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Thomas Mann "Joseph und seine Brüder – I und II"
Fest des Erzählens – Festival des Kommentierens

Thomas Manns Werk des Exils, sein biblischer Roman "Joseph und seine Brüder", lässt sich nun lesen und oder wiederentdecken in all seiner raffinierten Hintergründigkeit. Die sorgfältig kommentierte Neuausgabe umfasst vier Bände mit 4000 Seiten - wahrlich, eine große Lektüre.

Von Wolfgang Schneider |
    Thomas Mann "Joseph und seine Brüder – I und II" - vierbändige Neuausgabe
    Thomas Mann "Joseph und seine Brüder – I und II" - vierbändige Neuausgabe (Buchcover: S. Fischer Verlag, Foto: imago stock&people)
    Eigentlich sind das zwei Welten: der einfache, wortkarge Duktus der Bibel und Thomas Manns fabulierfreudiger, die Sachverhalte in komplexen Satzkonstruktionen hin und her wendender Stil. Gerade darin besteht aber auch eine humoristische Spannung und ein großer Anreiz zum Erzählen: Endlich einmal ins Ausführliche gehen, sozusagen in die verschwiegenen Hintergründe und Details der grandiosen Geschichte vom pathetischen Patriarchen Jaakob, seinem Lieblingssohn Joseph und der eifersüchtigen Brüderschar, der Josephs Angeberei und seine unverschämten Träume schwer auf die Nerven geht. Das mythische Muster des Brudermords wollen sie dann aber doch nicht erfüllen, auch sie spüren, dass das ein Rückfall ins "Überständige" wäre. Stattdessen verkaufen sie den allzu selbstgefälligen Bruder nach Ägypten, wo er in sich gehen und später seine erstaunliche Karriere als Verwalter, Traumdeuter und Ernährungsminister an der Seite Pharaos absolvieren kann. Mit einer Art Rooseveltschem New Deal bringt Joseph Ägypten durch die Jahre der Dürre; so viel augenzwinkernder Anachronismus darf sein.
    Die biblische Josephs-Geschichte bot Thomas Mann das archetypische Muster für eine Karriere im Exil – und damit dem unverhofft selbst ins Exil geratenen Autor viele Möglichkeiten für subtile Spiegelungen. Das Schöne ist aber, dass dieses Werk nicht nur überaus geistreich ist, ein Riesencontainerschiff für mythisch-religiöse Ideenfracht, sondern zugleich so viel Erzählfreude und Sprachwitz zu bieten hat. Thomas Manns Entwicklung als Autor schien nach den frühen "Buddenbrooks" ja nur eine Richtung zu kennen – immer mehr ins Ideelle. Mit einem Fast-Nichts an ironisch inszenierter Handlung einen umfangreichen und komplexen Ideenroman bestreiten, das war das Prinzip "Zauberberg". Wenn man dann aber den "Joseph" zur Hand nimmt, sich durch die ersten fünfzig Seiten des sperrigen "Höllenfahrt"-Vorspiels gearbeitet hat, das die humoristische Leichtigkeit des Romans noch kaum ahnen lässt – dann staunt man plötzlich über diese wiedergewonnene Erzähllust Thomas Manns.
