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Sportgespräch mit Sebastian Coe
"Jeder Sportler muss wissen: Wer betrügt, wird erwischt"

Sebastian Coe hat den Leichtathletik-Weltverband IAAF 2015 in einer schwierigen Lage übernommen. Im Deutschlandfunk spricht IAAF-Präsident Coe über den Umgang mit Doping und Korruption, über die Rolle Katars im Weltsport sowie den strikten Umgang der IAAF mit dem russischen Verband.

17.02.2019
    IAAF-Präsident Sebastian Coe
    IAAF-Präsident Sebastian Coe (imago sportfotodienst)
    Sebastian Coe war im Deutschen Bundestag im Sportausschuss eingeladen. Am Rande seines Besuchs in Berlin traf der IAAF-Präsident Deutschlandfunk-Mitarbeiter Robert Kempe zum Gespräch.
    Robert Kempe: Sie sind hier, weil sie vom Sportausschuss des Bundestags eingeladen wurden, um über Good Governance und Compliance im Sport zu sprechen. Wenn wir in die Vergangenheit der IAAF schauen, gibt es eine Menge Probleme im Verband, was Doping und Korruption betrifft. Warum sind Sie ihrer Meinung nach derzeit ein vertrauenswürdiger Vertreter, um über diese Angelegenheiten zu sprechen?
    Sebastian Coe: Das ist keine einzigartige Anfrage. Ich habe vor Parlamenten in der ganzen Welt gesprochen, bei australischen Sportverbänden, europäischen Sportverbänden, auch britischen Sportverbänden, und ich sehe das als eine außerordentliche Anerkennung. Ja, zu Beginn meiner Präsidentschaft waren wir mit großen Herausforderungen konfrontiert. Sie waren der Anstoß für umfassende Veränderungen und wir sagen nicht, dass wir alles erreicht hätten, was wir wollen.
    Aber ich denke, unser Sport ist in Sachen Governance nicht wiederzuerkennen, wenn wir es mit dem Status quo von vor zwei oder drei Jahren vergleichen. Wir haben unsere Satzung umgeschrieben, 200 Änderungen, die die Grundlage für die Sicherheit gelegt haben, was die Aufgabenverteilung in unserer Zentrale betrifft. Unter anderem wurde die Macht des Präsidenten neu definiert. Das war sehr wichtig. Mit der Athletics Integrity Unit, der Integritätskommission, haben wir eine unabhängige Organisation geschaffen, die jetzt unsere Anti-Doping-Prozesse führt. Sie beobachtet nicht nur Doping, sondern auch Altersmanipulationen, den Nationenwechsel, alle Herausforderungen, vor denen der globale Sport steht. Wir haben eine unglaubliche Geschichte und ich bin immer froh, wenn ich die Gelegenheit habe, zu erzählen, wie diese Reformen vonstatten gingen, von unserer Reise zu berichten, und den Bereichen, die wir noch angehen müssen.
    Sebastian Coe im Sportausschuss-Vorsitzenden des Bundestags, Dagmar Freitag (M.) und der IAAF-Kommunikationsdirektorin Jackie Brock-Doyle
    Sebastian Coe im Sportausschuss-Vorsitzenden des Bundestags, Dagmar Freitag (M.) und der IAAF-Kommunikationsdirektorin Jackie Brock-Doyle (Deutschlandradio/Robert Kempe)
    Sebastian Coe ist der Präsident des Leichtatheltik-Weltverbands IAAF. 2015 wurde der 62 Jahre alte Brite in das Amt gewählt, zu einem Zeitpunkt, als der Verband in einer großen Krise steckte. Damals kam heraus, dass der IAAF an der systematischen Vertuschung positiver Dopingtests beteiligt war. Als Hauptverantwortlicher galt Coes Vorgänger im Amt des IAAF-Präsidenten, Lamine Diack.
    "Den Sport für junge Leute relevant machen"
    Kempe: Als Sie Präsident wurden, lag die IAAF am Boden. Wir alle wissen, wie schwierig Reformen in der Welt des Sports sein können. Wie schwierig war es für Sie persönlich, diese Reformen zu initiieren?
