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Stefanie de Velasco: "Kein Teil der Welt"
Das Paralleluniversum der Zeugen Jehovas

Kurz nach der Wende ziehen Esther und ihre Eltern Hals über Kopf vom Rheinland in ein ostdeutsches Dorf. Sie wollen dort im Dienst der Zeugen Jehovas einen neuen Königreichssaal errichten. Doch die junge Esther zweifelt zunehmend am Glaubenssystem, in dem sie aufgewachsen ist.

Von Isabelle Bach | 13.11.2019
Ein Portrait der Schriftstellerin Stefanie de Velasco
Stefanie de Velasco zog selbst für die Zeugen Jehovas von Tür zu Tür (Deutschlandradio / Jelina Berzkalns)
Es ist fünfundzwanzig Jahre her, dass Stefanie de Velasco von Tür zu Tür ging, um mit möglichst vielen Menschen ins Gespräch zu kommen – ins Gespräch über den Glauben an Jehova und über das Leid der Welt. Bis heute lassen sie die Erinnerungen an ihre Predigtdienste nicht los:
"Ich selber kenne ja diese Mehrheitsseite nicht. Natürlich weiß ich, wie es ist, wenn die Zeugen Jehovas an der Tür klingeln. Aber ich habe sie nie hochgelassen, wenn sie bei mir geklingelt haben. Ich kenne vor allem die andere Seite. Wie es ist, von Haus zu Haus zu gehen. Diese Eintönigkeit und diese Kälte, die zumindest in der kalten Jahreszeit sehr präsent ist."
Kälte als Motiv
In "Kein Teil der Welt" spielt diese Kälte immer wieder eine Rolle. Wenn die jugendliche Protagonistin Esther in der Fußgängerzone stundenlang Infobroschüren verteilen muss und ihr dabei die Füße einfrieren, will man sie beschützen, will man sie wärmen. Ihrer Mutter kommt dieser Gedanke nicht. Sie strahlt permanent Härte und Distanz aus, sodass es einem kalt den Rücken hinunterläuft. Während sich Esther im Straßendienst oft hilflos und verloren fühlt, erfreut sich ihre Mutter an Konfrontationen:
",Verschwinden Sie', sagt die Frau, ,sonst hole ich die Polizei.' ,Uns steht es frei, von Haus zu Haus zu gehen und unseren Glauben zu verbreiten', antwortet Mutter. Es gibt Leute, die reiben sich im Winter mit Schnee ein. Mutter ist so jemand. Sie reibt sich nicht wirklich mit Schnee ein, aber sie fühlt sich lebendig bei solchen Auseinandersetzungen. Ich hasse so etwas. Das Geschrei, die Demütigungen. Mutter nicht. Mutter genießt die Wut und den Hass, den die Frau ihr entgegenschleudert, so lange, bis sie müde wird, das Fenster wieder schließt und stumm hinter der Scheibe weiterschimpft. Mutter drückt auf die nächste Klingel und lächelt ihr Gewinnerinnenlächeln."
Vom Rheinland nach Ostdeutschland
Esthers Eltern ziehen kurz nach der Wiedervereinigung aus dem Rheinland nach Ostdeutschland. Dort wollen sie neue Mitglieder für ihre Glaubensgemeinschaft gewinnen und einen Königreichssaal errichten. Ihre Tochter stellen sie vor vollendete Tatsachen. Sie muss ihr bisheriges Leben aufgeben und in Ostdeutschland neu beginnen. Da es den Zeugen Jehovas zu DDR-Zeiten verboten war, ihren Glauben öffentlich auszuleben, sind die Gemeinschaften in Ostdeutschland zu Beginn der 90er-Jahre noch sehr klein. Umso engagierter machen sich Esthers Eltern ans Werk.
"Für das Buch hat mich die Geschichte interessiert, dass der Ostblock aufgemacht wurde auch für die Zeugen Jehovas. Und dass sie dann ähnlich wie Unternehmen dorthin sind, um die letzten Schafe zu retten oder einfach, um Mitglieder zu sammeln. Diesen fast schon ökonomischen Aspekt, den fand ich total interessant."
In ihren Schilderungen der ehemaligen DDR greift Stefanie de Velasco bewusst nicht auf medial produzierte Bilder zurück:
"Wir haben es ja hier in meinem Buch mit einer Erzählerin zutun, die scheinbar völlig traumatisiert an einen neuen Ort gebracht wird. Dadurch ist der Blick auf dieses Dorf, in dem sie ab einem bestimmten Moment lebt, natürlich auch in einer gewissen Form verfärbt. Von daher würde ich mir gar nicht anmaßen, ein bestimmtes Bild der DDR zu erzählen, sondern etwas sehr Subjektives."
