Dienstag, 23. April 2024

Streikrecht
Warum in Deutschland viel weniger gestreikt wird als in Frankreich

In Frankreich wird regelmäßig massiv gestreikt - deutlich mehr als in Deutschland. Während die Streikkultur in Frankreich einen besonderen Stellenwert hat, wird hierzulande viel über Verhältnismäßigkeit diskutiert. Ein Blick ins deutsche Streikrecht.

27.03.2023
    Eine ganze Reihe Personen nehmen an einem Gewerkschaftsprotest am 25. März 2023 teil. Ein Mann hält ein Schild hoch, auf dem steht "Let's strike like out French comrades".
    Streiken wie die Franzosen? Das ist in Deutschland nur bedingt möglich. (Getty Images / Maja Hitij)
    Ob Bahnen, Schulen oder die Müllabfuhr, viele Bereiche des öffentlichen Lebens in Frankreich werden bei Streiks immer wieder lahmgelegt, wie gerade bei den Protesten gegen die Rentenreform. Auch in Deutschland wird zwar immer wieder gestreikt, aktuell beispielsweise in Kitas und im öffentlichen Nah- und Fernverkehr – allerdings deutlich weniger als in anderen europäischen Ländern, wie Zahlen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zeigen. Demnach ist die Anzahl der jährlich durch Streiks ausgefallenen Arbeitstage in Frankreich und Belgien sehr viel höher als in Deutschland.
    Die Statistik zeigt die Anzahl der jährlich durch Streiks ausgefallenen Arbeitstage von 2011 bis 2020 pro 1.000 Beschäftigte nach Ländern
    Dass die Streikkultur hierzulande nicht besonders stark ausgeprägt ist, liegt auch am deutschen Streikrecht.

    Wann ist ein Streik zulässig – und wann nicht?

    Die Grundlage für das heutige Streikrecht in Deutschland bildet die in Art. 9, Abs. 3 im Grundgesetz formulierte Koalitionsfreiheit: „Das Recht zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet“, heißt es dort.
    Doch dieses Recht hat natürlich auch Grenzen: Gestreikt werden darf nur als Mittel zum Zweck des Abschlusses von Tarifverträgen. Das bedeutet, dass etwa Streiks „um ihrer selbst willen“ oder mit politischen Zielen durch das deutsche Streikrecht nicht gedeckt sind, heißt es seitens der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages.
    Außerdem steht das Streikrecht nur den Gewerkschaften zu. Und: Während Tarifverhandlungen darf nicht gestreikt werden. Hier besteht eine sogenannte Friedenspflicht. Diese gilt auch während der Laufzeit eines Tarifvertrags. Wenn es in einem Tarifstreit nicht zu einer Einigung kommt, darf es wieder zum Arbeitskampf kommen, wenn die Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder in einer Urabstimmung einem Streik zustimmt. Ausnahmen bilden hier Warnstreiks.
    Nicht streiken dürfen in Deutschland Beamte wie beispielsweise verbeamtete Lehrerinnen und Lehrer.
    Die Statistik zeigt die Anzahl der von Streiks betroffenen Betriebe in Deutschland von 1993 bis 2021

    Was unterscheidet Streiks im öffentlichen Dienst rechtlich von anderen Streiks?

    Laut einer Grundsatzentscheidung des Bundesarbeitsgerichts 1971 unterliegen Arbeitskampfmaßnahmen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Das Gemeinwohl darf durch Streiks nicht offensichtlich verletzt werden. Über diesen Aspekt der Verhältnismäßigkeit von Streiks in für die Allgemeinheit zentralen Bereichen wie Krankenhäusern, Versorgungs- und Entsorgungs- oder Verkehrsbetrieben wird seitdem immer wieder gestritten.
    Die primär durch den Streit Betroffenen seien hier eben nicht die Arbeitgeber, sondern die Bürgerinnen und Bürger, so der Arbeitsrechtler Stefan Greiner von der Universität Bonn . Für Bereiche der Daseinsvorsorge sei es deshalb durchaus fraglich, ob ein Streik das ideale Mittel zur Interessendurchsetzung sei. Diese "Drittbetroffenheit" mache in sensiblen Bereichen Notdienstvereinbarungen erforderlich.

    Was sind Warnstreiks?

