
Auf dem SPD-Bundesparteitag Ende Juni 2025 in Berlin wurde Vizekanzler Lars Klingbeil mit nur 64,9 Prozent der Stimmen als Parteichef bestätigt – so wenig Zustimmung bekam noch nie ein SPD-Vorsitzender ohne Gegenkandidat. Ganz anders seine neue Co-Vorsitzende: Arbeitsministerin Bärbel Bas überzeugte die Delegierten und kam auf 95 Prozent. Gemeinsam sollen Klingbeil und Bas die Partei nach dem historischen Absturz bei der Bundestagswahl im Februar wieder auf Kurs bringen. Mit nur 16,4 Prozent hatte die SPD ihr schlechtestes Ergebnis seit Gründung der Bundesrepublik eingefahren.
Tatsächlich war es das schwächste Abschneiden der Sozialdemokraten bei einer Wahl zum deutschen Parlament seit den 1880er-Jahren – also seit dem Kaiserreich. Selbst bei der letzten Reichstagswahl am Übergang von der Weimarer Republik zur NS-Diktatur im März 1933, als Hitler schon Reichskanzler war, hatte die SPD mit 18 Prozent ein besseres Ergebnis erzielt als 2025.
Die schwere Wahlniederlage beendete die kurze Kanzlerschaft von Olaf Scholz. Noch nie verlor ein amtierender Kanzler bei einer Bundestagswahl so deutlich: minus 9,3 Prozentpunkte. Selbst Angela Merkels Minus von 8,6 Punkten im Jahr 2017 fiel weniger drastisch aus und kam von einem deutlich höheren Ausgangsniveau.
Klingbeil nannte das Ergebnis einen „Tiefpunkt in der Geschichte der Sozialdemokratie“. Eine Aufarbeitung sei „natürlich“ nötig. Doch wie diese konkret aussehen soll, ist bislang unklar, umstritten und Gegenstand intensiver Debatten.
Wie ist die Lage der SPD?
Einerseits hat die SPD trotz ihrer Wahlpleite einiges bei den Koalitionsverhandlungen mit der Union herausgeholt – inhaltlich und personell. Die Partei stellt im Kabinett von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) sieben Minister. Die SPD gehört der Bundesregierung mittlerweile seit 1998 fast ununterbrochen an. Nur von 2009 bis 2013 regierten Union und FDP. Die Sozialdemokraten sind außerdem an 12 von 16 Landesregierungen beteiligt. Die Partei stellt auch die meisten Oberbürgermeister in den Großstädten.
Andererseits verliert die SPD seit vielen Jahren Mitglieder. Und bei Bundestagswahlen hat die Partei zuletzt vor 20 Jahren ein Ergebnis über 30 Prozent erreicht – nämlich 2005, als Gerhard Schröder 34,2 Prozent holte - aber trotzdem die Wahl knapp verlor. Das Parteiensystem wandelt sich seit längerem – mit gravierenden Folgen auch für die SPD.

Die AfD feierte bei der Bundestagswahl nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in früheren westdeutschen SPD-Hochburgen wie Gelsenkirchen oder Mannheim Erfolge. Besonders bitter für die Genossen: Bei der Bundestagswahl lag die SPD unter den Arbeitern laut Wahltagsbefragungen nur noch abgeschlagen auf Rang 3 hinter AfD und Union. Laut Analyse der Wählerwanderung verlor die SPD 1,7 Millionen Stimmen an die Union, 700.000 an die AfD, aber auch insgesamt gut eine Million Wähler an Linke, BSW und Grüne.
Wer soll die SPD aus der Krise führen?
Die SPD hat auf ihrem Parteitag in Berlin Bärbel Bas und Lars Klingbeil zu ihrer neuen Doppelspitze gewählt. Bundesarbeitsministerin Bas folgt auf Saskia Esken. Die Duisburgerin gilt als sehr beliebt in der Mitgliedschaft. Dass die bisherige Amtsinhaberin Saskia Esken aus dem Amt gedrängt wurde, hatte parteiintern und öffentlich Kritik ausgelöst – zumal Klingbeil trotz Wahlpleite erneut als Co-Chef antritt. Der Mann in der Doppelspitze bleibt – die Frau muss gehen.
Bas übte deutliche Kritik am Umgang der Partei mit Esken. Diese habe erleben müssen, „dass Solidarität nicht immer selbstverständlich ist – auch nicht in der Sozialdemokratie“. Doch wenn die SPD für eine solidarische Gesellschaft kämpfen wolle, müsse sie zuallererst eine solidarische Partei sein. „Sonst glaubt uns das keiner!“
Vizekanzler und Finanzminister Klingbeil wurde mit nur 64,9 Prozent im Amt bestätigt. Der neue Generalsekretär Tim Klüssendorf wurde mit 90,8 Prozent gewählt. Am Ende war Klingbeils Ergebnis das schlechteste des Abends - schlechter auch als das aller stellvertretenden Parteivorsitzenden.
In seiner Rede räumte Klingbeil Fehler im Wahlkampf und in seinem Verhalten nach der Bundestagswahl ein. Er trage ohne Frage Verantwortung für das historisch schlechte Ergebnis von 16,4 Prozent, sagte der Vizekanzler. Er bat seine Partei fast inständig, dass sie „nach einer Klartext-Aussprache über die letzten Monate“ wieder gemeinsam nach vorne schauen möge.
