamin im Wohnzimmer knistert das Feuer. Der Nationalismus war Zeit seines Lebens sein großer Forschungsschwerpunkt. "Die nationale Geschichtsschreibung", "Geschichte und Mythos" oder "Nützliche Götter. Nationen und Nationalismen" lauten die Titel einiger seiner kritischen Schriften. Sie sind Verkaufserfolge, doch trotzdem fragt er sich, für wen er eigentlich schreibt.
    "Die Leute sprechen lieber in Stereotypen. Die Deutschen sind so, die Amerikaner so. So wird ein komplexes Thema wie zum Beispiel die deutsche Gesellschaft in zehn Sekunden abgehandelt. Das ist schon ein bisschen frustrierend."
    Aber auch am spanischen Nationalismus lässt er kein gutes Haar. Vor Jahren erklärte der ehemalige spanische Regierungschef José María Aznar die Zeit des Westgotenreichs, also das siebte und achte Jahrhundert, zum Beginn der spanischen Nation. Andere legen den Beginn der spanischen Nation auf das Jahr 1492 fest, als Ferdinand von Aragón und Isabella von Kastilien heirateten und die katalanisch-spanische Dynastie begründeten. Álvarez Junco winkt ab:
    "Das war nicht die Geburtsstunde der spanischen Nation. Das war schlicht die Vereinigung zweier Monarchien. Ein Staat, der die gesamte iberische Halbinsel umfasste mit Ausnahme Portugals. In diesen Grenzen ist er tatsächlich einer der stabilsten Staaten der Welt, mehr als 500 Jahre alt. Aber das war damals keine Nation. Das war eine komplexe Monarchie aus unterschiedlichen Königreichen, aber mit einem einzigen Regentenpaar. Das war eine politische Einheit, keine emotionale Gemeinschaft, keine Nation."
    Der ewige Streit um die "Nation" Katalonien
    "Katalonien ist eine Nation, Spanien ist keine", schlussfolgerte daraus der damalige Ministerpräsident Kataloniens, Jordi Pujol. Noch heute sprechen katalanische Nationalisten von einer tausendjährigen Nation und einem einzigen katalanischen Volk. Für den Historiker ist es zum Haareraufen:
    "Das ist der nationalistische Mythos. ‚Katalonien ist eine Nation‘ soll bedeuten: Es ist ein Volk wie ein natürlicher Organismus. Spanien ist in dieser Lesart hingegen kein Volk, sondern ein künstliches Konstrukt. Beides ist schlicht falsch. Natürlich sind beide künstliche, politische Konstrukte, Spanien wie Katalonien. Die Vorstellung von Nationen entwickelt sich viel später, sie ist nicht älter als 150, 200 Jahre alt."
    Der Historiker schenkt sich Kaffee nach, die Debatte um Katalonien nervt ihn. Barcelona war für ihn einst das intellektuelle Zentrum Spaniens. Die interessantesten Debatten, Konzerte und Theaterstücke gab es dort, nicht in Madrid. Heute ersticke der Nationalismus das freie Denken:
    "Furchtbar. Ich habe Katalonien, Barcelona 1965 kennengelernt. Das war eine großartige, eine europäische Stadt, kein Vergleich zum damaligen Madrid. Und heute? Das ist ein Ort, an dem Katalanen nur noch über Katalanen reden, die katalanisch sein wollen, so katalanisch wie möglich. Wie armselig, nicht?"
    Befürworter der katalanischen Unabhängigkeit demonstrieren am 27. Oktober 2017 in Barcelona.
    Barcelona - für Historiker José Álvarez Junco heute "ein Ort, an dem Katalanen nur noch über Katalanen reden, die katalanisch sein wollen" (imago stock & people / Victor Serri)
    Spanischer Nationalismus ist Ausdruck von Komplexen
    Auf der anderen Seite reagierten aber auch spanische Nationalisten zunehmend empfindlich, räumt der Historiker ein. Etwa, wenn sich ein Satiriker im Fernsehen mit der spanischen Fahne die Nase putzt. Die Proteste waren so heftig, dass der Sender zahlreiche Werbekunden verlor.
    "Das geschieht aus Unsicherheit. Jahrzehntelang wurde den Spaniern in der Schule gesagt, sie gehörten zu den großen Nationen Europas Doch der spanische Nationalismus konstituierte sich unter großen Schwierigkeiten, in einer Zeit politischer Unruhen. Spanien verlor zu Beginn des 19. Jahrhunderts sein Imperium, fast zur gleichen Zeit, als andere europäische Nationen ihres gerade aufbauten."
    Das habe Komplexe verursacht, und wer unsicher ist, sei eben auch schnell beleidigt, meint der der 76-Jährige. Er wirkt müde. Das spanische Parlament diskutiert angesichts des Katalonienkonflikts über eine Föderalismusreform, er selbst war als Experte geladen. Politiker träumen von einem neuen gemeinsamen nationalen Projekt, doch José Álvarez Junco hat Zweifel:
    "Das ist schwer, wieder zusammenzubringen. Emotionen haben diesen Konflikt dominiert und sie sind sehr intensiv. Nicht nur die Anhänger der katalanischen Unabhängigkeit, die meisten Katalanen denken, Spanien behandele sie ungerecht. Und die Spanier, nicht nur die Ultranationalisten, sind den Konflikt leid. Sie halten die Katalanen für Egoisten, die immer nur Probleme machen, wo ‚wir doch die schweren Probleme unseres Landes gelöst haben‘. Da ist ein emotionaler Bruch, den man schlecht wieder kitten kann."
    Nationen existierten nur durch die Vorstellungskraft der Menschen, unterstreicht Junco. Ein neues nationales Projekt könne also nur funktionieren, wenn sich alle dafür begeisterten. Und das scheint in der Tat in Spanien gegenwärtig nur schwer vorstellbar.