    Großfamilienstress und Bruderstreit, Segensbetrug und andere einträgliche Schwindeleien, dazu anrührende Liebesgeschichten wie die von Jaakob und Rahel, der Mutter Josephs, die in einem der ergreifendsten Todeskapitel Thomas Manns früh am Wegesrand stirbt – kurz, dieser Roman ist wirklich ein "Fest" des Erzählens archetypisch menschlicher Situationen und Konflikte. Und immer wieder, da bietet die Bibel reichlich Material, diese prekäre Geschlechtlichkeit, diese sexuellen Farcen, die Thomas Mann mit besonderer Liebe zum Detail ausmalt. Etwa gleich zu Beginn die Geschichte Dinas, der einzigen Tochter Jaakobs. Sichem, der Sohn eines reichen kanaanitischen Fürsten, hat sich mächtig in sie verliebt und muss sie einfach haben. Jaakobs Söhne, allen voran die beiden streitlustigen, deshalb die Beleidigung ihrer Stammesehre geradezu herbeisehnenden Zwillinge Schimeon und Levi, denken gar nicht daran, ihre Schwester an Sichem abzutreten. Aber sie tun so, als hätte er eine Chance: Er solle sich beschneiden lassen, dann könne er Dina heiraten. Kleinigkeit, meint Sichem, und gibt seine Vorhaut preis, was sich allerdings als viel schmerzhafter erweist, als er zunächst gedacht hat. Halbwegs genesen, will er zur Hochzeit schreiten, denn die Bedingung sei erfüllt. Aber nicht richtig, spotten die Brüder, nicht nach der korrekten rituellen Form mit einem Steinmesser. Nun ist Sichem verärgert und entführt Dina, die es sich übrigens gern gefallen lässt, auf seine Burg in die Stadt Schekem. Darauf haben die Brüder nur gewartet:
    "Aber die Brüder! (…) Ihre Wut schien keine Grenzen zu kennen – Jaakob, verwirrt und niedergeschlagen, hatte das Äußerste von ihnen auszustehen. Entehrt, vergewaltigt, bübisch geschwächt – ihre Schwester, Schwarz-Turteltäubchen, die Allerreinste, die Einzige, Abrahams Samen! Sie zerbrachen den Brustschmuck, zerrissen die Kleider, legten Säcke an, rauften sich Haar und Bart, heulten und brachten sich im Gesicht und am Körper lange Schnittwunden bei, die ihren Anblick grässlich machten. Sie warfen sich auf die Bäuche, schlugen mit den Fäusten die Erde und schworen, weder zu essen noch ihren Leib zu entleeren, ehe denn Dina der Wollust der Sodomiter entrissen und die Stätte ihrer Schändung der Wüste gleichgemacht worden sei. Rache, Rache, Überfall, Totschlag, Blut und Marter, das war alles, was sie kannten. Jaakob, erschüttert, tief betreten, in schmerzlicher Verlegenheit und wohl wissend, dass die Brüder sich am Ziel ihrer ursprünglichen Wünsche sahen, hatte Mühe, sie vorläufig im Zaum zu halten, ohne sich dabei dem Vorwurf mangelnden Ehr- und Vatergefühles auszusetzen. Er beteiligte sich bis zu einem gewissen Grade an den Kundgebungen ihrer Grameswut, indem er ebenfalls ein schmutziges Kleid anlegte und sich etwas zerraufte…"
    Schließlich unterbreiten die Brüder ein Versöhnungsangebot. Der Raub Dinas sei eigentlich unverzeihlich, aber man wolle ein Auge zudrücken und zum großen Hochzeitsbankett schreiten, wenn nun alle männlichen Bewohner Schekems sich nach frommer alter Art, also mit dem Steinmesser, beschneiden ließen. Die Kanaaniter willigen ein; als aber ganz Schekem frisch beschnitten darniederliegt, fallen die Brüder in die Stadt ein und metzeln unter martialischem Gebrüll die wehrlosen Männer nieder, verstümmeln und morden im Blutrausch zwei Stunden lang.
    Auf dreißig Seiten erzählt Thomas Mann diese Geschichte. Mit solcher Drastik, solch wahrhaft krassem Erzählmaterial hatte der Erkunder erschöpfter und verfeinerter Bürgerwelten bis dahin nicht aufgewartet. Man spürt sofort, welch enormen epischen Gewinn ihm die biblische Vorlage bringt: große und grässliche Szenen, spektakuläre Vorgänge, spannungsgeladene Konfrontationen und markante Charaktere, die er mit seinem Instrumentarium eines feinnervigen psychologischen Realismus entfalten kann. Wo die Bibel schweigt, spürt Thomas Mann den hintergründigsten und zwiespältigsten Motiven nach.
    Wer in der Bibel zu kurz gekommen ist
    Dabei macht er sich zum Fürsprecher gerade jener Figuren, die die undankbaren Rollen zu spielen haben in der biblischen Vorlage, die ja auch eine parteiische Heilsgeschichte ist.
    Das gilt insbesondere für eine Frau, die in der Bibel nur als Versucherin firmiert: Mut-em-enet, vulgo: "Potiphars Weib". Hier sieht sich der Erzähler zu ein paar klarstellenden Worten veranlasst.