    Coe: Das ist eine sehr gute Frage. Bevor ich Präsident wurde, hatte ich eine sehr klare Vorstellung davon, dass der Sport sich verändern muss, und dass wir feste und solide Grundlagen dafür legen müssen. Weil ohne sie wird man nicht in der Lage sein, alle anderen Dinge zu tun, die man im Sport machen muss – um ihn zugänglicher für junge Leute zu machen, um einen unermüdlichen Fokus auf Innovation und Formate zu haben. Und all die Arbeit, die wir jetzt in die Diamond League stecken, könnten wir nicht machen, wenn wir keine solide Grundlage hätten.
    Ein Haus braucht aber auch tragende Wände, die einem erlauben, alle Dinge zu tun, die man umsetzen möchte. Und für mich basierten die Reformen auf drei Schlüsselfragen. Die erste war: Wie trifft unser Sport Entscheidungen, die eindeutig und transparent sind und von allen innerhalb des Ökosystems unseres Sports verstanden werden? Die zweite Frage war: Wen möchten wir in unserem Sport? Und das war eine entscheidende Frage. Sie führte dazu, dass wir eine Überprüfungskommission eingerichtet haben. Ein Beispiel: Dieses Jahr haben wir in Doha, direkt vor den Weltmeisterschaften, auf unserem Kongress Wahlen. Jeder, der sich dort aufstellt, wird einer Überprüfung unterzogen - der Präsident eingeschlossen. Es war sehr wichtig für mich, diese beiden Fragen zu beantworten. Ich denke, wir haben es zu großen Teilen erledigt, aber es gibt noch einiges zu tun.
    Das erlaubt es uns dann, die dritte Frage zu stellen. Sie lautet: Wie entwickeln wir unseren Sport? Wie macht man ihn spannend, relevant und interessant für junge Leute? Wir müssen alte Gewohnheiten ablegen. Im Sport denkt man viel zu häufig, dass die Konkurrenz aus anderen Sportarten kommt. Und wir sitzen da und fragen uns, was machen Schwimmen, Gymnastik oder Fußball? Aber das ist nicht unsere Konkurrenz! Unsere Konkurrenz sind all die anderen Dinge, die jetzt in den Leben der jungen Leute relevant sind.
    Mein Sohn kam mit mir zu der großartigen Leichtathletik-Europameisterschaft hier in Berlin vor ein paar Monaten. Er schaute sich die Sport-Wettkämpfe an und danach ging er ins Kino, in Clubs oder ins Theater. Wir leben in einer Welt, in der wir als Sportler akzeptieren müssen, dass wir nicht ausschließlich im Sport Konkurrenz haben. Wir stehen im Wettbewerb mit allen anderen Dingen. Und das muss der Ausgangspunkt sein: Was machen wir in unserem Sport, damit er für junge Menschen wichtig wird, wenn es doch so viele andere Dinge gibt, die ihre Aufmerksamkeit erregen?
    "Ich will wissen: Was geht im Leben der jungen Athleten vor?"
    Kempe: Aber Fortschritt und Veränderungen funktioniert ja nur dadurch, dass man im eigenen Haus aufräumt und klar mit der Vergangenheit umgeht. Alles fing mit dem russischen Doping-Skandal in ihrem Verband an. Sie haben als einziger Verband immer noch eine strikte Haltung. Was ist der aktuelle Stand?
    Coe: Das war sehr wichtig für unseren Verband. Und wir wollen sicher nichts schönfärben. In vier Jahren hatten wir in der russischen Leichtathletik ungefähr 140 positive Tests. Dem musste man sich annehmen. Und es war ein enormer Ansporn für die unabhängige Integritätskommission. Unsere Arbeit, vor allem in Bereich Anti-Doping, war wirklich bedeutend.
