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Türkei
"Drei große Gruppen, die prinzipiell für Anschläge in Frage kommen"

Der "Islamische Staat", Kurden oder der PKK nahestehenden Gruppierungen und eine linksradikale Splittergruppe würden laut Kristian Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung für Anschläge in der Türkei in Frage kommen. Die letzten beiden Gruppierungen würden aber eher nicht ausländische Zivilisten angreifen, sagte er im DLF.

Kristian Brakel im Gespräch mit Jochen Spengler | 13.01.2016
    Von der Polizei abgesperrtes Gebiet in Istanbul nach dem Selbstmordattentat in der Altstadt
    Von der Polizei abgesperrtes Gebiet in Istanbul nach dem Selbstmordattentat in der Altstadt (dpa / picture alliance / Peter Kneffel)
    Jochen Spengler: Der Schrecken mag langsam überwunden werden; Fassungslosigkeit und Trauer sind es noch lange nicht. Ein Selbstmordattentäter sprengte sich gestern Morgen zwischen der Blauen Moschee und der Hagia Sophia in Istanbul in die Luft. Zehn Menschen riss er mit in den Tod, mindestens 15 wurden zum Teil schwer verletzt. Die Toten sollen allesamt aus Deutschland stammen, aus Berlin, Brandenburg, Hessen, Rheinland-Pfalz und Sachsen. Heute will sich Bundesinnenminister de Maizière selbst ein Bild der Lage machen und in der Türkei seinen Amtskollegen Efkan Ala treffen.
    In Istanbul am Telefon ist nun Kristian Brakel, der dort die Heinrich-Böll-Stiftung leitet. Guten Tag, Herr Brakel.
    Kristian Brakel: Guten Tag.
    Spengler: Darf ich Sie zunächst fragen, mit welchem Gefühl Sie heute Morgen selbst zur Arbeit gegangen sind?
    Brakel: Ich habe natürlich ein mulmiges Gefühl gehabt, aber das ist ein Gefühl, was jetzt nicht erst seit gestern besteht. Sie haben das ja gerade im Beitrag auch angesprochen. Es gab im letzten Jahr verschiedenste Anschläge, darunter dieser sehr schwere Anschlag von Ankara Ende Oktober. Diese Gefahr oder die Wahrnehmung, dass man sich potenziell an Orten bewegt, die Opfer eines Anschlags werden könnten, die gibt es auf jeden Fall schon seitdem, und das hat sich gestern natürlich noch mal verstärkt.
    Spengler: Und wie geht man damit um?
    Brakel: Na ja, viel kann man nicht machen. Man muss sich schon sagen, dass natürlich in so einer Riesenstadt wie Istanbul, irgendwas zwischen 12 und 20 Millionen Einwohner, die Wahrscheinlichkeit, dass man jetzt selbst Opfer eines Anschlags wird, natürlich sehr, sehr gering ist. Das ist ja eigentlich ähnlich, wie wenn Sie in Berlin sind oder in München sind. Prinzipiell kann es Sie überall treffen, in der Türkei vielleicht ein bisschen wahrscheinlicher noch als in Deutschland, aber Sie müssen schon sehr, sehr viel Pech haben, damit das passiert.
    "Wir sind jetzt nicht direkt am Ort des Geschehens"
    Spengler: Hat sich äußerlich irgendetwas im Stadtbild verändert seit gestern?
    Brakel: Zumindest soweit ich das jetzt gesehen habe heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit bisher nicht. Ich muss aber auch sagen, unser Büro und auch mein Wohnort ist ungefähr 20 Minuten von der Altstadt entfernt. Wir sind jetzt nicht direkt am Ort des Geschehens. Grundsätzlich ist es im Istanbuler Stadtbild immer so, dass Sicherheitskräfte sehr präsent sind. Ich muss aber auch sagen, dass sich da nicht besonders viel verändert hat im letzten halben Jahr. Es gibt zum Beispiel rund um den Taksim-Platz das Zentrum der Neustadt. Da stehen immer einige Einheiten Polizei und Wasserwerfer, die aber eigentlich eher da sind, um die Opposition vom Demonstrieren abzuhalten. Es hat sich weder im letzten halben Jahr, noch jetzt seit gestern groß etwas geändert, was die Sicherheitsvorkehrungen des Staates für etwa Touristen angeht.
    Spengler: Herr Brakel, was einen ja verwundert ist, dass es in Paris Tage gedauert hat, bis man die Attentäter dort identifiziert hatte, und die türkischen Behörden haben dafür eine Stunde gestern gebraucht. Was können die so viel besser?
