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Polen und die Ukraine
Hilfe in Zeiten des Krieges

Die Regierung liefert Waffen, die Gesellschaft hilft Geflüchteten: Polen steht auch gut ein halbes Jahr nach Beginn des Krieges fest an der Seite des Nachbarlandes Ukraine. Aber das könnte sich mit dem beginnenden Wahlkampf in Polen ändern.

Von Peter Sawicki |
Menschen mit ukrainischen und polnischen Flaggen
Schätzungen zufolge sind gut 1,5 Millionen geflohene Menschen aus der Ukraine in Polen, zumeist Frauen und Kinder (picture alliance / NurPhoto / Beata Zawrzel)
Der Anlaufpunkt für geflüchtete Ukrainerinnen ist nur ein paar Dutzend Quadratmeter groß. Ausreichend, findet Natalia Rak und führt durch den länglichen, improvisiert ausgestatteten Raum. Rak, Mitte 40, zeigt auf eine mit Inseraten bestückte Pinnwand. Auf dem Tisch darunter stapelt sich Infomaterial etwa zur Eröffnung von Bankkonten und dem Arbeitsmarkt in Polen. Eine Ukraineflagge in Blau und Gelb ziert eines der Fenster.
Natalia Rak ist selbst Ukrainerin und lebt seit März in Suwalki im Nordosten Polens. Sie arbeitet für die lokale Zweigstelle des „Verbands der Ukrainer in Polen“, der Vertretung der ukrainischen Minderheit im Land. Zuvor floh sie vor russischen Raketen mit ihrem 10-jährigen Sohn aus Charkiw. In Suwalki trägt Rak heute selbst zur Integration der Neuen bei, erzählt sie:
„Wer jetzt aus der Ukraine in Suwalki ankommt – dem versuchen wir zu helfen. Wir sind schon eine Weile hier, haben uns akklimatisiert, und können den Neuen bei diesen großen Veränderungen im Leben behilflich sein.“
Auch nach fast sieben Monaten Krieg kommen noch ukrainische Geflüchtete nach Polen – mittlerweile oft aus den von Russland besetzten Gebieten. Polen ist einer der wichtigsten Unterstützer der Ukraine. Doch gesellschaftlich sind die Folgen des Krieges eine Herausforderung.
Menschen mit polnischen und ukrainischen Flaggen auf einem Platz in Krakau
Die Hilfsbereitschaft der polnischen Bevölkerung ist immens: Tausende haben Ankommende an Bahnhöfen und Grenzübergängen mit Essen, Trinken und warmen Decken versorgt. (picture alliance / NurPhoto / Beata Zawrzel)
Schätzungen zufolge sind gut 1,5 Millionen geflohene Menschen aus der Ukraine im Land, zumeist Frauen und Kinder – davon etwa 2.000 in Suwalki. In der 70.000-Einwohner-Stadt sei das Ankommen leichter als in Metropolen wie Warschau, findet Natalia Rak:
„Wir nennen uns ‚unsere große ukrainische Familie in Suwalki‘. Es fühlt sich wirklich so an. Natürlich wollen wir uns in die polnische Gesellschaft integrieren. Gleichzeitig möchten wir unsere Identität beibehalten, das ist auch für unsere Kinder wichtig. Ihnen vermitteln wir aber ebenso, dass die Menschen in Polen sehr gastfreundlich sind.“
Zahlreiche Menschen in Polen haben Ukrainerinnen zumindest zeitweise privat aufgenommen. Tausende haben Ankommende an Bahnhöfen und Grenzübergängen mit Essen, Trinken und warmen Decken versorgt.