In den vergangenen Wochen gab es an der SPD-Basis generell viel öffentliche Kritik am Parteichef. Der mitgliederstärkste Landesverband Nordrhein-Westfalen beschloss einen Leitantrag, der als Selbstkritik, aber auch als Abrechnung mit Klingbeil interpretiert wurde.
Deutlichen Unmut über Klingbeils „Mitte-Kurs“ gab es unter anderem auch auf dem Landesparteitag der SPD in Schleswig-Holstein. Vizekanzler Klingbeil trägt die verschärfte Asylpolitik der Union bislang in der Regierung mit.
In NRW stehen im Herbst Kommunalwahlen an – auch ein erster Stimmungstest, wie die Merz-Regierung und die SPD als Juniorpartner bei den Wahlberechtigten ankommen.
Wie will die SPD wieder an Profil gewinnen?
Der neue Generalsekretär Tim Klüssendorf will die SPD laut einem Medienbericht als „Bewegungspartei“ positionieren. Eine Partei, die „im Netz, stark vor Ort, offen für Allianzen mit Gewerkschaften, Verbänden und Zivilgesellschaft“ sein solle. „Der Vertrauensverlust ist tief und betrifft die Partei insgesamt“, heißt es demnach in der schriftlichen Wahlanalyse, die auf dem Parteitag debattiert werden soll.
Die Ursachen reichten von fehlender strategischer Klarheit bis zu mangelnder Präsenz in den Lebenswelten vieler Menschen. Die SPD stehe vor einer tiefgreifenden Erneuerung. Auch an der Kommunikation soll sich einiges ändern: „Wir dürfen uns nicht hinter Floskeln verstecken“, vielmehr müsse die Partei „aufrichtig und transparent kommunizieren“.
Die Partei dürfe sich vom Regierungsalltag „nicht komplett auffressen lassen“, sagt die Co-Landesvorsitzende der SPD in Nordrhein-Westfalen, Sarah Philipp. Sie kommt wie Bärbel Bas aus Duisburg und gilt als eine denkbare Anwärterin für die Spitzenkandidatur bei der nächsten NRW-Landtagswahl 2027. Zunächst aber muss die SPD im Jahr 2026 Landtagswahlen unter anderem in Rheinland-Pfalz und in Mecklenburg-Vorpommern bestehen, wo sie bislang mit den Ministerpräsidenten Alexander Schweitzer und Manuela Schwesig an der Spitze regiert.
Was sind Konfliktthemen in der SPD?
Ein Kernthema der SPD ist die Arbeits- und Sozialpolitik. Nicht nur der linke Flügel der Partei, sondern auch Gewerkschaften und Sozialverbände werden ganz genau darauf schauen, wie Ministerin Bas die im Koalitionsvertrag vereinbarte Umwandlung des Bürgergeldes in eine Grundsicherung ausgestalten wird.
Gut 20 Jahre nach der Agenda 2010 dürften die Sozialdemokraten kein Interesse daran haben, erneut als Partei der sozialen Kälte dazustehen - gerade angesichts der erstarkten Linken im Bundestag. Auf dem NRW-Landesparteitag der SPD im Mai sagte die Juso-Landesvorsitzende Nina Gaedike: „Der Niedergang der Sozialdemokratie setzte ein, als wir Hartz IV einführten und uns von unserem Kampf für einen gerechten und auffangenden Sozialstaat verabschiedet haben.“
Auch die Außen- und Sicherheitspolitik wird innerhalb der Sozialdemokratie kontrovers diskutiert. Das verdeutlichte das jüngst von Ex-Fraktionschef Rolf Mützenich, dem Bundestagsabgeordneten Ralf Stegner und anderen Genossen veröffentlichte „Manifest“ zum Krieg in der Ukraine.
Nach einem Waffenstillstand, der mit mehr Diplomatie herbeigeführt werden soll, wollen die Unterzeichner „wieder ins Gespräch“ kommen mit Russland, „auch über eine von allen getragene und von allen respektierte Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa“. Das Papier wurde als Absage an den Kurs von Klingbeil und Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) in der Regierung gewertet.
Warum will sich die Partei ein neues Grundsatzprogramm geben?
Die SPD will sich ein neues Grundsatzprogramm geben, an dem zwei Jahre lang gearbeitet werden soll. An dem Prozess bis 2027 sollen die Mitglieder beteiligt werden. Das noch geltende Programm stammt aus dem Jahr 2007 und ist ziemlich veraltet. Da stehen zum Beispiel noch Sätze drin wie: „Die strategische Partnerschaft mit Russland ist für Deutschland und die Europäische Union unverzichtbar. Die Öffnung Russlands sichert Frieden und Stabilität auf unserem Kontinent.“ Auch an anderen Stellen wirkt das Programm renovierungsbedürftig.
Spannend ist auch die Frage, ob sich die SPD im neuen Grundsatzprogramm von Begriffen wie „linke Volkspartei“ oder „demokratischer Sozialismus“ verabschiedet. Klingbeil hatte in seiner Rede auf dem nordrhein-westfälischen Landesparteitag gesagt: „Meine Antwort auf 16,4 Prozent ist nicht, dass die SPD jetzt noch polarisierter, noch radikaler, noch weiterer nach links rücken muss.“ Die SPD müsse Politik für Menschen machen, „die sich als Mitte begreifen“. Sätze, die in den kommenden Debatten eine Rolle spielen dürften.
Martin Teigeler/ ema