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Tschechien
Mit Vater Staat aus den Schulden

Kredite zu Wucherkonditionen und ein deregulierter Markt: Tschechien litt lange unter einer hohen Privatverschuldung. Jetzt entdeckt die tschechische Politik das lange unbeachtete Thema - und will die Schulden übernehmen.

Von Kilian Kirchgeßner | 29.09.2017
    Eine orangefarbige Geldbörse mit tschechischen Kronen in Münzen und Scheinen ausgebreitet
    "Wir müssen die Finanzkenntnisse der Verbraucher erhöhen" sagt Jana Tatyrkova vom Verband der Inkasso-Unternehmen. (dpa/Vojtech Vlk)
    Ein Café im Prager Stadtteil Vinohrady. Außen glänzen frisch renovierte Fassaden, innen gibt es Croissants mit hausgemachter Marmelade. An einem der Tische sitzt Jana Tatyrkova, die Direktorin des tschechischen Inkassoverbands, in dem einige der Unternehmen zusammengeschlossen sind, die offene Geldforderungen eintreiben. Wirtschaftlich, sagt sie mit einem Blick in das belebte Café, gehe es den Tschechen gerade hervorragend:
    "Wir merken, dass die Leute derzeit ihre offenen Forderungen gut bezahlen können, sie haben spürbar viel Geld."
    Das ist eine recht neue Situation: Über lange Jahre hatten viele Tschechen hohe Schulden, die Zahl der Zwangsvollstreckungen war astronomisch hoch. Auch heute noch sind im 10-Millionen-Einwohner-Land 4,5 Millionen Pfändungen anhängig - aber neu ist, dass die Politik das Thema für sich entdeckt hat.
    Die Schulden sollen verstaatlicht werden
    Seit drei Jahren reformieren die Abgeordneten die alten Regeln, durch die die Verbraucher kaum vor skrupellosen Geschäftemachern geschützt waren. Der weitestgehende Vorstoß ist noch frisch: Petr Dolinek, ein Politiker der regierenden Sozialdemokraten, fordert, die Schulden quasi zu verstaatlichen. Wer in der Zwangsvollstreckung ist, dessen Schulden soll der Staat übernehmen:
    "Wenn ein Gläubiger offene Forderungen hat, kauft sie der Staat auf - bis zu 10.000 Kronen, also 400 Euro, zum vollen Preis - bei allem über 100.000 Kronen mit einer Pauschalzahlung von 20.000 Kronen."
    Der Schuldner müsse dann je nach Höhe seiner Einnahmen die Schulden abstottern - aber eben an den Staat. Der garantiere eine faire Abwicklung, die den Schuldnern ausreichend finanziellen Spielraum ließe - das ist das Hauptargument von Petr Dolinek:
    "Ich bin ja Spitzenkandidat in Prag, und wir haben gesehen, dass sich selbst bei uns in der wohlhabenden Stadt 90.000 Menschen in der Zwangsvollstreckung befinden. Viele von ihnen haben eine Familie, die ebenfalls darunter leidet, so dass sicher 200.000 oder 300.000 Menschen betroffen sind. Also haben wir geschaut, wie man das angehen kann."
    Bagatellschulden können zu Schuldenbergen anwachsen
    Diese Verstaatlichung von Privatschulden ist ein Modell, das es bislang nirgendwo anders gibt. Experten sind allerdings skeptisch. Daniel Hule zum Beispiel, Schuldenberater bei Clovek v tisni, einer der größten tschechischen Hilfsorganisationen. Er kritisiert seit langem eine, wie er es nennt "tschechische Besonderheit": dass Bagatellschulden zu gewaltigen Schuldenbergen anwachsen können:
    "Bei uns war es bisher möglich, dass derjenige, der jemandem eine einzige Krone schuldet, plötzlich im Pfändungsverfahren 22.000 Kronen zurückzahlen musste. Das hängt damit zusammen, dass die Anwaltskosten extrem hoch sind."
    Bis 2014 war das die Rechtslage, die unlautere Geschäftemacher quasi unantastbar machte. Wer privaten Geldverleihern auch nur einen geringen Betrag schuldig geblieben ist, wurde leicht zum Opfer; horrende Strafzahlungen im Kleingedruckten oder teure Anwaltsrechnungen wurden dann plötzlich präsentiert. Das, sagt Daniel Hule, habe sich inzwischen verbessert. Viele hundert unseriöser Wucherer-Firmen wurden geschlossen, auch die Honorare der Gerichtsvollzieher sind gedeckelt.
    Viele der Zwangsvollstreckungen haben aber ihre Wurzeln noch in der Zeit vor den Gesetzesnovellen. Wirklich wichtig sei es deshalb jetzt, den Weg in die Privatinsolvenz zu erleichtern, meint Schuldenberater Hule. Bislang ist Tschechien das einzige europäische Land, in dem die Schuldner mindestens 30 Prozent zurückzahlen müssen, bevor das Insolvenzverfahren eröffnet wird - eine Hürde, die für viele unüberwindbar sei:
    "Das ist deshalb problematisch, weil es viele Unternehmen gegeben hat, die einem 10.000 Kronen geliehen haben und zwei Jahre später eine halbe Million zurückwollen. Ich finde es richtig, den Leuten eine Chance zu geben. In den meisten anderen Ländern gibt es keine Mindest-Rückzahlung, um das Insolvenz-Verfahren einzuleiten - in Österreich sind es zum Beispiel zehn Prozent, aber bei uns 30."
    "Der Markt muss von unseriösen Anbietern bereinigt werden"
    Der sozialdemokratische Vorstoß, die Schulden an den Staat zu übertragen, sei deshalb vor allem dem Wahlkampf geschuldet; Ende Oktober sind in Tschechien die Wahlen zum Abgeordnetenhaus. Auch Jana Tatyrkova vom Verband der Inkasso-Unternehmen hält nichts von der Initiative:
    "Ich würde mir ein Gesetz wünschen, das die Tätigkeit von Inkasso-Unternehmen reguliert und damit den Markt von unseriösen Anbietern bereinigt. Und wir müssen die Finanzkenntnisse der Verbraucher erhöhen."
    Nur so könne man die Situation langfristig in den Griff bekommen.