    Die Herausforderung, die bestehen bleibt, ist nicht nur die Frage, wie die Regeln aussehen, welche Disziplinarmaßnahmen und mögliche Sanktionen es gibt. Man muss auch die Kultur verändern. Und das ist nicht nur ein russisches Problem. Wir brauchen eine Generation von Trainern, wo auch immer sie arbeiten, die daran glauben, dass es durch intelligentes Coaching möglich ist, einen Athleten von der Straße oder dem Sportplatz im Alter von elf Jahren zu holen und ihn mit 21, 22 in ein Olympisches Stadion zu führen. Das muss mit Integrität geschehen.
    Und das ist möglich, weil wir großartige Vorbilder in der Vergangenheit haben, die genau das gemacht haben. Aber wir müssen sicherstellen, dass außerdem die Sanktionen, die Tests und die Blutpässe, die Technologie, die wir heute haben, funktionieren. Jeder Sportler muss wissen: Wer betrügt, wird erwischt. Und das nehmen wir sehr ernst. Aber wir müssen auch die Erziehungsprogramme anerkennen. Wir haben eine Wertekommission innerhalb der IAAF. Wieso? Weil ich wissen will, was in den Leben der jungen Athleten vor sich geht, wenn sie eine falsche Entscheidung getroffen haben. Was sind die externen Einflüsse? Sind es die Trainer? Die Familie? Agenten? Ist es ein Verband, der ein Auge zudrückt bei manchen Gelegenheiten, wenn es zu Auswüchsen kommt, zu schlechten Einflüssen auf diese Athleten? Daher betrachte ich es als Ganzes. Ich sehe es einerseits als kulturelles Thema, andererseits müssen wir die Betrüger loswerden.
    Wir müssen eine Umgebung schaffen, die sicher ist für junge Sportler. Da gibt es einen weiteren wichtigen Faktor: Als Eltern oder Großeltern oder Menschen, die sich um junge Leute kümmern, sorgen wir uns vor allem um eine Sache: Dass unsere Kinder sich nicht in einer kriminellen Umgebung aufhalten. Eltern haben einen großen Einfluss auf die sportliche Karriere ihrer Kinder. Sie sollen wissen, dass wir ein Sport sind, der das Wohlergehen seiner Athleten sehr wichtig nimmt. Ob es um körperliche Sicherheit geht, um ausbeuterische Milieus, um Anti-Doping... Da müssen die die Richtlinien geben.
    "Alles tun, um saubere Athleten vom verdorbenen System zu trennen"
    Russlands Anti-Doping-Agentur Rusada.
    Russlands Anti-Doping-Agentur Rusada. (picture alliance / Anton Denisov / Sputnik / dpa)
    Kempe: Ich würde gerne noch einmal auf die Frage nach dem Russischen Verband zurückkommen. Die RUSADA, die russische Anti-Doping-Agentur, wurde von der WADA anerkannt. Wenn man andere internationale Verbände sieht, bekommt man das Gefühl, dass für die das Problem vorbei ist. Die IAAF geht damit anders um. Wieso ist ihr Verband immer noch so streng?
    Coe: Ich habe das, was wir als Verband oder ich als Verbandspräsident getan haben, niemals an dem gemessen, was andere Verbände tun. Das ist deren Angelegenheit. Ich denke, der Prozess, den wir mit der unabhängigen Taskforce begonnen haben, ist sehr bedeutsam. Und wir haben fünf Kriterien herausgearbeitet. Diese Kriterien wurden nicht nur in den Raum gestellt und gesagt, ihr könnt sie umsetzen oder es lassen. Sie wurden sogar mit dem damaligen russischen Verband vereinbart. Wichtig ist, dass die Taskforce dem IAAF-Council berichterstattet hat und das Council die Empfehlungen jedes Mal akzeptiert hat.
    Ich glaube, es gibt noch einen weiteren Punkt, der oft übersehen wird. Russische Sportler nehmen ja noch immer an Wettkämpfen teil. Wir haben eine Möglichkeit gefunden, eine meiner wichtigsten Philosophien zu erfüllen. Und das ist, alles zu tun, um die sauberen Athleten vom verdorbenen System zu trennen. Deshalb haben wir die ANA geschaffen, die Athleten unter neutraler Flagge. 70 dieser Athleten sind im vergangenen Jahr angetreten und ich gehe davon aus, dass viele von ihnen in diesem Jahr wieder antreten. Sie werden individuell überprüft und sie dürfen starten, weil wir überzeugt sind, dass sie sauber sind, dass sie richtig handeln und dass wir die Ambitionen anderer sauberer Athleten weltweit nicht gefährden. Deshalb haben wir getan, was wir getan haben und zwar auf eine klare und transparente Weise.
