Dienstag, 30. April 2024

Nationalsozialismus
Die unrühmliche Rolle des Radsports in der NS-Zeit

Viele Sportverbände haben ihre Rolle in der NS-Zeit inzwischen aufgearbeitet. Doch der Radsport schwieg über Jahrzehnte. Nun hat ein hessischer Wissenschaftler und Hobbysportler die NS-Verstrickungen des deutschen Radsports aufgearbeitet.

Von Tim Farin | 04.02.2024
Das Archivbild vom 26.07.1976 zeigt Radsport-Trainer Gustav Kilian, unmittelbar nach dem Goldmedaillen-Gewinn "seines" Bahn-Vierers bei den Olympischen Spielen in Montreal.
Gustav Kilian, ein Aushängeschild der NSDAP, setzte nach dem Krieg seine Karriere fort und wurde sogar Radsport-Bundestrainer. (picture-alliance / dpa / Karl_Schnörrer)
Sommer 2021. Die Organisatoren der Deutschland-Tour im Radsport planen ein sportliches Highlight, das auch nach Thüringen führt. Eine Etappe soll auf das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald führen. Für die Organisatoren ist der Ettersberg ein natürliches Hindernis, perfekt geeignet für eine Bergwertung. Aber für andere ist die Blutstraße, der Ort historischer Schande, völlig ungeeignet. Die Gedenkstätte Buchenwald protestiert gegen die Pläne. Letztlich zieht der Veranstalter zurück.
Für Dieter Vaupel, Politikwissenschaftler und Radsportler aus Hessen, war der Zwischenfall im Sommer 2021 Anlass, genauer hinzuschauen. Er startete seine eigene Forschungsarbeit.
Und dieses Defizit habe ich dann gespürt. Da müsste was gemacht werden, da müsste ein bisschen Licht ins Dunkel gebracht werden, was die Geschichte des Radsports und insbesondere auch der Radsportler betrifft, die gelitten haben unter der Zeit des Nationalsozialismus.“
Gute zwei Jahre später hat Vaupel nicht nur viel Material zusammengetragen, sondern inzwischen auch beim Sportverlag „Die Werkstatt“ seine Studie veröffentlicht. Geht es nach dem Verlag, dann ist es nicht nur ein Druckwerk. „Das Buch, das den deutschen Radsport erschüttert“, steht hinten auf der Klappe. Auf 208 Seiten hat Vaupel als erster Autor einen systematischen Überblick zur Rolle des Radsports im NS-Regime gewagt.
Der deutsche Radsport, sagt Dieter Vaupel, habe die Auseinandersetzung mit seiner Geschichte im NS-Regime bislang gemieden. „Das kann man so sagen, ganz eindeutig. Die ist unter den Teppich gekehrt worden.“ Während sich viele andere organisierte Sportarten wie der Fußball, Handball oder Turnen mit dem Thema auseinandersetzten, fehlte es bis zuletzt an Studien zum Radsport. „Die anderen Sportarten haben sich dem gestellt, aber der Radsport hat seine Geschichte in eigener Initiative bisher überhaupt nicht beleuchtet."

Radsport hat sich selbst gleichgeschaltet

Das wiederum passt zum düsteren Bild, das Vaupels Buch vom Radsport im NS-Regime und auch in der Nachkriegszeit zeichnet. Daraus geht hervor, dass der Bund Deutscher Radfahrer nicht etwa vom NS-Regime mit Zwang unterworfen wurde. Vielmehr habe sich der organisierte bürgerliche Radsport eilig nach der Machtübernahme durch die Nazis selbst gleichgeschaltet. Zugleich verbot das neue Regime die bis dahin populären sozialistischen Radsportvereine.
"Als gesetzlich noch keinerlei Verpflichtung dazu da war, hat sich der Radsport dem Führerprinzip unterworfen und hat eben auch einiges getan, um politisch oder in Anführungsstrichen rassistisch missliebige Personen aus dem Radsport auszugrenzen."
Vaupel arbeitet in seinem Buch auf, wie die vormals in verschiedene Verbände und auch politisch zersplitterte Radsportwelt zur nationalsozialistischen Einheitsfront wurde. Er zeigt auch, wie das NS-Regime den eigentlich verpönten Profisport doch für die eigene Propaganda nutzte. Dabei ging es nicht nur um den Wettstreit mit anderen Völkern. Es ging auch um Marketing, etwa für die großen Fahrradfirmen. Für die lohnte es sich, wenn sie bekannte Radsportler als Werbegesichter nutzten.

Radrundfahrten durch das expandierende Reich

So kooperierten NS-Regime, Industrie und Leistungssport. Und Radsport-Rundfahrten bekamen zunehmend eine symbolisch aufgeladene Bedeutung. Wo das Deutsche Reich expandierte, folgten oft Rad-Veranstaltungen: Im Saarland, im Sudentenland und letztlich im gesamten Reich veranstaltete der Radsport mit Wohlwollen der Nazis große Rundfahrten – als Symbol der wachsenden Macht. Etwa die Deutschland-Fahrt:
"1937 war die Streckenlänge bei knapp 3.200 Kilometer. Ein Jahr später, in 38, war wir schon bei fast 4.000 Kilometern. Und dann der Gipfel der des NS-Gigantismus, kann man sagen, war die Großdeutschland-Fahrt im Jahr 1939. Nachdem Österreich angegliedert worden ist, ging es ja auch durch Österreich mit fast 5.000 Kilometern."
Vaupel widmet sich in seinem Buch nicht nur der Zeit bis zum Untergang des Nazireichs. Er zeigt auch, wie Akteure aus dem NS-Regime in der Bundesrepublik weiterwirkten. Ein Beispiel: Gustav Kilian, ein Aushängeschild der NSDAP:
"Den Gustloff-Preis hat er zum Beispiel zusammen mit seinem Partner Vopel empfangen, ist eingeladen worden von Nazigrößen und hofiert worden. Und dieser Gustav Kilian hat dann nach 45 nicht nur seine eigene Radsportkarriere fortgesetzt, sondern ist dann auch Bundestrainer geworden."

Kooperation des Autors mit Bund Deutscher Radfahrer nicht zustandegekommen

Vaupel leistet in seinem Buch Aufklärungsarbeit. Er stellt auch die Frage, wieso der organisierte Radsport bis heute nicht auf seine eigene Geschichte eingegangen ist. Er habe sich um eine Kooperation mit dem Bund Deutscher Radfahrer bemüht, diese sei aber nicht zustande gekommen. Immerhin: Beim BDR schreibt Generalsekretär Martin Wolf nun auf Deutschlandfunk-Anfrage:
„Wir schätzen ausdrücklich das Erscheinen des Buches von Dr. Vaupel über „Radsport im Nationalsozialismus“ und wir werden es auch einsetzen in unserer Bildungsarbeit; wir werden auch auf das Buch aufmerksam machen und es bei geeigneten Gelegenheiten (wie Jubiläen von Vereinen oder Ehrungen) als geeignetes Geschenk ansehen.“
Der Radsportler und Politologe Vaupel bleibt jedoch verwundert darüber, wie gering das Interesse im organisierten Radsport an der eigenen Nazi-Historie bleibt:
„Denn gerade in der heutigen Zeit ist es ja wichtig, aus der Geschichte nach vorn zu gucken und zu gucken Was ist da eigentlich passiert? Was ist mit Gegnern aus dem Radsport während der Zeit des Nationalsozialismus gewesen? Warum hat sich der Radsport so intensiv angepasst und was können wir daraus lernen für die Zukunft?“