Geschichte der Tierethik Die einen gehen Gassi, die anderen zur Schlachtbank
Seit Jahrtausenden nutzt der Mensch Tiere: Er fängt sie, tötet sie, isst sie. Aber: Dürfen wir das überhaupt? Diese Frage stellen sich Menschen schon seit der Antike, doch die Antworten haben sich verändert.
Wir Menschen halten seit rund 12.000 Jahren Tiere. Wir haben sie eingefangen, domestiziert und durch Zucht verändert. Menschen wurden sesshaft und mit ihnen die Tiere, eine gewaltige Veränderung. Wie die Menschen diesen Schritt damals moralisch betrachtet haben, ist nicht bekannt. Doch schon in den ältesten philosophischen Werken finden sich Gedanken zum Verhältnis von Mensch und Tier.
Aristoteles hatte die Vorstellung einer „natürlichen Hierarchie“, sagt Bernd Ladwig, der als Professor für Politische Theorie und Philosophie an der FU Berlin arbeitet. Für Aristoteles war die Welt ein Kosmos, in dem alle Wesen einen Platz und einen Zweck haben. Tieren hat er dabei die Rolle zugeschrieben, den Menschen nützlich zu sein, da Menschen höher geartete Lebewesen seien.
Pflanzen existieren, um der Tiere Willen und die wilden Tiere um des Menschen willen. Haustiere sind ihm zu nutzen, und er ernährt sich von ihnen. Die wilden Tiere oder jedenfalls die Mehrzahl davon isst er, und er fertigt aus ihnen andere für das Leben zweckmäßige Dinge, wie Kleidung oder verschiedene Werkzeuge. Da die Natur nicht Zweckloses oder Unnützes hervorbringt, so ist es unleugbar wahr, dass sie alle Tiere um des Menschen Willen hervorbrachte.
Christliche Philosophen haben ihre Überlegungen auf den Gedanken von Aristoteles aufgebaut. Dessen Weltordnung wurde im Wesentlichen übernommen, aber nun mit der göttlichen Ordnung der Schöpfung und der Gottesebenbildlichkeit des Menschen begründet.
Jedes andere Geschöpf ist von Natur aus der Knechtschaft unterworfen. Allein das geistige Wesen ist frei. Hierdurch wird der Irrtum derer ausgeschlossen, die behaupten, der Mensch begehe eine Sünde, wenn er wilde Tiere tötet. Denn sie sind aus göttlicher Vorsehung in natürlicher Ordnung, auf den Nutzen des Menschen hin geordnet. Daher gebraucht sie der Mensch nicht zu Unrecht, sei es, wenn er sie tötet, oder sei es in jeder beliebigen anderen Weise.
Thomas von Aquin (1225 – 1274)
Thomas von Aquin sei davon ausgegangen, dass mit bestimmten Eigenschaften auch bestimmte Zwecke verbunden sind, sagt Ladwig. Weil Tiere also vom Menschen gezähmt und genutzt werden konnten, waren sie in dieser Logik auch genau dafür da.
Thomas von Aquin sei allerdings nicht der Meinung gewesen, dass der Mensch im Umgang mit Tieren völlig frei sei, so Ladwig. Der Umgang mit den Tieren musste eben an Zwecken ausgerichtet sein, blanke Grausamkeit wäre gegenüber Geschöpfen Gottes nicht angemessen gewesen. Grausamkeit gegenüber Tieren könne zudem auch zu einer Verrohung von Menschen führen.
In der frühen Neuzeit ist tatsächlich die Naturvorstellung zunächst eine radikal andere. Die Welt wird nicht mehr als eine zweckhafte Ordnung verstanden, sondern als eine Abfolge von naturgesetzlichen Zusammenhängen gesehen. Und auch die Körper von Lebewesen beschrieb der französische Philosoph René Descartes (1596-1650) ähnlich wie Automaten, von denen es eben komplexe und einfache gebe.
Menschen, so Descartes, hätten allerdings neben ihrem Körper noch eine „denkende Substanz“. Mit ihren Körpern sind Menschen zwar Teil der mechanistischen Weltordnung, über ihr Denken hätten sie jedoch daneben einen Teil von Seele in sich, der sie von der Natur abhebt. „Ich denke, also bin ich“, das ist der Satz, für den Descartes bekannt ist und Tiere schließt er nicht ein. Sie sind lediglich Teil der mechanistischen Weltordnung.
Bis zum 18. Jahrhundert haben sich Philosophen im Wesentlichen daran abgearbeitet, warum man auf Tiere eben gerade keine allzu große Rücksicht nehmen muss. Der Philosoph Jeremy Bentham brachte dann eine grundlegende Neubewertung in den Diskurs ein.
Die Frage ist nicht: Können sie denken? Oder: Können sie sprechen? Sondern: Können sie leiden?
Jeremy Bentham (1748-1832)
Zum ersten Mal rückte das Tier mit seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt. Bentham gilt als Begründer des sogenannten Utilitarismus, einer Denkschule, in der das Augenmerk ausdrücklich auf Gefühlszustände, also Leid, Freude oder eben Schmerzen gerichtet ist. Und diese Gefühlszustände teilt der Mensch schließlich mit zahlreichen anderen Tieren.
„Der Akzent liegt hier nicht auf so etwas wie der Höherwertigkeit denkender Wesen, sondern er liegt auf etwas, was uns im Grund als Naturwesen auszeichnet“, sagt Ladwig. Und als Naturwesen seien wir eben Tiere, in der Logik des Utilitarismus sei es daher folgerichtig, Tiere einzubeziehen.