    Jedes Mal, wenn die Taskforce einen Bericht abgegeben hat, erscheint der innerhalb von Minuten auf der Internetseite. Wenn man alle Details betrachtet, hat dieses System uns viel gebracht. Ich sehe keinen Grund, wieso wir davon abweichen sollten. Der Prozess, in dem sich die Welt-Anti-Doping-Agentur jetzt befindet, in dem sie sich durch alle Informationen durcharbeitet, die ihr jetzt zur Verfügung stehen, die Daten und letztlich auch die Proben, die im Juni bei ihnen sein müssen, sind von großem Interesse für uns. Und wir müssen sichergehen, dass diese Informationen echt sind und dass die Welt-Anti-Doping-Agentur zufrieden ist. Wenn es irgendetwas gibt, dass für uns von Interesse ist im Bezug auf unseren Sport, dann haben wir die unabhängige Integritätskommission, die sich das näher anschauen kann. An diesem Prozess sollten wir festhalten.
    Kempe: Doping ist allerdings kein rein russisches Problem. Sie haben über Ihre unabhängige Integritätskommission gesprochen. In ihrem ersten Jahr hat sie118 Fälle bearbeitet.
    Coe: Ein weiteres wichtiges Prinzip von Transparenz ist die Nachvollziehbarkeit. Wie haben den Schutzmantel der Heimlichkeit entfernt. Die Fälle sind auf unserer Webseite. Im ersten Jahr der unabhängigen Integritätskommission bis April vergangenen Jahres wurden 10.000 Proben genommen. 6.000 von ihnen waren außerhalb von Wettkämpfen, 4.000 waren in Wettkämpfen innerhalb unserer 150 akkreditierten IAAF-Veranstaltungen. Man weiß, welche Fälle offen sind, man weiß, welche Fälle sie untersuchen. Es ist sehr wichtig, dass Transparenz da ist, und dass die unabhängige Integritätskommission ihre Arbeit fortführen kann, ohne dass sich die Politik einmischt.
    "Leichtathletik ist keine Insel der Glückseligen"
    Kempe: Wie bewerten Sie das Doping-Problem in der Leichtathletik im Allgemeinen?
    Coe: Ich denke, es wird besser. Ich werde jetzt nicht behaupten, dass wir uns auf der Insel der Glückseligen sind, das sind wir nicht. Wir müssen noch viel erreichen, aber unsere Technologie ist besser denn je. Die Systeme sind sicherer als zu meiner aktiven Zeit oder vor zehn Jahren. Wir haben eine Technologie, die uns früher nicht zur Verfügung stand. Und die Nachricht an die Athleten muss deutlich sein: Wenn man sich entscheidet, die Regeln und den Verhaltenskodex unseres Sports zu ignorieren, vor allem was den Bereich Anti-Doping betrifft, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man erwischt wird.
    Kempe: Sind Sie zufrieden, wenn Sie andere Verbände sehen, wie die mit dem russischen Fall umgehen...?
    Coe: Es liegt nicht an mir, das zu beurteilen. Es ist deren Angelegenheit. Jeder Verband hat verschiedene Herausforderungen, jeder Verband hat eine andere Geschichte. Wir haben getan, was wir getan haben, weil wir davon überzeugt waren, dass es im Interesse des Sports ist. Wir haben unseren eigenen Ansatz aber nie daran gemessen, was andere Verbände in bestimmten Situationen getan oder nicht getan haben. Da sind andere Leute gefragt.
    Kempe: Eine Organisation, die mit Russland etwas anders umgegangen ist als ihr Verband, war das IOC. Herr Coe, Sie waren Chef-Organisator der Olympischen Spiele in London 2012. Sie sind Vorsitzender des Britischen Olympischen Komitees und Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes. Aber Sie sind kein IOC-Mitglied. Wie kommt das, sie waren ja ein guter Freund von IOC-Präsident Thomas Bach...