    Brakel: Das kann ich natürlich auch nicht sagen. Da habe ich keinen Einblick. Es kann unter Umständen sein, dass der Körper des Attentäters stärker erhalten war. Es war vielleicht einfacher, ihn zu identifizieren. Was wir aber wissen ist: Der türkische Geheimdienst, der MIT, hat schon im Dezember beziehungsweise noch mal erneut Anfang des Jahres die Polizei darauf aufmerksam gemacht, dass eine Terrorgefahr droht und dass auch die Gefahr droht, dass touristische Ziele Anschlagsziel werden könnten. Es gibt deswegen unter Umständen die Möglichkeit, dass der Attentäter unter Umständen vorher schon bekannt war in irgendeiner Form, dass das zu einer schnelleren Identifizierung geführt hat.
    Spengler: Glauben Sie denn persönlich den Behörden, wenn die sagen, das war ein Attentäter des sogenannten Islamischen Staates?
    Brakel: Ich würde einfach denken, es gibt drei große Gruppen, die prinzipiell für Anschläge in Frage kommen. Das ist zum einen der islamische Staat oder irgendwelche anderen islamistischen Gruppierungen gerade aus dem Bereich Syrien/Irak. Dann gibt es natürlich immer noch die Kurden oder Gruppierungen, die mit der PKK verbunden sind. Und dann gibt es hier noch so eine etwas seltsame linksradikale Splittergruppe, die in der Vergangenheit auch Anschläge durchgeführt hat. Bei den beiden letzteren muss man aber sagen: Bei der PKK, die hat sich ja seit ungefähr einem Jahr sehr stark darum bemüht, mehr Anerkennung gerade aus der westlichen Welt, gerade aus Europa zu bekommen. Da passt es eigentlich nicht zusammen, dass man jetzt einen Anschlag gegen westliche Touristen führen würde. Ähnliches gilt für diese linke Splittergruppe. Die konzentrieren sich bisher immer auf staatliche Ziele, Polizei, Konsulate zum Teil auch, aber eigentlich nicht auf ausländische Zivilisten.
    Spengler: Sie würden schon sagen, wahrscheinlich war es der IS, auch wenn der sich noch nicht bekannt hat dazu?
    Brakel: Das passt auf jeden Fall ins Bild. Mit Sicherheit kann ich das natürlich nicht sagen. Aber wie gesagt, wenn man sich die Anschläge anguckt, die es auch im letzten Jahr gegeben hat - da gab es ja drei große Bombenattentate, für die alle eine dem IS zuzuordnende Zelle verantwortlich gemacht wurde aus der Türkei -, da gab es zu keinem von denen richtige Bekennerschreiben oder ein Bekenntnis im Nachhinein.
    "Wir hören ja bisher, es sei ein Syrer saudischer Abstammung gewesen"
    Spengler: Was klar ist: Es war ein Anschlag auf die Türkei. Aber unklar ist, ob es auch ein bewusster Anschlag auf Deutschland gewesen sein könnte. Das vermutet hier die Linkspartei. Der Bundesinnenminister de Maizière ist zurzeit in Istanbul. Er hat gesagt, dafür gäbe es keine Anzeichen. Was vermuten Sie?
    Brakel: Wie gesagt, alles nur Spekulationen. Im Nachhinein wird man da wenig Erkenntnisse zu bekommen können. Aber es erscheint mir schon sehr unwahrscheinlich. Wir hören ja bisher, es sei ein Syrer saudischer Abstammung gewesen. Das müsste ja eine Person gewesen sein, die Deutsch gesprochen hat oder zumindest Deutsch so gut verstanden hat, dass sie dann sich auf diesem doch relativ belebten Platz explizit eine mehrheitlich deutsche Gruppe heraussuchen konnte, um auf die zuzusteuern. Ich denke, das ist sehr unwahrscheinlich.
    Spengler: Es gibt ja auf diesem Platz nicht Ort, meinetwegen ein Café oder so - davon war auch die Rede -, wo sich wirklich gezielt Deutsche treffen?
    Brakel: Da muss ich gestehen, das weiß ich nicht.
    Spengler: Sie waren da noch nicht?
    Brakel: Doch, ich war da schon oft. Aber ich war noch nie in einem deutschen Café und ich habe auch den Ort noch nie mit einer deutschen Reisegruppe besucht. Das könnte sein. Aber zumindest da, wo der Anschlag war, das ist ein öffentlicher Platz und da sind alle möglichen Touristinnen und Touristen unterwegs.
    Spengler: Da müsste man schon gezielt suchen, um Deutsche zu treffen, und man müsste, wie Sie sagen, die deutsche Sprache können.
