Samstag, 27. April 2024

Archiv

Türkei
"Erdogan ist am Ziel, er ist der alleinige Herrscher"

Nach der Aufhebung des Ausnahmezustands hat die türkische Regierung ein neues Anti-Terror-Gesetz angekündigt. Darin würden Einschränkungen der Bürgerrechte fortgeschrieben und damit die autokratische Herrschaft Erdogans weitergeführt, sagte Islamwissenschaftler Udo Steinbach im Dlf.

Udo Steinbach im Gespräch mit Martin Zagatta | 19.07.2018
    Der türkische Präsident Erdogan in blauen Hemd klatschend vor blau-weißem Himmel.
    "Erdogan hat die Macht ausschließlich in der Hand, und die Frage muss jetzt sein, was will er damit tun", sagte Steinbach im Dlf (PA/dpa/Oliver Weiken)
    Martin Zagatta: Der vor zwei Jahren in der Türkei verhängte Ausnahmezustand ist beendet, das heißt, er wurde nicht verlängert und ist deshalb heute ausgelaufen nach zwei Jahren, in denen Zehntausende aus ihrem Job entfernt und mindestens 75.000 Menschen verhaftet worden sind. Der Ausnahmezustand ist also offiziell beendet, doch ob die Türkei jetzt wieder zu einem Rechtsstaat wird, daran gibt es doch große Zweifel, wie Christian Buttkereit berichtet.
    Beitrag: Das war der Ausnahmezustand in der Türkei - In der Nacht beendet
    Ein Bericht von Christian Buttkereit. Mitgehört hat Udo Steinbach. Er ist Türkei-Experte und langjähriger Leiter des Deutschen Orientinstituts. Guten Tag, Herr Steinbach!
    Udo Steinbach: Schönen guten Tag!
    Zagatta: Herr Steinbach, mit dem Ende des Ausnahmezustands gilt jetzt offiziell, die Bürgerrechte sind wieder in Kraft, es darf wieder demonstriert werden, man kann nicht mehr willkürlich verhaftet und unter vagem Terrorverdacht jahrelang und ohne Anklage festgehalten werden. Warum gibt es daran so große Zweifel?
    Steinbach: Weil der Entwurf eines Antiterrorgesetzes bereits bekannt geworden ist, und da werden im Grunde tatsächlich die Maßnahmen, die bisher unter dem Ausnahmezustand gegolten haben, juristisch festgeschrieben. Also in der Tat, die Verfolgung von Bürgern, die Unterdrückung, die Einschränkung des Demonstrationsrechts, all das, was wir über zwei Jahre beklagt haben, alles das wird fortgeschrieben, und damit wird tatsächlich auch die autokratische Herrschaft festgeschrieben, und wir fragen uns, wohin wird sich die Türkei entwickeln, was ist am Ende wirklich das Ziel von Herrn Erdogan gewesen, was hat er damit bezweckt, dass er die autokratische Macht über Jahre an sich gerissen hat? Wohin wird er die Türkei jetzt führen? In die Demokratie gewiss nicht.
    "Das hat Erdogan gewollt, daraufhin hat er zugearbeitet seit 2013"
    Zagatta: Ändert sich denn mit dem heutigen Tag überhaupt irgendetwas?
    Steinbach: Nein, es ändert sich nichts. Wie gesagt, wir müssen uns fragen, er ist am Ziel seines Weges, das hat er gewollt, daraufhin hat er zugearbeitet seit 2013, seit den Gezi-Protesten, mit unendlichen Opfern in Politik und Gesellschaft der Türkei. So – er ist also jetzt am Ziel, er ist der alleinige Herrscher, er hat die Macht ausschließlich in der Hand, und die Frage muss jetzt sein, was will er damit tun, was wird er innenpolitisch verändern wollen? Was bedeutet das, wenn er immer wieder von der "neuen Türkei" spricht, wenn er das Jahr 2023 sozusagen als ein Zieldatum nennt, 100 Jahre Türkische Republik. Wie soll das aussehen? Und dann insbesondere natürlich auch die Frage erstens nach Europa, wie werden sich die europäisch-türkischen Beziehungen gestalten, und zweitens mit Blick auf seine Nachbarschaft – was will er in Syrien erreichen? Wie wird er die kurdische Frage in Syrien weiterentwickeln. Türkische Truppen stehen sowohl am Horn von Afrika als auch in Katar und im Irak. Was heißt das alles? Bedeutet das eine Großmachtpolitik, die er nunmehr verfolgt? All das sind Fragen, die sich jetzt stellen an dem Punkte, an dem er wirklich hin wollte. Und nun muss er handeln und muss klar sagen und zu erkennen geben, was das alles bedeutet hat.
