Donnerstag, 25. April 2024

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"Streik gegen die Patienten"

Michael Lentze, Ärztlicher Direktor der Unikliniken Bonn, wirft dem Marburger Bund vor, den Ärztestreik auf dem Rücken der Patienten auszutragen. Es sei eine hohe psychische Belastung für die Betroffenen, wenn Operationen über mehrer Monate aufgeschoben würden, sagte Lentze. Er warte darauf, dass ein Fall einmal vor Gericht komme und wegen unterlassener Hilfeleistung untersucht werde.

Moderation: Friedbert Meurer | 12.05.2006
    Friedbert Meurer: Alle Welt hatte hoffnungsvoll gestern Abend nach Dresden geschaut, mit der Erwartung, dass heute Morgen die erlösende Nachricht beim Aufstehen vorliegt, Länder und Klinikärzte haben sich endlich geeinigt. Aber weit gefehlt. So ist es nicht gekommen. Tief in der Nacht sind die Tarifgespräche einmal mehr gescheitert.

    Ich begrüße am Telefon den Ärztlichen Direktor der Unikliniken Bonn, Professor Michael Lentze. Guten Morgen, Herr Lentze!

    Michael Lentze: Guten Morgen!

    Meurer: Sind Sie enttäuscht, dass es wieder nicht geklappt hat, oder hatten Sie schon vorher ein mulmiges Gefühl?

    Lentze: Ich war von Vornherein schon pessimistisch, dass es wieder scheitern würde. Ich hatte dann im Verlauf der Nacht gedacht, na ja, vielleicht klappt es ja doch. Je länger verhandelt wurde, umso mehr hatte man natürlich die Hoffnung, dass ein positives Ergebnis dabei herauskommt. Dass es jetzt gescheitert ist, ist sehr bedauerlich, denn das müsste irgendwann mal mit dem Streik ja auch zu Ende gehen.

    Meurer: Wer hat sich zu wenig bewegt in der Nacht?

    Lentze: Ich kann es nicht sagen. Es sind ja zwei Charaktere, die hier aufeinandertreffen, die beide ihren eigenen Standpunkt fest vertreten. Es scheint so zu sein, dass man sich aufeinander nicht allzu sehr entgegenkommt, und daran ist es wohl gescheitert.

    Meurer: Wenn wir mal kurz die Zahlen durchgehen, die man hört. Möllring, der niedersächsische Finanzminister und Chef der Tarifgemeinschaft der Länder sagt, wir bieten doch den Assistenzärzten an, dass sie monatlich 500 Euro mehr bekommen sollen, im dritten Jahr sogar 700 Euro mehr. Hätte da der Marburger Bund doch ja sagen sollen?

    Lentze: Wenn ich das hochrechne - sagen wir mal ein Assistent verdient pro Jahr zwischen 50.000 und 60.000 Euro -, dann wären das ungefähr zehn Prozent. Wenn sie dann noch die Überstunden dazu nehmen, finde ich das eigentlich ein ganz annehmbares Ergebnis. Ich denke, da hätte der Marburger Bund durchaus ja sagen können.

    Meurer: Was treibt Montgomery an, dass er nein sagt?

    Lentze: Ich kann es nicht sagen. Das Streikziel war ja eine Gehaltserhöhung von 30 Prozent. Das liegt natürlich jenseits von dem, was bezahlbar ist, und auch im Vergleich mit anderen Streikenden in anderen Industrien ist das eine Gehaltserhöhung, die überproportional hoch ist. Da war von Vornherein zu erwarten, dass das nicht klappen würde.

    Meurer: Sie haben vor einigen Wochen bei uns einmal gesagt, Herr Lentze, wenn die Uniklinik Bonn 20 Millionen Euro verliert mit den Streiks, dann ist Schluss Sind diese 20 Millionen erreicht mittlerweile?

    Lentze: Nein, noch nicht ganz, aber wir bewegen uns jetzt schon in einem zweistelligen Millionendefizit, und wenn der Streik jetzt sagen wir mal noch einen Monat oder zwei Monate dauert, dann denke ich haben wir diese Traumgrenze erreicht, von der wir hoffen, dass wir sie nie erreichen werden. Dann können zwangsläufig nur Maßnahmen ergriffen werden, um diesen ganzen Verlust wieder einzusparen.

    Meurer: Was meinen Sie damit für Maßnahmen? Entlassungen?

    Lentze: Wie in jedem Unternehmen ist der größte Teil der Kosten natürlich in den Personalkosten. Das sind 70 Prozent. Natürlich wird man sich dann betriebswirtschaftlich an die Personalkosten halten.

    Meurer: "Wir treffen Kliniken wirtschaftlich", sagt der Marburger Bund, "ohne den Patienten Schaden zuzufügen." Ist das so?