Kritische Fragen nicht erwünscht
Immer wieder springt die Erzählung zwischen der Gegenwart in Ostdeutschland und der Vergangenheit im Rheinland hin und her. Diese räumliche Trennung geht mit einem Sinneswandel Esthers einher. Während sie ihren Eltern in der Vergangenheit bedingungslos vertraut, beginnt sie in der Gegenwart, am Glaubenssystem der Zeugen Jehovas zu zweifeln. Dabei haben ihre Eltern schon immer alles darangesetzt, keine Zweifel zuzulassen. Auf kritische Fragen und Anmerkungen reagieren sie nicht, es sei denn, es findet sich ein passendes Bibelzitat. Esthers Freundin Sulamith lernt bei ihrem ersten Versammlungsbesuch im Alter von fünf Jahren, dass rationale Argumente mühelos mit biblischen ausgehebelt werden können:
"Als Lidia einige Wochen später zum ersten Mal in die Versammlung kam, trug Sulamith Spitzensöckchen und Ballerinas. Ihre langen blonden Haare hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten und um den Hals trug sie eine silberne Kette mit einem Mariensymbol. Mama umarmte Lidia und hockte sich wieder neben Sulamith, doch diesmal gab es keine Süßigkeiten. ,Von Jehova machen wir uns kein Bildnis', sagte Mama und zeigte auf Sulamiths Kette. ,Das ist die Mutter Gottes', sagte Sulamith. ,Jehova hat keine Mutter', sagte Mama. ,Jeder hat eine Mutter', sagte Sulamith. ,Jehova nicht', sagte Mama, ,er ist der Schöpfer der Welt. Er hat uns zehn Gebote gegeben, und eins davon verbietet uns, so etwas zu tragen.' Sulamith schaute Mama mit großen Augen an. ,Aber die ist von meinem Vati', flüsterte sie. ,Es ist egal, von wem sie ist', sagte Mama, ,Jehova will es nicht.'"
Ein Gefühl der Angst durchzieht Stefanie de Velascos Roman. Mal schwächer, mal stärker ist es immer präsent und prägt Esthers Kindheit und Jugend. Die Autorin beschreibt verschiedene Ausprägungen dieses Angstgefühls. So existiert die Angst vor Ablehnung, die die Protagonistin tagtäglich in der Schule und im Predigtdienst erlebt. Ebenso hat sie Angst vor den eigenen Eltern, die keine Fehltritte erlauben. Am schlimmsten jedoch ist die Angst vor Harmagedon, dem Tag, an dem Jehova über ihr Leben richten soll:
"Alles, was wir taten, alles, was wir dachten, floss wie in der Schule in eine Art Endnote, in die Bewertung unseres Lebens ein und entschied darüber, ob wir es wert waren, im Paradies zu leben oder nicht."
Eine ambivalente Figur
Nachdem Esther einmal begonnen hat zu zweifeln, denkt sie immer öfter und intensiver darüber nach, was ihr Leben ausmacht und wie groß der Einfluss der Glaubensgemeinschaft darauf ist. Diese permanente Reflexion der eigenen Lebenssituation macht sie zu einer ambivalenten und dadurch sehr interessanten Figur, die mit distanziertem Blick über eine Kultur berichtet, in der sie lebt, und sie gleichzeitig hinterfragt.
"Ich brauchte so eine Art Außenimpuls, damit ich die Figur, die ich im Kopf hatte, die auch schon eine klare Stimme hatte, erzählen konnte. Eine Figur, die in einer Gemeinschaft lebt, aber innerlich schon ins Exil gegangen ist. Aus dieser Distanz, aus diesem inneren Exil heraus kann diese Figur Esther erst auf ihre eigene Kultur blicken."
"Kein Teil der Welt" gibt Einblicke in ein Paralleluniversum, das real ist, jedoch oft übersehen wird. Der Roman verdeutlicht, wie isoliert und abgeschieden die Mitglieder leben, indem beinahe ausschließlich Figuren auftreten, die Teil der religiösen Gemeinschaft sind. Stefanie de Velasco beschreibt das Aufwachsen bei den Zeugen Jehovas als ein von anhaltender Angst und Verunsicherung geprägtes Leben. Sie schildert die Gemütszustände ihrer Protagonistin so glaubhaft und präzise, wie es wohl nur jemand kann, der eine solche Situation selbst miterlebt hat.
Stefanie de Velasco: "Kein Teil der Welt"
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. 432 Seiten, 22 Euro.