    Zagatta: Aber das hört sich alles nicht gut an. Sie erwarten nichts Gutes, wenn ich Sie recht verstehe?
    Steinbach: Da kann man auch schlecht was Gutes erwarten. Eine Rückkehr zur Demokratie? Er hat ja kaum noch Alternativen, er kann nicht mehr zurück nach all dem, was geschehen ist, 2013 bis heute, hat er die Brücken abgebrochen. Will er mit den Kurden wieder irgendeinen Deal machen? Würden die Kurden sich darauf einlassen? Was will er in Syrien erreichen? Will er Baschar al-Assad an der Macht halten, oder will er weiterhin dafür sorgen, dass Baschar al-Assad verschwindet? Wie werden sich die russisch-türkischen Beziehungen entwickeln? Er kann nicht mehr zurück. Er hat nur noch sozusagen den Weg nach vorn offen, politisch, innenpolitisch, außenpolitisch mit den Fragezeichen, die ich gerade markiert habe, und wirtschaftspolitisch. Und das ist vielleicht das größte Fragezeichen. Es wurde gesagt, die Aufhebung des Ausnahmezustands bedeute, dass die Wirtschaft wieder Vertrauen fasst. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Erdogan hat ganz klipp und klar gesagt, dass er sich einmischen werde, dass er sich in die Politik der Zentralbank einmischen werde. Und das klingt nicht gerade danach, dass da ein Experte am Werk ist.
    "Maximal 50 Prozent der Türken stehen hinter Erdogan"
    Zagatta: Herr Steinbach, blicken Sie und blicken wir im Westen da vielleicht nicht viel zu kritisch auf die Türkei? Wenn das alles so bedrohlich ist, wenn es so schlecht läuft dort, wieso stehen denn die Türken, wieso stehen denn die Menschen zu Erdogan? Warum wird er denn dann mit deutlicher Mehrheit gewählt?
    Steinbach: Ich denke einmal, das sind zwei Perspektiven. Das eine ist die europäische Perspektive, die habe ich vielleicht gerade gezeichnet. Vielleicht habe ich sie ein kleines bisschen überzeichnet, aber sie entspricht grosso modo der Realität. Das andere ist tatsächlich die Frage, die Sie gestellt haben. Was macht ihn denn noch immer so attraktiv? Die Frage, ist er wirklich so attraktiv? Wir haben gerade gehört in dem Bericht des Korrespondenten, dass die verschiedenen Wahlen und Referenden unter sehr bedenklichen Umständen abgelaufen sind. Also maximal 50 Prozent der Türken stehen hinter ihm. Aber gleichwohl bleibt Ihre Frage gültig: Was treibt diese 50 Prozent der türkischen Öffentlichkeit weiterhin in seine Arme? Und da muss man sagen, wir haben es ein bisschen gehört in dem Bericht vorhin, viele Leute merken eigentlich gar nichts von dem Ausnahmezustand. Sie sind nicht betroffen. Betroffen sind nur 100.000, 200.000, 300.000 Menschen, und diese, die Mehrheit der Türken sieht noch immer den Strahlemann, der, der dem Westen Paroli bietet, der den Westen ökonomisch zu überholen trachtet. Denken wir an das Spektakel neulich, als er als Erster auf dem neuen Flughafen in Istanbul gelandet ist. Das haben wir in Berlin noch nicht hingekriegt. Alles das imponiert den Leuten, und das zeigt ihnen, dass die Türkei auf einem Weg ist eben von einem Underdog – der Westen hat die Türkei als Underdog behandelt, die Europäische Union, die Amerikaner. Aus diesem Status heraus kommt man jetzt in den Status einer entwickelten, einer großen Macht. Und für diese Vision steht bei vielen Türken eben immer noch Herr Erdogan.