    Lentze: Das war eine vollmundige Behauptung von Herrn Montgomery am Anfang des Streiks. Mittlerweile muss ich sagen, hat sich das ins Gegenteil verkehrt, und wir sind alle der Meinung und empfinden das ja täglich dadurch, dass die frustrierten Patienten kommen, dass dieser Streik jetzt auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen wird. Ich persönlich empfinde das als Arzt unerträglich.

    Meurer: Der Marburger Bund sagt allerdings, wir sind die einzige Gewerkschaft, die auch noch den Notdienst und den Ersatz selber organisiert.

    Lentze: Ja, aber sie können nicht über Monate nur den Notdienst machen. Die Medizin lebt nicht nur von Notfällen. Stellen Sie sich vor, eine ältere Dame möchte gerne eine neue Hüfte haben, um endlich wieder laufen zu können, und sie wird über drei Monate immer wieder vertröstet, dass die Operation nicht stattfinden kann. Das ist eine enorme psychische Belastung für diese Menschen, und ich denke, das kann man nicht mehr behaupten, dass dieser Streik mit den Patienten ist. Dieser Streik ist ganz eindeutig gegen die Patienten.

    Meurer: Welche Möglichkeiten haben die Patienten, auf andere Krankenhäuser auszuweichen, die nicht bestreikt werden?

    Lentze: Die Möglichkeit haben sie natürlich, weil die kommunalen Krankenhäuser ja nicht bestreikt werden. Speziell in Bonn ist ja die Krankenhauslandschaft sehr dicht. Wir müssen davon ausgehen, dass die Patienten dann zu anderen Krankenhäusern gehen, sich dort operieren lassen, und die werden dann auch nicht mehr wieder kommen. Das heißt, wir werden auf Deutsch gesagt doppelt bestraft. Wir haben die Patienten jetzt nicht und werden sie in Zukunft dann auch noch verlieren.

    Meurer: Aber dem Patienten wäre geholfen?

    Lentze: Dem Patienten wäre geholfen, aber dem Betrieb wäre dadurch natürlich überhaupt nicht geholfen.

    Meurer: Jetzt könnte es die Möglichkeit geben, dass die Tarifgemeinschaft der Länder direkt mit ver.di verhandelt, weil einige Ärzte - aber es sollen wohl nur 600 von 22.000 sein - bei ver.di organisiert sind. Kann das eine Lösung sein, mit ver.di einen Tarifabschluss herbeizuführen?

    Lentze: Das würde aber dann eine Spaltung der Ärzteschaft geben. Und in der Tarifgemeinschaft der Länder hatte man sich ja im Vorgang im Streik mit ver.di entschlossen, dass hier auch nur die Tarifgemeinschaft verhandelt. Ich halte das auch nach wie vor, bevor man diese Traumgrenze, von der wir vorher gesprochen haben, erreicht, für vertretbar. Ich hoffe, dass es vielleicht doch diese Woche oder nächste Woche noch mal zu einer Spitzenverhandlung kommt und man sich diesem Ziel, was man sich heute Nacht gesetzt hat, doch wieder etwas annähern kann.

    Meurer: Die Gewerkschaften, Herr Lentze, sind sich ja nicht immer ganz grün und streiten auch um die Mitglieder. Hat da ver.di möglicherweise ein Interesse daran, ein bisschen zu spalten?

    Lentze: Ich denke, es gibt divergierende Interessen dieser beiden Gewerkschaften. Das haben wir auch während des Streiks gemerkt. Da waren sehr unterschiedliche Meinungen über die Notdienstvereinbarung aufgetreten, so dass es gut sein kann, dass hier verschiedene Interessen vertreten werden von den Gewerkschaften. Man muss abwarten, wie sich das politisch entwickelt. Ich würde auch sagen, der Schaden für die Gewerkschaften ist schon sehr groß, weil nach so langem Streit ist das mehr oder weniger dann auch irgendwann mal unglaubwürdig.

    Meurer: Der Marburger Bund sagt, 80 Prozent der Patienten stehen hinter unseren Forderungen. Erleben Sie das anders?

    Lentze: Dieses Argument kann ich nicht teilen, denn bei uns häufen sich die Klagen von Leuten. Die gehen zum Teil auch schon an die regionalen Ärztekammern und beschweren sich darüber, dass sie nicht behandelt werden. Ich warte auf den Fall, dass dann einer vor Gericht geht und verlangt, dass es wegen unterlassener Hilfeleistung untersucht wird.

    Meurer: Die Gespräche zwischen Marburger Bund und der Tarifgemeinschaft der Länder sind einmal mehr gescheitert. Darüber sprach ich mit Professor Michael Lentze. Er ist der Ärztliche Direktor der Unikliniken Bonn. Herr Lentze, besten Dank und auf Wiederhören.

    Lentze: Ja danke. Schönen Tag.