    Coe: Nein nein, das beunruhigt mich nicht. Schauen Sie, ich bin ein Bewunderer der Olympischen Bewegung. Alles, was ich seit dem Alter von elf Jahren getan habe, war im Prinzip Teil des Olympischen Sports, ob das Bewerbungen um Spiele waren oder ich über Spiele geschrieben habe oder ein Organisationskomitee geleitet haben. Und ich bin Präsident des Olympischen Sports Nummer 1. Ich bin beim Olympic Summit dabei, ich bin im Rat der Olympischen Sommersportverbände ASOIF, und ich bin Ratsmitglied im Zusammenschluss aller Nationalen Olympischen Komitees. Ich vertrete meinen Sport also in allen unterschiedlichen Foren, die für den Sport wichtig sind. Also ist das nicht wirklich ein Thema für mich.
    Kempe: Aber all Ihre Vorgänger waren IOC-Mitglieder. Ist es nicht seltsam, dass Sie keins sind?
    Coe: Darüber grüble ich nicht nach. Ich habe einen gewaltigen Berg an Arbeit. Und ich wiederhole: Überall, wo mein Sport Repräsentation benötigt, bin ich da, um ihn zu vertreten – in jeder Steuerungsstruktur innerhalb der internationalen Sportlandschaft.
    "Katar? Sport kann Probleme beleuchten, um die Politiker herumschleichen"
    Sebastian Coe bei einer Pressekonferenz zur Leichtathletik-WM 2019 in Doha/Katar
    Sebastian Coe bei einer Pressekonferenz zur Leichtathletik-WM 2019 in Doha/Katar (imago sportfotodienst)
    Kempe: Im Herbst dieses Jahres werden die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Doha stattfinden.
    Coe: Ja.
    Kempe: Katar ist ein schwieriges Thema zurzeit. Es ist ein Land, das viel Geld in den Sport investiert. Menschenrechtsorganisationen weisen daraufhin, dass diese Sportveranstaltungen als Ablenkungsmanöver dienen von den wahren Problemen im Land. Zum Beispiel wenn es um die Rechte von Arbeitnehmern geht. Ist es Ihrer Meinung nach eine gute Idee, dass der Weltsport mit Großereignissen dorthin geht?
    Coe: Katar investiert eine Menge in den Sport. Das Land richtet internationale Sportereignisse aus, seit ich mich erinnern kann. Und es übernimmt eine Führungsrolle in dieser Region der Welt. Ich glaube, das erste internationale Großereignis fand dort in den frühen Neunzigern statt. Wir hatten eine Hallen-Weltmeisterschaft dort und Katar hat eine Menge in die internationale Leichtathletik investiert, sowohl in die Forschung als auch in die Praxis.
    Aber was Sie allgemein ansprechen ist natürlich wichtig und wir sollten politische Situationen und Umstände weltweit nicht ignorieren. Ein Sport, der 213, 214 Mitgliedsverbände hat, ist unweigerlich ein weltweiter Sport. Und es wird immer politische Situationen und Krisen geben. Ich war immer ein Verfechter der These, dass Sport eine Antriebskraft für sozialen und politischen Wandel ist. Sport kann Probleme beleuchten, um die Politiker herumschleichen, weil sie Zwänge oder eine andere Agenda haben. Sie wollen keine Handelsbeziehungen verlieren. Sie wollen viele Dinge nicht verlieren. Wir können das machen. Und der Sport hat es beständig getan und ich könnte Ihnen eine Menge Beispiele nennen, wie Sport die soziale und politische Agenda beeinflusst hat, auf eine Weise, die normale Politiker nicht erreicht haben.
