"Vielfalt in Sportdeutschland akut in Gefahr" – so beschreibt der Deutsche Olympische Sportbund Ende Mai die Lage für Sportvereine. Es drohe ein Existenz-bedrohender Flächenbrand, wird DOSB-Präsident Alfons Hörmann in einer Pressemitteilung zitiert. Der Grund: Die finanziellen Schäden durch die Coronakrise.
Coronaschäden für Vereine: laut DOSB mehr als einer Milliarde Euro
Jeder Verein soll laut DOSB in diesem Jahr durchschnittlich 12.000 Euro weniger einnehmen. Bei bundesweit 90.000 Vereinen mache das eine Summe von mehr als einer Milliarde Euro. Als Hörmann diesen Wert im Bundestags-Sportausschuss präsentiert, zweifelt die Vorsitzende Dagmar Freitag diese Zahl an. Laut mehreren Teilnehmenden erwidert Hörmann: "Beweisen Sie das Gegenteil".
Die SPD-Politikerin bleibt auch drei Wochen später skeptisch. "Für mich ist klar, dass es deutlich zu früh ist, seriöse Schätzungen über die Schadenshöhe im Sport abzugeben", sagt sie. "Und ich finde auch, es ist nicht die Zeit für Weltuntergangsmeldungen."
Mit dieser Einschätzung ist Freitag nicht alleine. Eine Deutschlandfunk-Anfrage bei allen 16 Landessportbünden zeigt: Mindestens die Hälfte ist der Ansicht, dass sich der Schaden noch nicht seriös schätzen lässt. Aber woher stammt dann die Milliarden-Schätzung?
Antworten finden sich auf Seite drei der Tischvorlage, die der DOSB für die Abgeordneten vorbereitet hat. Der DOSB listet dort vier Landessportbünde auf, die trotzdem schon Schäden erhoben haben. Bayern kommt auf 200 Millionen Euro, Baden-Württemberg auf 150, Berlin auf 20 und Sachsen-Anhalt auf 33.
Diese Zahlen sind aber problematisch, meint Christoph Breuer von der Sporthochschule Köln. Im Auftrag des DOSB untersucht er seit Jahren die Vereinsstruktur in Deutschland.
Für größere Vereine mit hauptamtlichem Personal, die viel Geld in eigene Sportstätten investiert haben, sei die aktuelle Situation zwar finanziell riskant. "Insgesamt scheint allerdings fragwürdig, ob die Einnahmeausfälle tatsächlich so groß sind, wie sie in der Öffentlichkeit derzeit durchaus dargestellt werden", so der Sportökonom.
Denn die Werte sind das Ergebnis einer sehr groben Hochrechnung. Die Zahl aus Baden-Württemberg zeigt das am besten: Dort hat der Württembergische Landessportbund WLSB, der nur für einen Teil der Vereine im Bundesland zuständig ist, die Schäden erhoben. Allerdings haben sich nur ein Drittel der Vereine gemeldet. Ihre Schadens-Prognose beträgt durchschnittlich 13.000 Euro.
Der WLSB hat dann diese Zahl genommen und sie mit der Anzahl von allen baden-württembergischen Vereinen multipliziert – heraus kommen 150 Millionen Euro. Die hat der DOSB dann wiederum genutzt, um mit der gleichen groben Methode den Schaden für ganz Deutschland auszurechnen.
Diversität der Sportvereinslandschaft bleibt außen vor
Diese Durchschnittswerte lassen die Diversität der Sportvereinslandschaft komplett außen vor. Einige große Vereine treiben den Wert mit sechsstelligen Einnahmeausfällen nach oben – viele kleinere Vereine verlieren hingegen deutlich weniger Geld, so Christoph Breuer. Er kritisiert auch, dass die Zahlen durch die Art der Stichprobe verzerrt werden. "Eine Beteiligung an einer entsprechenden Umfrage ist besonders für jene Vereine interessant, denen tatsächlich der Schuh drückt und die Probleme haben aufgrund der Corona-Krise", erklärt der Wissenschaftler.