    "Offen gestanden, erschrecken wir vor der abkürzenden Kargheit einer Berichterstattung, welcher der bitteren Minuziosität des Lebens so wenig gerecht wird wie die unserer Unterlage, und haben selten lebhafter das Unrecht empfunden, welches Abstutzung und Lakonismus der Wahrheit zufügen, als an dieser Stelle…"
    Im Alten Testament wird "Potiphars Weib" mit wenigen Sätzen abgefertigt, ihr Innenleben interessiert nicht. Thomas Mann macht fast dreihundert Seiten aus ihrer Liebesheimsuchung. Die sehnsüchtige Perspektive der sexuell unerfüllten, weil mit einem Hof-Eunuchen verheirateten Frau auf den sensationell attraktiven Joseph ist eine Traumvorlage für ihn. Er zelebriert diese Geschichte, sie quillt gewaltig in die Breite. Es gibt aber auch hier großartige Kapitel, etwa das von der vornehmen Damengesellschaft, die Mut-em-enet veranstaltet, als ihre Leidenschaft zum allgemeinen Gespräch und Gespött zu werden droht. Sie plant, den ehrbaren Damen aus der ägyptischen Oberschicht ihre Liebesnot zu offenbaren und ihnen zugleich eine Lektion zu erteilen. Lädt sie ein, präsentiert in wunderbaren Schalen herrliche Früchte und dazu perfide geschärfte Obstmesserchen. Als die Damen gerade beim Schälen sind, lässt sie Joseph mit dem Weinkrug hereintreten.
    "Bedenkt man, dass es sich einerseits um den schönsten Jüngling seiner Sphäre, andererseits aber um die schärfsten Messerchen handelte, welche wahrscheinlich die Welt je gesehen, so ist klar, dass der Vorgang gar nicht anders, nämlich nicht unblutiger verlaufen konnte, als er wirklich verlief, und dass die Traumsicherheit, mit der Mut diesen Verlauf berechnet und vorhergesehen hatte, vollauf berechtigt gewesen war. Mit ihrer Leidensmiene, dieser Maske aus Finsternis und Geschlängel, blickte sie auf das angerichtete Unheil, das still sich entwickelnde Blutbad, das vorerst sie ganz allein wahrnahm, da die in lüsterner Hingerissenheit gaffenden Gesichter der Damen dem Jüngling folgten…"
    Auch diese Episode hat Thomas Mann sich nicht ausgedacht. Sie findet sich zwar nicht in der Bibel, aber – knapp erzählt – in der 12. Sure des Koran, wo die Josephsgeschichte übernommen wird. Und es gibt mehrere Versionen in der altpersischen Literatur, etwa in Firdusis romantischem Heldengedicht "Jussuf und Suleicha". Am Ende des Kommentars lassen sich diese Vorlagentexte aus der Arbeitsmappe Thomas Manns nun nachlesen und vergleichen – auch das ein Gewinn dieser Ausgabe.
    Zweitausend Seiten umfassen die beiden Kommentarbände, und wenn es je nützlich war, einen Kommentar zu benutzen, dann bei diesem Romanwerk mit seinem ägyptologischen, theologischen und mythischen Wissensgeflecht. Die Ausführungen zur Quellenlage und Entstehungsgeschichte bieten fesselnde Einblicke in die Werkstatt des Autors. Auch für manche eher krude Stelle des Romans bekommt man hier den Schlüssel. Etwa für folgende Passage aus der einleitenden "Höllenfahrt":
    "Gewisse Funde bestimmen die Experten der Erdgeschichte, das Alter der Menschenspezies auf fünfhunderttausend Jahre zu schätzen. Das ist knapp gerechnet, in Anbetracht dessen, was die Wissenschaft heute für wahr lehrt: dass nämlich der Mensch in seiner Eigenschaft als Tier das älteste aller Säugetiere sei und schon (…) vor aller Großhirnentfaltung in verschiedenen zoologischen Modetrachten, amphibischen und reptilischen, auf Erden sein Wesen getrieben habe."
    Der Mensch als ältestes Säugetier, Urformen des Menschen in Gestalt von Reptilien und Amphibien – und dies soll die "Wahrheit" der "Wissenschaft" sein? Der Kommentar verrät, dass Thomas Mann diese kuriosen Ideen von dem seinerzeit viel beachteten Paläontologen Edgar Dacqué übernommen hat, der in späteren Jahren und vor allem in seinem Buch "Urwelt, Sage, Menschheit" zu abenteuerlichen metaphysisch-naturphilosophischen Spekulationen neigte. Der Mensch ist für Dacqué nicht nur das Ziel, sondern auch der Anfang der Evolution; in seiner amphibischen Lurchgestalt habe er Schwimmhäute zwischen den Zehen gehabt. "Pseudowissenschaft" urteilt der Kommentar harsch.