    Natürlich muss es uns interessieren, was in einem Land vorgeht. Wir wollen, dass unsere Stadien und unsere Anlagen in sicheren Umgebungen gebaut werden und wir wollen, dass Themen wie Gesundheit und Sicherheit und Arbeitnehmerrechte angegangen werden. Zu meiner Zeit als Vorsitzender des Organisationskomitees der Spiele in London haben wir sehr eng mit internationalen Arbeiterorganisationen und manchmal sogar Amnesty International zusammengearbeitet. Sport bietet mehr Gelegenheiten, diese Veränderungen herbeizuführen oder aufzuzeigen, wo die Notwendigkeit solcher Veränderungen besteht. Und ich glaube, es ist viel besser, dass sich Sportorganisationen global engagieren, als wenn sie das nicht tun. Ich glaube, es wird sehr gefährlich, wenn man seine sportlichen Beziehungen danach auswählt, wo es gerade politische Krisen gibt. Ich bin sicher, dass viele der Länder, die zu den Olympischen Spielen nach London angereist sind, nur bedingt oder überhaupt nicht einverstanden mit der britischen Außenpolitik waren. Und sie kamen trotzdem und sind zu den Wettkämpfen angetreten. Und der Sport war der Gewinner.
    Kempe: Also haben sie keine Angst, dass Ihr Wettbewerb, die Weltmeisterschaft in Doha, von der Regierung von Katar missbraucht werden könnte?
    Coe: Nein. Wir arbeiten sehr eng mit dem Organisationskomitee zusammen. Unsere Verantwortung ist es, eine großartige Weltmeisterschaft zu veranstalten. Und unsere Verantwortung ist es immer auch, den globalen Fußabdruck unseres Sports zu vergrößern. Es ist das erste Mal, dass die Weltmeisterschaft in dieser Region stattfindet. Wir hatten die Hallen-Meisterschaften dort, aber noch keine Weltmeisterschaft. Und in den letzten 40 Jahren war ich auf einer Menge Kongresse, auf denen davon die Rede war, dass wir den Sport globalisieren müssen. Wir müssen jungen Leuten Möglichkeiten eröffnen. Und man kriegt viel billigen Applaus für Sätze wie diese. Aber man muss es auch erfüllen. Und das bringt manchmal Herausforderungen mit sich. Und wenn man den Sport in Regionen mit Problemen oder Schwierigkeiten bringt, ist das eben eine Herausforderung. Aber Sport löst auf überwältigende Weise Gutes aus. Man kann es in so vielen verschiedenen Fällen sehen. Wir sind kein Allheilmittel. Wir sind keine politische Struktur, aber wir können Veränderungen in höherem Maße erreichen als die meisten anderen Aktivitäten.
    Werbung für die WM 2019 in Doha/Katar während der WM 2017 in London/Großbritannien
    Werbung für die WM 2019 in Doha/Katar während der WM 2017 in London/Großbritannien (imago sportfotodienst)
    Kempe: In den USA ist die Frage, wie Katar die Weltmeisterschaft bekommen hat, eine Sache für die Strafverfolger. Denken Sie, dass der IAAF deshalb Probleme im Vorfeld der Weltmeisterschaft drohen?
    Coe: Bei jeder Weltmeisterschaft oder jedem Vergabeprozess haben wir zum Ausdruck gebracht, dass wir Meisterschaften oder eine Bewerbung natürlich überprüfen würden, wenn wir jemals Anhaltspunkte erhalten, die uns Anlass zur Sorge über die Integrität geben. Ich beantworte diese Frage jetzt vermutlich seit zwei oder drei Jahren. Also: Ja, natürlich nehmen wir das sehr ernst. Aber wir haben noch nichts erhalten, was uns in diesem Moment Anlass zur Sorge bereitet.
    Kempe: Ihr Vorgänger Lamine Diack gilt als eine der Schlüsselfiguren in Sachen Korruption in der Welt des olympischen Sports. Ist ihr Verband auch in Kontakt mit den Strafverfolgern?
    Coe: Nein, unser Verband hat einen Status innerhalb der Anklage, die "partie civile" genannt wird. Wir haben von Anfang an deutlich gesagt, dass wir mit allen Mitteln kooperieren wollen, um diese traurige Episode in unserem Sport zu beschließen, speziell, was den Olympischen Aspekt betrifft, den Sie angesprochen haben. Ich bin aber nicht in einer Position, ein Urteil in die eine oder andere Richtung dazu abzugeben.