    Bei einem Warnstreik kann kurzfristig die Arbeit niedergelegt werden, allerdings nur für wenige Stunden und nach Ende der Friedenspflicht.
    Dem muss weder ein Scheitern von Tarifverhandlungen noch eine Urabstimmung vorausgegangen sein - diese Streikform kann auch bei laufenden Verhandlungen durchgeführt werden. Laut Deutschem Gewerkschaftsbund soll mit Warnstreiks die allgemeine Kampfbereitschaft gegenüber dem Arbeitgeber deutlich gemacht werden, die Gewerkschaft IG Metall sieht darin ein „effektives Druckmittel“.

    Dürfen Streikende für politische Zwecke demonstrieren?

    Ein Verbot politischer Streiks ist in Deutschland nicht gesetzlich festgeschrieben. Dennoch wird immer wieder davon gesprochen, dass diese nicht zulässig seien: Das sei die herrschende Meinung, so der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages. Hintergrund ist ein Urteil des Freiburger Landesarbeitsgerichts von 1952, das vielfach als Verbot von politischen Streiks interpretiert wurde.
    Ob Gerichte dem auch heute noch folgen würden, ist jedoch nicht unbedingt sicher. Einige Gewerkschaften haben in der Vergangenheit immer mal wieder die Legalisierung politischer Streiks gefordert und die Grenzen der Rechtsprechung getestet. So rief die IG Metall 2007 zu "Protesten während der Arbeitszeit" gegen die Rente mit 67 auf. In anderen Ländern gilt die Nutzung des Streikrechts auch explizit für außertarifliche Anliegen.

    Rechtmäßiger Streik und Arbeitspflicht

    Dass kürzlich - Anfang März 2023 - Warnstreiks im Öffentlichen Dienst und Proteste der Bewegung "Fridays for Future" laut den Veranstaltern „Seite an Seite“ stattfanden, ist nach Einschätzung des Arbeitsrechtlers Stefan Greiner auf individueller Ebene kein Problem.
    Denn als Folge eines rechtmäßigen Streiks sei die Arbeitspflicht rechtlich aufgehoben, sagt Greiner. Die dadurch für die Streikenden gewonnene Zeit sei „Freizeit“: „Insofern können sich dann die Streikenden auch dafür entscheiden, von ihrem Demonstrationsrecht an anderer Stelle Gebrauch zu machen und zu einer Veranstaltung von Fridays for Future zu gehen.“
    Wenn Gewerkschaften und Fridays for Future ihre Veranstaltungen aber bewusst vernetzten und sich Ziele wechselseitig zu eigen machten, liege darin „eine gewisse streikrechtliche Problematik“, so der Jurist. Denn allgemeinpolitische Ziele machten einen Streik rechtswidrig, schließlich könnten Arbeitgeber im Normalfall eine allgemeinpolitische Forderung nicht erfüllen. Streiks müssten sich demnach auf tariflich regelbare Ziele beschränken.

    Wie unterscheiden sich Deutschland und Frankreich hinsichtlich des Streikrechts?

    Anders als in Deutschland sind politische Streiks und Generalstreiks in Frankreich zulässig. Zudem dürfen dort nicht nur die Gewerkschaften zum Streik aufrufen, erklärt der Arbeitsmarktexperte Hagen Lesch vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft in Köln: „Das heißt, jeder kann anfangen zu streiken. Die Franzosen haben auch in Privatunternehmen schon ihre Chefs vorübergehend entführt. Das sind Streikmethoden, die uns hier in Deutschland fremd sind“, so Lesch.
    In Deutschland gebe es mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) eine große Einheitsgewerkschaft, die alle ideologischen Richtungen integrieren wolle, während in Frankreich die Gewerkschaften mitunter auch mal gegeneinander kämpften, so der IW-Experte. Im Moment überböten sich dort alle gegenseitig beim Protestieren. Daneben spiele bei den aktuellen Streiks gegen die Rentenreform aber auch eine Rolle, dass der Wunsch, weniger oder kürzer zu arbeiten, in Frankreich stärker ausgeprägt sei als in anderen Ländern.
    In Deutschland waren 2019 laut einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung 18 von 100 der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert, in Frankreich nur 8 von 100.
    Allerdings sagt die Zahl der Mitglieder nur bedingt etwas über den Einfluss von Gewerkschaften aus. Als Indikator für die institutionelle Macht von Gewerkschaften wird oft die Tarifbindung angesehen – und die ist national recht unterschiedlich:  So arbeiteten in Frankreich 2019 jeweils 98 von 100 Beschäftigten in einem Betrieb mit Tarifvertrag, in Deutschland noch 57 von 100 und in Polen gerade einmal 15.
    Quellen: ikl, Caspar Dohmen