"Umgekehrt heißt das, dass die Vereine, die keine Probleme haben, sich weniger stark beteiligen. Und dies führt dann dazu, dass man sehr schnell ein verzerrtes Bild der Realität produziert, weil man überproportional viele Vereine in einer Stichprobe hat, denen der Schuh drückt."
Breuer glaubt daher, dass der tatsächliche Schaden geringer ausfällt. Zumal oft nur abgefragt werde, welche Einnahmen die Vereine verlieren – ohne die ebenfalls gesunkenen Ausgaben gegenzurechnen. Ein Teil der Sportvereine könnte kurzfristig sogar finanziell profitieren, meint Breuer: "Sie haben viel mehr Geld zur Verfügung als sonst, weil die Einnahmequellen, beispielsweise Mitgliedsbeiträge, nicht wegbrechen oder nur geringfügig geringer ausgeprägt sind, sie aber deutliche Einsparungen bei den Ausgaben haben, weil ihre Angebote eben nicht stattfinden können.
Wie sich die Coronakrise auf die Finanzen auswirkt, das hätte sein Team anhand der vielen Daten, die es im Laufe der Jahre gesammelt hat, für den DOSB simulieren können, sagt der Sportökonom. Aber: "Wir haben dies bislang nicht getan, weil keine Anfrage seitens einer Sportorganisation gekommen ist. Aber ich gehe stark davon aus, dass der Wert, den wir ermitteln würden, doch einiges darunter liegt. Und vielleicht liegt darin auch der Grund, warum man uns nicht angefragt hat."
DOSB: "Halten an unserer groben Schätzung fest"
Der DOSB bestätigt, dass Breuers Expertise nicht herangezogen wurde, sondern dass man die Erhebungen der Landessportbünde genutzt habe. Und trotz der diversen Kritikpunkte: Man sehe immer noch, dass der Sport stark eingeschränkt sei, sagt Christian Sachs, Leiter des DOSB-Hauptstadtbüros. "Dementsprechend halten wir auch an unserer groben Schätzung fest, dass die finanziellen Schäden massiv sein werden und über eine Milliarde am Ende betragen."
Klingt selbstbewusst – von einer "groben Schätzung" war in der ersten dramatisch klingenden Pressemitteilung des DOSB allerdings nie die Rede. Der Dachverband könnte also selbst erkannt haben, dass er mit den Zahlen eher locker umgegangen ist.
Zumal der DOSB nun schreibt, dass diese Schätzung ausdrücklich nicht als Forderung an die Abgeordneten zu verstehen gewesen sei – und das, obwohl der DOSB in der Tischvorlage sehr wohl fordert, "existierende und geplante Corona-Hilfen für den Sport weiter zu öffnen".
Deloitte-Erhebung fragte verschiedene Szenarien ab
Und noch etwas ist bemerkenswert: Die meisten Sportpolitikerinnen und -politiker in Berlin scheinen zu glauben, die Milliarden-Schätzung basiere auf einer Erhebung durch den Wirtschaftsprüfer Deloitte.
Wie beschrieben, stimmt das nicht. Deloitte hat zwar im Auftrag des DOSB Coronaschäden erhoben, allerdings nur bei den DOSB-Mitgliederorganisationen wie Fachverbänden oder Landessportbünden. Weil Deloitte verschiedene Szenarien abgefragt, fällt die Auswertung dementsprechend ausführlich aus. Diese Studie präsentiert DOSB-Präsident Hörmann den Abgeordneten in der gleichen Sitzung, in der er auch seine Milliarden-Schätzung verkündet.
Ob das ein kommunikativer Trick von Hörmann war, um der DOSB-Schätzung einen wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen, oder ob die Abgeordneten ihm nicht richtig zugehört haben, lässt sich nicht nachvollziehen – denn selbst wenn über Milliarden-Beträge gesprochen wird: Die Sitzungen des Sportausschusses sind nicht öffentlich.