    Vaterlob statt Vatermord
    Thomas Mann aber liebte neben den Fakten und Realien vermittelnden Kompendien gerade solche hochspekulativen Bücher, "starke Theorien des Archaischen", wozu auch Sigmund Freuds "Totem und Tabu" gehörte. Hier setzt der Kommentarband markante Akzente. Bisher wurde Freud als wichtiger Einfluss gehandelt. Im Kommentar liest man nun mit aller Deutlichkeit:
    "Die Josephs-Romane stehen in deutlicher Opposition zu Freud. (…) Ganz abgesehen von der rigorosen Gegensätzlichkeit der Religions- und Mythoskonzeption Freuds und Manns ist es zumal die Bedeutung der Vaterfigur für das individuelle wie kollektive Seelenleben, die sie trennt. Die psychische Repräsentanz der Vaterfigur ist für Joseph eben keine traumatisierende Strafinstanz, sondern übt im Gegenteil eine befreiende, den Bann naturhaft-magischer Zwänge brechende Kraft und Wirkung aus. Joseph erscheint durch und durch als Vaterkind, Anhänger einer patriarchalischen Religion, erhaben über den Freudschen ‚Ödipuskomplex‘… Und so schließt der Roman mit einer Vaterapotheose, die in der Weltliteratur ihresgleichen sucht und die eine gewaltige epische Gegendarstellung zu Freuds Theorie des Vaterkomplexes und des auf ihn zurückgeführten Gottesglaubens darstellt."
    Vaterlob statt Vatermord – ein interessanter Aspekt in Zeiten, in denen der Feminismus alles Patriarchalische zutiefst verdächtig gemacht hat. Der Patriarch Jaakob ist in seiner Mischung aus Pathos und Komik zweifellos eine der faszinierendsten Gestalten in Thomas Manns reichhaltigem Figurenkabinett. Diese Mischung ist im Übrigen bemerkenswert, denn in den "Buddenbrooks" und im "Zauberberg" herrschte noch eine säuberliche Trennung: Pathos für die Hauptfiguren, Komik für die Nebengestalten.
    Wie hat Thomas Mann sein Mythos-Konzept zusammengebaut, welche Werke haben ihn dabei beeinflusst? Im Kommentar sind sie alle in verlässlicher Gewichtung aufgeführt, von Johann Jakob Bachofen über Karl Kerenyi bis Alfred Jeremias. Letzterer gehörte zur damaligen panbabylonischen Schule der deutschen Altorientalistik. Unter seinem Einfluss beschwört Thomas Mann eine universale Geistes- und Bildwelt: Altorientalische, griechisch-antike und jüdisch-christliche Religionsmythen gehören demnach zu einem einzigen großen menschlichen Geschichtenschatz; zwischen ihnen gibt es viele Verbindungen, Übernahmen und Variationen. Mag der Panbabylonismus heute auch aus dem wissenschaftlichen Diskurs verschwunden sein, Thomas Mann erschließt sich mit Hilfe dieser Theorie ein reichhaltiges narratives Repertoire, das er in den Josephsromanen virtuos in Szene setzt.
    Das mythische Dasein als Rollenspiel
    Das ist theoriegeschichtlich interessant. Noch faszinierender aber ist es, dass das Mythos-Konzept Konsequenzen für die Figurendarstellung hat. In Frage gestellt wird die Vorstellung einer geschlossenen Identität oder Persönlichkeitsmonade. Die Figuren des Josephsromans begreifen sich nicht als Individuen, sondern als Spieler einer mythischen Rolle, die schon oft vor ihnen aufgeführt wurde, sie zelebrieren ihr Leben als Wiederholung. Jeder Leser der "Buddenbrooks" oder des "Zauberbergs" weiß allerdings, dass die Figuren Thomas Manns seit je durch starke Typisierung gekennzeichnet waren. Durch Leitmotive und stereotype Redewendungen waren sie schon immer Wiedergänger ihrer selbst. Das ist Thomas Mann gelegentlich sogar vorgeworfen worden (etwa von Martin Walser), weil vor allem seine Nebenfiguren in ihrer Rolle wie in einem Korsett stecken und zwanghaft ihre stigmatisierenden Gebärden und Phrasen wiederholen. Das Interessante ist nun, dass Thomas Mann diese leitmotivische Darstellungsweise in den Joseph-Romanen mit dem Mythos-Konzept überwölbt und ihr dadurch einen ganz anderen Charakter verleiht: nicht mehr Zwang, sondern Zeremonie. Die Figuren haben ein Moment theatralischer Freiheit, ein Spielbewusstsein; dennoch beziehen sie ihre Würde gerade nicht daraus, dass sie originell sind, sondern dass sie "in Spuren gehen", wie die Formel lautet.
