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Staatsrechtler kritisiert flächendeckende Überwachung der Linken

Eine flächendeckende Überwachung ohne konkrete Anhaltspunkte hält Christoph Degenhardt, Staatsrechtler und Richter des sächsischen Verfassungsgerichtshofs, für nicht gerechtfertigt. Es müsse untersucht werden, ob ein Einzelfall Anlass geben darf, in solchem Umfang zu untersuchen. Eine Klage hält er für nicht aussichtslos.

Christoph Degenhardt im Gespräch mit Friedbert Meurer |
    Friedbert Meurer: Für die Partei Die Linke ist es ein ungeheuerlicher Vorgang. Das Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet 27 Bundestagsabgeordnete der Linken und auch eine Reihe von Landtagsabgeordneten. Im Visier der Schlapphüte steht immerhin die komplette Führungsspitze der Partei: Gregor Gysi etwa, Dietmar Bartsch, Sahra Wagenknecht. Selbst über die stellvertretende Präsidentin des Deutschen Bundestages, Petra Pau, ist eine Akte beim Bundesamt für Verfassungsschutz angelegt. Der Verfassungsschutz beteuert allerdings, die genannten Politiker werden nicht überwacht, sondern – und das sei ein Unterschied – nur ihre öffentlichen Äußerungen festgehalten, also Reden etwa oder Interviews.

    Die Linke protestiert also vehement gegen ihre Beobachtung durch den Verfassungsschutz. – Christoph Degenhart ist Staatsrechtsprofessor an der Universität Leipzig und auch seit letztem Jahr Richter am sächsischen Verfassungsgerichtshof. Guten Tag, Herr Degenhart.

    Christoph Degenhart: Ja, guten Tag.

    Meurer: Ist das alles rechtens, wie das Bundesinnenministerium sagt?

    Degenhart: Ich denke, ganz so einfach, wie das Bundesministerium des Inneren das sagt, ist es nicht. Herr Niebel, den Sie gerade zitiert haben, hat wohl einen maßgeblichen Gesichtspunkt angesprochen, nämlich den der flächendeckenden Überwachung. Wir haben die bekannte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2010, wo die Beobachtung einzelner Abgeordneter für zulässig erklärt worden war, und selbst diese Entscheidung hat in der Fachwelt erhebliche Kritik erfahren. Daraus einen Blankoscheck für eine flächendeckende Überwachung einer Partei abzuleiten, insbesondere des gesamten politischen Führungspersonals und etwa auch von Abgeordneten, die selbst im Kontrollgremium sitzen für die Geheimdienste, das scheint mir also nicht gerechtfertigt.

    Meurer: Würden Sie dann sagen, Herr Degenhart, Die Linke oder Abgeordnete der Linken haben gute Chancen, in Karlsruhe beim Verfassungsgericht Erfolg zu haben?

    Degenhart: Nun, Sie wissen, auch vor dem Bundesverfassungsgericht gilt, dass man dort ebenso wie auf hoher See in Gottes Hand ist. Aber ich sehe eine Klage sicher nicht als aussichtslos, eben deshalb, weil die Beobachtung hier eine andere Qualität erreicht hat, und es ist ja immerhin ein gewisser Widerspruch, wenn einerseits das Parlament die Exekutive kontrollieren soll, andererseits Teile der Exekutive wiederum das Parlament kontrollieren wollen. Wie gesagt, einzelne Abgeordnete zu beobachten mit Mitteln der offenen Information, ist sicher möglich, aber eine flächendeckende Überwachung, ohne dass bezüglich der Überwachten konkrete Anhaltspunkte vorliegen, halte ich für nicht gesichert.

    Meurer: Ist eine flächendeckende Überwachung zum Beispiel von NPD-Abgeordneten in ostdeutschen Landtagen legal?

    Degenhart: Hier kommt es dann darauf an, ob hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Vertreter der entsprechenden Partei sich mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen hier identifizieren. Es gelten hier selbstverständlich die gleichen verfassungsrechtlichen Maßstäbe. Ob allerdings, sagen wir mal, die verfassungsfeindlichen Bestrebungen innerhalb der Partei, bei der Linken und bei der NPD, die gleichen sind, ist die andere Frage. Es kommt darauf an, ob, sagen wir mal, gewisse verfassungsfeindliche Teilgruppen einer Partei diese Partei beherrschen, oder eben nicht, und das kann man wohl bei beiden Parteien unterschiedlich beurteilen.

    Meurer: Der Verfassungsschutz, das Innenministerium rechtfertigt sich, wir müssen die Strukturen der Partei untersuchen, wir müssen schauen, welche Verbindungen es zwischen Parteispitze und bestimmten Unterorganisationen oder radikalen Kräften in einer Partei gibt. Wenn dann das Ergebnis lautet, wir müssen 27 Leute auf die Liste setzen, das geht trotzdem nicht?