Bentham plädierte allerdings nicht dafür, Tiere nicht mehr zu nutzen. Ihm ging es darum, Grausamkeiten zu unterlassen. Er war auch Jurist und noch zu seinen Lebzeiten wurde das erste Tierschutzgesetz in Großbritannien erlassen, der „Act for the Prevention of crew and improper Treatment of Cattle“. Unnötige Grausamkeit gegenüber Tieren war fortan eine Straftat.
In Deutschland gründete sich 1837 der erste Tierschutzverein, der vaterländische Verein zur Verhütung von Tierquälerei. Das erste deutschlandweite Tierschutzgesetz gab es erst hundert Jahre später im Jahr 1933. Dem nationalsozialistischen Regime ging es dabei allerdings auch darum, bestimmte Schlachtriten zu verbieten, um vor allem Juden, Sinti und Roma zu treffen. 1972 wurde das Gesetz zeitgemäß überarbeitet: Unter Tierschutz versteht es den Schutz vor sozusagen sinnloser Gewalt.
Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.
Paragraph eins des deutschen Tierschutzgesetz
Schutz vor unnötiger oder sinnloser Gewalt sind klassische Klassifizierungen für den Gedanken des Tierschutzes, sagt die Philosophin und Tierrechtlerin Friederike Schmitz:
„Im Tierschutz ist es, so die Idee, schon grundsätzlich in Ordnung, dass wir Tiere für unsere Zwecke nutzen und möglicherweise auch töten, so ein klassisches Verständnis von Tierschutz. Und wir müssen dabei nur darauf achten, dass wir die Tiere dabei nicht unnötig schädigen oder ihnen unnötig Leid zufügen.“
Gibt es einen Unterschied zwischen Menschen und Tieren? Oder ist der Mensch nur ein Tier unter vielen? Die Antworten auf diese Fragen erfuhren durch die Erkenntnisse des britischen Naturforschers Charles Darwin (1809-1882) eine grundlegende Neubewertung. 1859 veröffentlichte er sein Buch "Die Entstehung der Arten" und wies darin nach, dass auch der Mensch biologisch gesehen ein Teil der Tierwelt und der Natur ist.
„Je näher uns die Tiere sind, je mehr Gemeinsamkeiten wir mit ihnen haben, auch in Bedürfnissen und Verhaltensweisen, desto stärker sehen wir natürlich auch, dass wir ihnen moralisch Rücksicht schulden“, sagte Schmitz.
Mit seiner Evolutionstheorie stellte Darwin zudem den Glauben an eine göttliche Schöpfung infrage – damit bekam der Mensch größere Verantwortung: Wenn da kein Gott ist, der die Welt endgültig eingerichtet hat, dann müssen wir selbst entscheiden, wie wir mit ihr umgehen wollen und eben auch mit den Tieren, von denen wir selbst eins sind.
1975 veröffentlichte Peter Singer das Buch „Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere“. Singer argumentiert, dass man für moralisches Handeln die Interessen aller beteiligten Lebewesen berücksichtigen und zu einem Ausgleich dieser Interessen kommen müsse.
Wenn Menschen nicht anders überleben können, dann dürfen sie auch Tiere essen. Sonst müssten sie schließlich ihren eigenen Tod in Kauf nehmen. Wenn Menschen aber auch andere Nahrung zur Verfügung haben, dann könnten sie überleben, ohne zu töten. Im Ausgleich der Interessen reiche der Gaumenkitzel nicht aus, um eine Tötung zu rechtfertigen, so Singer.
So über Tiere nachzudenken war radikal anders. Es ging fortan nicht mehr lediglich um Schutz, Schonung oder Mitgefühl - nichtmenschliche Lebewesen sollten elementare Rechte zugestanden werden.
Menschen brauchen mehr Rechte als Tiere
Dabei gehe es nicht darum, alle Lebewesen gleichzubehandeln, sagt Tierrechtlerin Schmitz. „Einige Menschenrechte brauchen Tiere nicht“, sagt Schmitz. Tiere brauchten kein Recht auf Wissenschaftsfreiheit oder Bildung, wie wir Menschen sie in Anspruch nehmen.
Aber immer dann, wenn Tiere gleiche oder ähnliche Bedürfnisse haben wie Menschen, dann solle sich das auch in Rechten ausdrücken: „Grundlegende Sachen, die eben das Leben, den Körper, die Freiheit von Folter, von Ausbeutung zum Beispiel betreffen. Da ist eigentlich unklar, warum man da so einen Unterschied machen sollte“, sagt Schmitz.
Dass Singers Position auf viel Resonanz stieß, hatte auch damit zu tun, dass sich die Tierhaltung zu dieser Zeit massiv veränderte. Die Massentierhaltung wurde immer mehr zum Standard. Tiere wurden und werden in Verhältnissen gehalten, die auch vielen Verbrauchern nicht recht sind. Der ethische Anspruch vieler sei so in eine immer größere Diskrepanz zur Realität der Tierindustrie gekommen, sagt Schmitz.
Und mehr und mehr Menschen ziehen daraus auch Konsequenzen. 52 Kilogramm Fleisch haben jeder und jede Deutsche 2022 gegessen, fast zehn Kilo weniger als vor zehn Jahren. Rund 8 Millionen Menschen in Deutschland ernähren sich vegetarisch, 1,6 Millionen vegan.