    Brakel: Die deutsche Sprache kennen.
    Spengler: Hat denn, um auf einen anderen Widerspruch einzugehen, die Türkei nun die Zusammenarbeit mit dem Islamischen Staat eingestellt, oder hat sie es nicht?
    Brakel: Dieser Vorwurf, dass es eine Zusammenarbeit gäbe, der ist natürlich erst mal ein bisschen schwierig. Was wir wissen ist: Die Türkei hat sehr lange Zeit, mehrere Jahre über so eine Politik der offenen Tür gegenüber allen möglichen bewaffneten Gruppierungen verfolgt, die bereit waren, in Syrien gegen das Assad-Regime zu kämpfen. Da hat man gesagt, ja, ob ihr jetzt islamistisch seid oder sonst welchen Ideologien anhängt, das ist uns relativ egal, wichtig ist, dass ihr gegen das Regime vorgeht. Darunter mag auch der islamische Staat gefallen sein. Dass es eine direkte Zusammenarbeit gegeben hat, dafür gibt es zumindest im öffentlichen Raum keine Beweise. Vielleicht haben die Geheimdienste die, aber es gibt nichts, worauf wir uns stützen können.
    Diskussion zu Waffenlieferungen an den IS
    Spengler: Die Rede ist von Waffenlieferungen an den IS und zurück gibt es dann Öllieferungen.
    Brakel: Ja, und dafür gibt es keine Beweise im öffentlichen Raum. Was es gab: Türkische Journalisten haben berichtet im letzten Jahr darüber, dass eine Waffenlieferung aufgebracht wurde von der Gendarmerie, die vermutlich in Richtung Syrien ging. An wen genau weiß man nicht. Die Regierung hat gesagt, sie ging an Turkmenen. Die Regierung hat ganz harsch dagegen reagiert. Der Redakteur der Zeitung und der Journalist wurden inzwischen ins Gefängnis gesteckt. Aber da gibt es keinen Beleg dafür, dass das jetzt explizit an den islamischen Staat ging. Es ging mit Sicherheit an eine der bewaffneten Gruppen, die in Syrien aktiv ist. Der Islamische Staat selber ist auch in der Türkei schon seit mehreren Jahren als Terrororganisation eingestuft. Was es mit Sicherheit gab ist so ein beide Augen zudrücken. Ob es eine aktive Zusammenarbeit gegeben hat, das kann man nicht sagen. In jedem Fall gibt es aber einen Wechsel seit dem Sommer, Herbst ungefähr, seit dem starken Druck der Amerikaner auf die Türkei. Es gibt mehr Razzien, es gibt mehr Verhaftungen, man geht endlich gegen Rekrutierungszentren im Land vor. Ob das in ausreichender Form passiert, oder ob da noch Luft nach oben ist, das wiederum, denke ich, können auch nur die Geheimdienste beurteilen.
    Spengler: Herr Brakel, könnte es sein, dass dieser Anschlag nun dazu führt, dass die türkische Regierung den strikten scharfen Kurs gegenüber den Kurden etwas besänftigt, etwas zurücknimmt?
    Brakel: Das würde ich mir wünschen, aber ich sehe dafür eigentlich keine Anzeichen. Ich denke, für die türkische Regierung sind das zwei verschiedene Übel von zum Teil ähnlicher Größe. Zum Teil hat man auch den Eindruck, die PKK wird noch als die größere Bedrohung gesehen. Das hat sehr viel damit zu tun, wie sich die militärische Lage in Syrien entwickelt. Das hat auch sehr viel damit zu tun, was im Südosten des Landes passiert, nicht nur von Regierungsseite, sondern man muss das fairerweise sagen auch von PKK-Seite. Die Regierung spricht immer wieder davon, dass sie gerne eigentlich irgendeine Form von Friedensprozess wieder aufnehmen wollen. Wir wissen aber nicht genau, ob das vielleicht einfach nur so dahingesagt ist beziehungsweise ob man sich vielleicht vorstellt, einen Friedensprozess, der kein echter Friedensprozess ist, weil er nicht mit der PKK verhandelt wird, sondern mit irgendwelchen anderen kurdischen Gruppen, die einem genehm sind, ob das vielleicht in nächster Zeit kommen wird. Das könnte gut sein, aber ich glaube, einen direkten Zusammenhang jetzt zu dem Anschlag gestern gibt es da nicht.
    Spengler: Kristian Brakel leitet in Istanbul die Heinrich-Böll-Stiftung. Danke für Ihre Einschätzungen und noch einen schönen Tag, Herr Brakel.
    Brakel: Sehr gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.