    Degenhart: Das sehe ich problematisch. Wie gesagt, Sie sprechen das Argument an, mit dem auch das Bundesverwaltungsgericht seinerseits 2010 die Beobachtung gerechtfertigt hat. Da ging es auch um einige radikale Unterorganisationen in der Partei und es wurde gesagt, man muss eben in der Tat die Parteistrukturen deshalb beobachten. Aber es ist doch immer eine Frage der Verhältnismäßigkeit in diesem Fall.

    Meurer: Ist die Verhältnismäßigkeit gewahrt Ihrer Ansicht nach, Herr Degenhart, wenn ein Einzelfall untersucht wird?

    Degenhart: Wenn ein Einzelfall untersucht wird, das ist wohl zulässig, ja. Der gänzliche Verzicht auf Beobachtung ist sicher nicht geboten. Die Frage ist, ob der Einzelfall Anlass geben darf, eben in so erheblichem Umfang zu untersuchen.

    Meurer: Eine andere Verteidigungslinie des Verfassungsschutzes lautet, wir überwachen ja nicht mit nachrichtendienstlichen Mitteln, wir gehen nicht hin, dringen in Abgeordnetenbüros ein und bringen dort Wanzen an, sondern wir lesen ja einfach nur ihre Reden und Interviews und fassen das zusammen. Macht das einen entscheidenden Unterschied aus?

    Degenhart: Das, was Sie ansprechen, ist das, was im Jargon "offene Informationsbeschaffung" heißt. Aber auch die offene Informationsbeschaffung ist natürlich schon ein Eingriff beispielsweise in das freie Mandat und in die politische Betätigung der Partei. Richtig ist allerdings, dass die verdeckte Ermittlung natürlich einen deutlich intensiveren Eingriff darstellt. Aber auch die offene Informationsbeschaffung ist nicht etwa rechtlich irrelevant, sondern bedeutet schon einen rechtlichen Eingriff.

    Meurer: Wieso greift sie in das freie Mandat ein, die offene Informationsbeschaffung?

    Degenhart: Um ein Beispiel zu nennen: Die Tatsache einer Beobachtung eines Bürgers – und für den Abgeordneten kann man es ähnlich sagen -, allein die Tatsache, dass sie beobachtet werden, kann Ursache dafür sein, dass sie in ihrem Verhalten sich nicht gleichermaßen frei fühlen wie anderweitig.
    Um vielleicht ein anderes Beispiel zu bringen: Auch wenn etwa die Polizei völlig offen und unverdeckt eine Versammlung beobachtet, ist alleine die Tatsache der Anwesenheit und der Beobachtung schon ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit.

    Meurer: Wie paradox wird der Fall, wenn man liest, dass der Linke-Abgeordnete Steffen Bockhahn beobachtet wird vom Verfassungsschutz und umgekehrt sitzt er in einem Vertrauensgremium des Haushaltsausschusses im Bundestag, das wiederum den Verfassungsschutz kontrolliert?

    Degenhart: Das ist eine gewisse Paradoxie, da haben Sie vollkommen recht. Ich weiß jetzt nicht, ob dieser Abgeordnete persönlich in irgendeiner Weise Anlass dafür gegeben hat, ihn zu beobachten. Wenn das allerdings der Fall wäre, dann wäre es zunächst Aufgabe des Bundestages und des entsprechenden Gremiums, eben ihn nicht in dieses Kontrollgremium aufzunehmen, und da gibt es ja auch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die ist schon einige Jahre oder Jahrzehnte zurück. Das stammt aus der Anfangszeit der Grün-Alternativen, als man die für ein bisschen unzuverlässig hielt und so.

    Hier hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, wenn das Plenum des Bundestages einem einzelnen Abgeordneten misstraut, dann darf es ihn von der Teilnahme an einem solchen Gremium ausschließen. Meines Erachtens ist in diesem Fall in erster Linie der Bundestag gefragt, denn das ist in der Tat ein gewisser Widerspruch, wie Sie das auch sagen, wenn ich einerseits den Geheimdienst beobachten soll und andererseits von ihm kontrolliert werde. Aber ich glaube, solche ein bisschen absurd anmutende Konstellationen sind ja in der Welt der Geheimdienste nicht ganz unüblich.

    Meurer: Christoph Degenhart, Staatsrechtsprofessor an der Universität Leipzig, bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk. Herr Degenhart, besten Dank und auf Wiederhören.

    Degenhart: Gerne.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.