    Kempe: Aber sind Sie manchmal schockiert, wenn Sie hören, was da im Moment auf dem Tisch liegt? Sie waren immerhin viele Jahre sein Vizepräsident und kennen ihn sehr gut ...
    Coe: Ich habe keine Einblicke in irgendeine dieser Problematiken, die jetzt offenbar zutage treten, was die Vergabe von Olympischen Spielen betrifft. Wenn es Fragen innerhalb unseres eigenen Sports gibt, die wir ja auch hatten, kümmert sich die Ethikkommission darum. Und es gibt die noch laufenden französischen Ermittlungen. Das ist für uns ein Fall, in dem wir zuschauen und abwarten, während der Prozess seinen Lauf nimmt.
    Sebastian Coe 2015 mit seinem Vorgänger Lamine Diack
    Sebastian Coe 2015 mit seinem Vorgänger Lamine Diack (imago sportfotodienst)
    "Es muss weniger Disziplinen geben"
    Kempe: Mr. Coe, zu Beginn des Interviews haben wir über den Wandel im Sport gesprochen. Können Sie uns einige Beispiele geben: Was sind Ihre Ideen für die Zukunft?
    Coe: Mir ist sehr bewusst, dass sich Zuschauer-Verhalten und -Muster junger Leute verändert haben. Ich sehe es an meinen eigenen Kindern, die inzwischen junge Erwachsene sind. Dass man sich irgendetwas fünf oder sechs Stunden lang an neun oder zehn Tagen anschaut, ist, fürchte ich, ein etwas prähistorisches Konzept.
    Sie wollen Sport schauen. Sie wollen das reine Zuschauen ergänzen mit Informationen, die oft auf Second oder manchmal auf Third Screens sind. Sie wollen die Dinge einordnen, sind oft fasziniert von Wissenschaft und Technologie. Und wir müssen Formate und Wettkampf-Muster schaffen, die ihrer Gedankenwelt gerecht werden. Viele Leute nehmen unseren Sport in Jahren ohne Meisterschaft über die Diamond League wahr. Wir arbeiten gemeinsam mit den Direktoren der Diamond-League-Meetings und den Verbänden, die für die Diamond League zuständig sind, an Veränderungen. Wir müssen uns viel mehr bewusst werden, dass es dabei um ein Unterhaltungspaket geht, das in eineinhalb Stunden oder in eine Stunde und 40 Minuten passen muss. Es muss weniger Disziplinen geben. Diese Disziplinen müssen sorgfältig ausgewählt werden. Wir stecken zum ersten Mal viel Arbeit dort hinein und hören uns an, was unsere Sponsoren dazu zu sagen haben, was die Medien und die Inhaber von Übertragungsrechten sagen, und vor allem die Sportler selbst. Auch die Fans.
    Wir müssen verstehen, was die Menschen sagen und was sie wollen. Dabei dürfen wir uns aber nicht so sehr anpassen, dass wir die grundlegende Philosophie unseres Sports aufgeben. Wir sollten zum Beispiel keine Eintagesmeetings haben, innerhalb derer wir versuchen, eine Weltmeisterschaft in zwei Stunden nachzustellen. Das wird niemals funktionieren. Wir müssen erkennen, dass es ein hart umkämpftes Feld da draußen ist.
    Wir sind im Wettstreit um Platz mit anderen Sportarten und mit anderen Unterhaltungsmöglichkeiten. Wenn wir sagen, unsere Tätigkeit ist der Sport, muss unser Geschäftsmodell die Unterhaltung sein. Und das ist wirklich wichtig. Der zweite entscheidende Aspekt ist, dass diese Formate mehr Geld in die Taschen der Athleten spülen müssen. Und ich schäme mich absolut nicht zu sagen, dass wir den Athleten mehr vom Kuchen abgeben müssen. Wir müssen alles tun, um bessere finanzielle Strukturen für die Sportler zu schaffen, weil sie gottgegebene Talente haben, und, ganz ehrlich, diese Talente werden nicht ausreichend belohnt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.