Freitag, 10. Mai 2024

Sozialer Wandel
Warum der Sport die Gesellschaft nicht kitten kann

Der Zusammenhalt in der Gesellschaft geht immer mehr verloren. Sport-Großereignisse könnten die Gräben kitten, sagte Sozialwissenschaftler Henk Meier im Dlf. Allerdings nur kurzfristig. Langfristig habe der Sport "wenig alltagstaugliche Wirkung".

Henk Meier im Gespräch mit Matthias Friebe | 27.04.2024
Public Viewing in Berlin während der WM 2006.
Die WM 2006 habe Deutschland ein neues Selbstbild gegeben, sagte Sozialwissenschaftler Henk Meier im Dlf. (IMAGO / Schupfner)
Die Gesellschaft befindet sich im Wandel. Fronten verhärten sich, es wird immer individueller, Gemeinschaft geht verloren. Kann der Sport hier helfen und die Risse in der Gesellschaft kitten?
"Da wäre ich sehr skeptisch", sagte Henk Meier im Deutschlandfunk. "Ich glaube, dass diese dynamischen Veränderungen, die die Gesellschaft als Ganzes betreffen, auch den Sport erreichen. Auch der Sport wird sich verändern und ob er den fehlenden Zusammenhalt in anderen sozialen Bereichen kompensieren kann, wage ich zu bezweifeln."

Effekte des Sports nur kurzfristig

Meier ist Professor für Sozialwissenschaften des Sports an der Universität Münster und forscht unter anderem zu den Themen Sportpolitik und Sportsoziologie. Zwar schaffe der Sport es nach wie vor, Zuschauermassen anzuziehen und Menschen zusammenzubringen, allerdings nur selektiv und über einen kurzen Zeitraum. "Und ansonsten, glaube ich, geht davon wenig alltagstaugliche Wirkung aus", sagte er.
Dass Sport und Bewegung gut sind, vereint derweil Generationen und auch Kulturen. Der Ort dafür war früher der Sportverein. Doch auch dieses Modell hat sich laut Meier verändert: "Viele Menschen sind informell aktiv, betreiben anderen Bewegungsaktivitäten als im klassischen Wettkampf- oder Leistungssport. Es gibt ein stärkeres Bewusstsein für die Bedeutung von Aktivität und Bewegung. Aber das sucht sich ganz andere organisatorische Formen und Ausdrucksweisen." Das sei in Großstädten noch einmal deutlich ausgeprägter als auf dem Land, sagte Meier.

WM 2006 hat Deutschland "neue Selbstgewissheit" gebracht

Trotzdem kann der Sport eine verbindende Wirkung entfalten. Ein Beispiel sei das Sommermärchen 2006, sagte Meier. "Da haben sich die Deutschen eine schöne Geschichte über sich selbst erzählen können, als weltoffenes, tolerantes Land, das andere gern aufnimmt, sie gut unterhält, wo aggressive Fremdenfeindlichkeit auffällt und insgesamt auch viel lockerer ist, als man sich das vorstellt. Und gleichzeitig so ein Großereignis effizient organisieren kann." Die WM 2006 habe uns eine "neue Selbstgewissheit gebracht".
Zwar sei die Erinnerung daran mittlerweile verklärt, jedoch könne sie eine Basis sein für "eine positive Geschichte über die eigene Nation, über das eigene Land und den Zusammenhalt".

EM 2024 als gesellschaftlicher Neuanfang?

Dieses Gefühl möchte der Deutsche Fußball-Bund mit der Heim-Europameisterschaft im Sommer reproduzieren. Die Verantwortlichen träumen laut eigener Aussage von einem Neuanfang für die gesamte Gesellschaft durch das Turnier. Allerdings sind die Gräben in der Gesellschaft heute deutlich tiefer als noch 2006. "Das lässt sich nicht wegdiskutieren", sagte Meier. "In den letzten Jahren ist der Fußball auch selbst zum Objekt polarisierender Debatten geworden. Das heißt, allein die Hoffnung darauf zu setzen, dass die Euro 2024 einen gesellschaftlichen Neuanfang ermöglicht, ist aus meiner Sicht naiv."

Sportmetaphern nur ein "oberflächlicher, kommunikativer Trick"

Was aber kulturelle und sprachliche Barrieren brechen kann, ist Sportsprache. So sprach unter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz in einer seiner Reden von "You'll never walk alone" und wollte damit sagen: Die Regierung steht an der Seite der Menschen. "Es gibt schon seit 20 Jahren die Einsicht, dass Politiker gerne zu Sportmetaphern greifen, um Volksnähe zu symbolisieren", sagte Meier. "Aber sportliche Metaphern verdecken auch die triste politische Realität. Und ich glaube, man kann Menschen mit diesen Metaphern nur eine Weile einfangen. Und da muss man tatsächlich auch politische Ergebnisse liefern."
Sportmetaphern seien laut Meier deshalb nur ein "oberflächlicher, kommunikativer Trick".