    Steinbach: Öknomisch hat Erdogan das Land vorangebracht
    Zagatta: Jetzt haben Sie sehr viel Kritisches gesagt. Gibt es denn aus westlicher Perspektive, jetzt mal abgesehen davon, dass Erdogan einen Flughafen bauen kann, gibt es da auch irgendwas Positives?
    Steinbach: Na ja, natürlich. Etwas Positives ist, dass er das Land richtig vorangebracht hat ökonomisch. Die Brücke über den Bosporus, der Tunnel und so weiter, viele Großprojekte sind gelaufen. Das ist etwas Positives. Das hätten vielleicht andere Regierungen nicht hingekriegt. Damit hat er ja auch die autokratische Herrschaft gerechtfertigt, indem er immer wieder sagt, die Demokratie kriegt es so nicht hin, wir müssen die Verwaltung straffen, dann kriegen wir das sozusagen alles schneller hin. Das wirkt schon richtig, und das muss man sagen, da liegt ein gewisser Verdienst. Natürlich, außenpolitisch, was die Europäische Union betrifft, da wird immer wieder die Flüchtlingsfrage hervorgerufen …
    "Erdogan plant ja eigentlich die Rückführung der Syrer"
    Zagatta: Da müssen wir ihm dankbar sein, dass er da drei Millionen oder mehr als drei Millionen Syrer aufgenommen hat. Eine Leistung, die man anerkennen muss, oder sind Sie da auch skeptisch?
    Steinbach: Ja, im Lande selbst sind sie wirklich aufgenommen. Sie können in der Türkei leben, die Kinder können in die Schule gehen zum Teil. Aber er plant ja eigentlich die Rückführung der Syrer. Er spürt in der türkischen Gesellschaft den Gegenwind, der den Flüchtlingen entgegenweht, und jetzt will er sie wieder loswerden. Erst wollte er sie loswerden, indem er Baschar al-Assad stürzt und dann die Syrer zurückbringt. Jetzt will er einen Teil der Flüchtlinge loswerden, in dem er sie dort ansiedelt, wo das türkische Militär gerade Kurden vertrieben hat. Also, auch der Record in der Flüchtlingsfrage ist keineswegs eindeutig, und vor allen Dingen nicht mit Blick auf die Zukunft.
    "Ich selbst fahre nicht in die Türkei, weil ich fürchte, verhaftet zu werden"
    Zagatta: Herr Steinbach, da machen Sie ja unseren Hörern oder vielen unserer Hörern vielleicht jetzt ein richtig schlechtes Gewissen. Fahren Sie noch in die Türkei, oder ist das unmoralisch?
    Steinbach: Nein, ich fahre nicht in die Türkei. Es ist nicht unmoralisch. Es ist nicht unmoralisch, als Tourist dorthin zu gehen oder sich mit Freunden zu treffen oder eben auch politische Kontakte zu knüpfen, soweit das genehm ist. Ich selbst fahre nicht dahin, weil ich fürchte, verhaftet zu werden, einmal, weil ich sehr enge Kontakte mit der PKK hatte. Ich habe einmal den Herrn Öcalan, den obersten Führer der PKK, besucht, im Jahr 1994. Und zweitens habe ich hier in Berlin sehr viel mit den Gülen-Leuten gemacht, die ja nun als Oberterroristen gelten. Also, ich gelte als jemand, der den zweifachen Terror unterstützt, sowohl der PKK als auch der Gülenisten. Und da enthalte ich mich einfach einer Reise in die Türkei.
    Zagatta: Und trotzdem im Interview im Deutschlandfunk. Udo Steinbach, Türkei-Experte, langjähriger Leiter des Deutschen Orientinstituts. Herr Steinbach, Danke schön für dieses Gespräch!
    Steinbach: Bitte schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.