Dienstag, 30. April 2024

Schadensregister für die Ukraine
Ein Schritt zu mehr Gerechtigkeit

Nach mehr als zwei Jahren Krieg hat die Ukraine nicht nur Zehntausende Tote, sondern auch eine zerstörte Infrastruktur zu beklagen. Kaputte Häuser, Verletzungen, persönliche Verluste: Wer zahlt dafür? In einem Register werden die Schäden nun dokumentiert.

04.04.2024
    Bei einem russischen Angriff zerstörtes Wohnhaus in der Stadt Saporischschja.
    Bei einem russischen Angriff zerstörtes Wohnhaus in der ukrainischen Stadt Saporischschja. (picture alliance / Anadolu / Arsen Dzodzaiev)
    Rund 450 Milliarden Euro würde es aktuell kosten, die Ukraine wieder aufzubauen, so eine Schätzung der Vereinten Nationen. Die große Frage ist, ob Russland dafür am Ende zahlen wird.
    Sicher ist derzeit nur: Um Ansprüche anzumelden, müssen Schäden genau dokumentiert werden. Das geschieht jetzt in einem Schadensregister, das eigens dafür eingerichtet wurde. Kann es zumindest teilweise für Gerechtigkeit sorgen?

    Wer hat das Schadensregister etabliert?

    Die Generalversammlung der Vereinten Nationen beschloss Mitte November 2022, die in der Ukraine entstandenen Schäden zu dokumentieren. Russland müsse für alle Verletzungen des Völkerrechts und der UNO-Charta zur Rechenschaft gezogen werden und für entstandene Kriegsschäden aufkommen, hieß es in einer Resolution.
    Etabliert wurde das Schadensregister vom Europarat. Auf einem Gipfel im Mai 2023 erklärten sich 43 Länder und die Europäische Union dazu bereit, dem Register beizutreten. Auch die EU, Kanada, Japan und die USA beteiligen sich.

    Überblick

    Das Register hat seinen Sitz in Den Haag und eine Außenstelle in der Ukraine. Aufbau und Arbeit  des Registers werden von einem Verwaltungsrat begleitet, dem unter anderem der deutsche Jurist und Entschädigungsexperte Norbert Wühler angehört. Anfang April 2024 konnten die ersten Anträge gestellt werden.

    Welche Schäden kann man dort melden?

    In einem ersten Schritt können Schäden an Wohngebäuden gemeldet werden, später sollen auch Kategorien wie der Verlust von nahen Verwandten durch den Krieg, Verletzungen, Folter, sexuelle Gewalt, Vertreibung und Zwangsumsiedlung hinzukommen. Zudem sollen auch Firmen Ansprüche auf Entschädigung erheben können.

    Wie kann man dort Ansprüche anmelden?

    Anträge können digital über eine ukrainische Regierungs-App gestellt werden, über die ansonsten Verwaltungsleistungen wie zum Beispiel die Beantragung von Pässen abgewickelt werden. Zusammen mit einem Antrag können Ukrainerinnen und Ukrainer auch Dokumente oder Fotos als Beweismittel hochladen. Die Anträge werden elektronisch an das Schadensregister in Den Haag übertragen.

    Mit wie vielen Anträgen wird gerechnet?

    Der Jurist Norbert Wühler spricht von Schätzungen, dass es zwischen sechs und acht Millionen Anträge werden könnten. Die meisten werden demnach vermutlich von Personen gestellt, die ihre Heimat verlassen mussten und aus ihrer Wohnung und ihrem Umfeld geflohen seien, innerhalb der Ukraine oder auch ins Ausland, sagt Wühler. Er rechnet hier mit vier bis fünf Millionen Fällen.
    Der Rest der Anträge werde sich auf die Beschädigung von Eigentum, auf den Verlust von Familienangehörigen, Verletzungen, Folterungen oder Verschleppungen von Kindern nach Russland beziehen. Eine größere Anzahl von Anträgen werde vermutlich auch wegen Umweltschäden gestellt werden.

    Wie wird geprüft, ob die Anträge berechtigt sind?

    Das ist noch nicht geklärt. Das Register sammelt erst einmal nur Anträge und überprüft sie auf Formalien. Für die Durchsetzung von Ansprüchen und mögliche Kompensationszahlungen ist es nicht zuständig.
    Die Entscheidung, ob ein Antrag tatsächlich berechtigt ist und welche Höhe die Entschädigung haben soll, müsse dann eine Entschädigungskommission fällen, die aber noch nicht eingerichtet worden sei, sagt Wühler. Er betont die Bedeutung dieser Kommission: „Ansonsten bleibt das tatsächlich eine theoretische Angelegenheit. Die zweite Stufe ist notwendig, damit es praktisch Gerechtigkeit für die Opfer gibt.“

    Wo könnte das Geld herkommen, um den Ansprüchen gerecht zu werden?

    Das ist für Wühler die „Frage aller Fragen“. Sicher ist: Freiwillig wird Russland auf absehbare Zeit nicht zahlen. Es gebe aber eine ganze Reihe von eingefrorenen russischen Guthaben – in erster Linie jene der russischen Zentralbank – bei europäischen und amerikanischen Banken, betont der Jurist. Die Ukraine dränge darauf, dieses Geld für Entschädigungszahlungen zur Verfügung zu stellen, doch dazu sei der Westen, zumindest im Augenblick, noch nicht bereit.
    Bei den Zinserträgen dieser Guthaben sieht die Sache inzwischen anders aus. Die EU hat im Grundsatz entschieden, diese für die Finanzierung von militärischer Hilfe zu nutzen. „Und ich sage - jetzt mal in Klammern - noch nicht für Entschädigung“, so Wühler. „Das wäre eine weitere Möglichkeit, die allerdings von der Größenordnung her bei Weitem nicht ausreichend würde.“

    Was ist mit Reparationen – soll das Register sie ersetzen?

    Nein. Traditionell werden Kriegsschäden durch Reparationen vergolten – das sind Zahlungen von Staat zu Staat. Dabei gehe es um Pauschalbeträge, die entweder festgelegt oder verhandelt worden seien, erklärt Wühler. Doch das internationale Recht sei weiterentwickelt worden und sehe inzwischen nicht nur Reparationen, sondern auch Ansprüche von Einzelpersonen und Unternehmen vor. Diese soll das Schadensregister sichern.

    ahe