    Auch auf die Zeitstruktur hat das Mythos-Konzept Auswirkungen: die lineare Ereigniszeit wird durch eine zirkuläre Zeit überlagert, denn in der Wiederholung des Mythos wird die Vergangenheit immer wieder zur Gegenwart. Um eine ewige Wiederkehr des Gleichen handelt es sich aber nicht, denn gerade in die theologische Thematik des Romans hat Thomas Mann eine Fortschrittsachse eingezogen.
    Gott wird von Abraham nicht erfunden – mit solchen Feuerbach-Thesen darf man die interaktive Theologie Thomas Manns nicht verwechseln. Sondern er wird hervorgedacht, also deutlich und kenntlich gemacht in seinem göttlichen Wesen und Willen. So wie der Mensch sich dabei aus den mutterrechtlichen Sumpfgründen und dem moralischen "Unflat" herauszuarbeiten hat, so bedarf auch Gott oder das Gottesbild der Korrektur durch den Menschen. Mit dem Zorn zum Beispiel solle es der Herr mal nicht übertreiben. Abraham weist ihn mutig zurecht.
    "Wie er (…) den Herrn freundschaftlich angelassen hatte beim Untergange von Sodom und Amorra, das war in Anbetracht von Gottes furchtbarer Macht und Größe vom Anstößigen nicht weit entfernt gewesen… 'Höre Herr', hatte Abram damals gesagt, 'so oder so, das eine oder das andere! Willst du eine Welt haben, kannst du nicht Recht verlangen; ist es dir aber ums Recht zu tun, so ist es aus mit der Welt. Du fassest die Schnur bei beiden Enden an, willst eine Welt und in ihr Recht. Wenn du aber nicht etwas milder wirst, so kann die Welt nicht bestehen.' Sogar der List hatte er damals den Herrn geziehen und ihm vorgehalten: Der Wassersflut habe er abgeschworen, seinerzeit, nun aber komme er mit der Feuersflut."
    Der Bund von Gott und Mensch dient in den Josephsromanen der gegenseitigen Läuterung. Es gilt, im Zeichen der "Gottesklugheit" das "Überständige" zu bestimmen und zu überwinden – ethischer Sondermüll gleichsam, wie der Brudermord, das Sohnesopfer, der Inzest oder die reaktionäre Volkstümelei, in der sich insbesondere der grimmige Zwerg Dudu ergeht, jener skurrile Widersacher Josephs in Ägypten, der seine "dachartige" Oberlippe womöglich von Joseph Goebbels hat.
    Das Versagen der deutschen Kritik
    Zweihundert Seiten des Kommentars widmen sich schließlich der komplexen Rezeptionsgeschichte des Romans, ein spannendes Stück deutscher Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Die deutsche Kritik war 1933, bei Erscheinen des ersten Bandes, teils schon auf nationalsozialistischer Linie – man warf Thomas Mann "kultivierte Salonschwätzerei" vor, fand die mythische Handlung der Bibel "durch wichtigtuerische Bildungstunke versabbert" oder "psychologisch verschmiert mit den Problemen einer dekadenten Zeit". Man wollte es lieber wuchtig und ungebrochen heldisch haben. Taub blieb die deutsche Kritik für die humoristische Erzählhaltung des Romans, seine eigentliche Würze.
    Die Josephsromane bieten erzählte Lebensphilosophie wie wenige andere Werke der Weltliteratur. Während im "Doktor Faustus" die mit der Hilfe Adornos eingespeiste Musiktheorie bei aller Raffinesse dem Roman und seinem behäbig-konservativen Erzählduktus äußerlich bleibt, ist im "Joseph" die Verbindung von Mythos-Theorie, Erzähltechnik und Handlung vollkommen stimmig. Kein Zweifel – diese Tetralogie gehört zu den Gipfelwerken des zwanzigsten Jahrhunderts.
    Thomas Mann: "Joseph und seine Brüder I und II"
    Text und Kommentar von Jan Assmann, Dieter Borchmeyer und Stefan Stachorski unter Mitwirkung von Peter Huber
    S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, vier Bände, zusammen 4020 Seiten, 85 Euro und 96 Euro.