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Türkisch essen – deutsch naschen

15 Prozent der Kinder und Jugendlichen hierzulande sind übergewichtig, das betrifft besonders Kinder mit türkischen Wurzeln. Im Berliner Wedding, einem Stadtteil mit hohem Ausländeranteil, berät die Charité viele fettleibige Migranten in einer Adipositas-Sprechstunde.

Von Michael Engel | 08.10.2013
    Es gibt schon einige Studien, die das Gewicht von Migranten in Deutschland untersucht haben, und alle kommen zu dem gleichen Ergebnis: Menschen mit Migrationshintergrund haben einen durchweg höheren Body-Mass-Index als deutsche Einwohner.

    Bei der KIGGS-Studie vom Robert-Koch-Institut aus dem Jahre 2006 waren es doppelt so viele Übergewichtige unter den Migranten. Bei der jüngsten Einschulungsuntersuchung in Berlin von 2011 war das Verhältnis teilweise sogar dreifach erhöht. Besonders Kinder mit türkischer Herkunft sind massiv betroffen, sagt Dr. Anne-Madeleine Bau von der Charité:

    "Also, was wir feststellen, ist, dass Kinder mit Migrationshintergrund oder besonders auch türkische Familien besonders gerne süße Getränke trinken, und zwar wenn sie Besuch bekommen. Und der Unterschied zur deutschen Bevölkerung ist, dass türkische Familien noch wesentlich häufiger Besuch bekommen, und deshalb sind solche Getränke, die eine Wertschätzung des Gastes bedeuten, mehr im Haushalt im Vergleich zu deutschen Haushalten."

    Auch wenn der Ramadan die gläubigen Moslems zum Fasten verpflichtet, ist diese mehrwöchige Phase für die Kinder kurioserweise mit einer deutlichen Gewichtszunahme verbunden, so Christiane Röhling von der Adipositas Sprechstunde der Berliner Charité:

    "Das ist eine Beobachtung bei uns in der Sprechstunde zur Zeit des Ramadan, wo die Eltern dann nachts essen, dass die Kinder dann in der Tat tagsüber essen und nachts essen. Teilweise fasten sie auch eine Woche lang, also Kinder müssen das grundsätzlich nicht, aber es ist natürlich etwas Spannendes, weil es etwas Besonderes ist. Auf jeden Fall stellen wir fest, dass nach dem Ramadan unsere Patienten häufig zugenommen haben, aufgrund dieses Festes."

    Viele moslemische Kinder und Jugendliche gehen mittags trotz Ramadan in die Schulkantine, essen dann aber noch einmal spät abends sehr opulent mit den hungrigen Eltern. Heilig Abend spielt bei den moslemischen Familien zwar keine Rolle, doch Spekulatius, Dominosteine und andere weihnachtliche Leckereien landen trotzdem auf dem Tisch.

    Wenn Migranten ihre Ernährungsweisen im Einwanderungsland anpassen, sind es vor allem die hochkalorischen Zwischenmahlzeiten, die dazu kommen, so ein aktueller Befund der Ernährungswissenschaft. Grundnahrungsmittel indes – in vielen Ländern ist das unter anderem Weißbrot – werden dagegen kaum verändert. Dabei, so Christiane Röhling, ließe sich hier einiges optimieren:

    "Deutschland ist das Land mit den meisten Brotsorten. Wir haben über 300 verschiedene Brotsorten, kein Land der Welt kann uns da toppen, und das wissen die Migranten auch. Und dass schwarzes Brot von uns natürlich favorisiert wird, von uns Ernährungswissenschaftlern, wissen sie auch, dass der Sättigungswert von Vollkornbrot höher ist und der Blutzuckerspiegel länger konstant gehalten wird. Und die Konzentration der Kinder dadurch besser wird."

    Ernährungsberatung für Migranten muss an die jeweilige Kultur angepasst werden. Türkische Migranten zum Beispiel frühstücken im Alltag eher ungern, ein "NoGo" aus der Sicht von Oecotrophologen, während Zugezogene aus dem Libanon morgens gerne schon hochkalorische Oliven, Spiegelei und Bohnen präferieren.

    Eine Beratung erfordert viel Fingerspitzengefühl, sagt Dr. Anne-Madeleine Bau. Der Erfolg gibt ihr Recht: 50 Prozent der Ratsuchenden profitieren in Form einer Gewichtsabnahme. Das Problem dabei: Viele Migranten wissen überhaupt nicht, dass die Beratungsangebote bei Adipositas kostenlos, weil kassenfinanziert sind.

    "Natürlich kann eine Familie immer Ernährungsberatung bei ihrer Krankenkasse nachfragen, aber das wird ganz oft nicht gewusst. Also, es gibt schon ein paar Strukturen in Deutschland, wo man etwas bekommen kann. Man weiß es oft nicht. Und das ist das Problem."