Mehr als 400.000 Geflüchtete aus der Ukraine haben einen Job gefunden

Natalia Rak war schon 2014 aus ihrer Heimatregion Donezk innerhalb der Ukraine geflohen. Nach der Invasion Russlands verließ sie ihren Wohnort ein zweites Mal:
„Es fiel uns schwer, aber es war zu gefährlich. Charkiw wurde von Beginn an bombardiert. Drei Tage haben wir in einer U-Bahn-Station verbracht. Am 27. Februar brachte mein Mann meinen 10-jährigen Sohn und mich zur Grenze. Er selbst musste im Land bleiben. In Polen gab es dann viele, die helfen wollten. Ein Mann namens Robert war extra aus Suwalki mit dem Auto zur Grenze gekommen. Er nahm uns und eine weitere ukrainische Familie mit.“
Polens Regierung brachte gleich im März ein Gesetz zur Integration von Ukrainern auf den Weg. Es sieht vor, dass Geflüchtete zunächst für 18 Monate Zugang zum polnischen Bildungswesen, medizinischer Versorgung und zum Arbeitsmarkt bekommen. Landesweit haben nach Regierungsangaben mehr als 400.000 geflüchtete Ukrainerinnen einen Job gefunden. Polnische Familien, die Geflohene beherbergen, werden drei Monate lang mit umgerechnet etwa 10 Euro täglich bezuschusst – was vielen Familien aber nur begrenzt hilft. Deswegen können viele polnische Gastgeber ukrainische Geflohene nicht dauerhaft unterbringen, diese müssen sich dann eine eigene Wohnung suchen, sofern sie nicht in einer Sammelunterkunft leben möchten, die es in Polen weiterhin gibt.
Natalia Rak hatte Glück. Sie und ihr Sohn teilen sich eine Wohnung mit einer anderen ukrainischen Familie. Der „Verband der Ukrainer in Polen“ hat sie in Teilzeit angestellt. Rak kennt aber auch die Schwierigkeiten vieler Frauen:
„Immer noch leisten Polen große Unterstützung. In Suwalki organisiert eine Frau für 18 ukrainische Familien eine Unterkunft. Doch der Wohnraum ist begrenzt und Jobs gibt es hier wenige. Hinzu kommen individuelle Probleme. Eine Ukrainerin arbeitet bei McDonalds, sie hat zwei kleine Kinder. Wegen denen kann sie nicht an Wochenenden arbeiten, wenn der Stundenlohn höher wäre.“
Ursula von der Leyen bei ihrem Besuch in Polen mit Premierminister Mateusz Morawiecki
Ursula von der Leyen sprach bei einem Polen-Besuch im Juni von einem „leuchtenden Beispiel für die Welt“ (picture alliance / ZUMAPRESS.com / Dominika Zarzycka)
Bei allen Herausforderungen, das betont Natalia Rak mit Nachdruck, bleibe aber die gesellschaftliche Willkommenskultur in Suwalki ungebrochen.
Für den Umgang mit den Geflüchteten aus der Ukraine hat Polen viel Lob erhalten. Die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen sprach bei einem Polen-Besuch im Juni von einem „leuchtenden Beispiel für die Welt“. Großen Anteil daran tragen lokale Bürgerinitiativen. Zum Beispiel das „Komitee zur Hilfe für die Ukraine“ in Lublin in Ostpolen – ein Zusammenschluss mehrerer Gruppen, die sich für die Integration von Zuwanderern einsetzen. Jeden Donnerstag diskutiert das Komitee über aktuelle Themen und Anliegen. Anna Dabrowska ist dessen Sprecherin.
„Unser Komitee entstand am 24. Februar, dem Tag des Kriegsausbruchs, um 10 Uhr. Wenn man so lange in diesem Bereich aktiv ist und viele Leute kennt, ist so etwas möglich. Wir richteten einen Krisenstab ein und brachten die Kooperation mit der Stadt auf den Weg. Wir erklärten, welche Hilfe wir benötigen, und schon bald meldeten sich Hunderte Freiwillige bei uns.“
Daneben sind 80 Personen als Angestellte tätig. Große Teile der Infrastruktur stellt die Stadt zur Verfügung – Lublin hat eine jahrelange Erfahrung in der Flüchtlingshilfe, die Zusammenarbeit zwischen den Behörden und Hilfsinitiativen gilt als sehr gut. Finanziert wird die Initiative überwiegend von internationalen Stiftungen. Hilfe für Geflüchtete gibt es rund um die Uhr, betont Anna Dabrowska. Gleichwohl haben sich die Aufgaben verändert.
Erstversorgung wie in den ersten Kriegstagen ist jetzt eher selten gefragt. Meistens stehen Fragen rund um einen längeren Aufenthalt im Fokus. So hilft das Komitee etwa bei der Arbeitssuche und Behördengängen, bietet Polnisch-Kurse an und betreibt Sammelunterkünfte.

„Nein! Nicht Polen meistert die Krise, sondern lokale Gemeinschaften.“

Die gesellschaftliche Unterstützung für Ukrainer lobt auch Polens Regierung regelmäßig – wie zuletzt Michal Dworczyk, Leiter der Kanzlei des polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki:
„Bei den materiellen Hilfen für die Ukraine müssen wir den Beitrag der polnischen Gesellschaft hervorheben. Das schließt die private Versorgung daheim, aber auch Lieferungen von Gütern in die Ukraine ein. Ich habe gelesen, dass dies alles eine Summe von mehr als 10 Milliarden Zloty – circa 2,1 Milliarden Euro – ergibt.“
Mit derlei Aussagen kann Anna Dabrowska wenig anfangen.
„Wenn ich höre, wie unsere Regierung sich lobt und sagt, Polen meistere die Krise. Nein! Nicht Polen meistert die Krise, sondern lokale Gemeinschaften. Und das unter schwersten Bedingungen. Dennoch ist die gesellschaftliche Antwort auf den Krieg, die Empathie mit Ukrainern und die Bereitschaft zu freiwilliger Arbeit etwas Ermutigendes. Eine große Ressource.“
Dies koste jedoch viel Energie, ergänzt Dabrowska. Viele Helfer seien nach fast sieben Monaten müde. Die Aktivistin kritisiert außerdem den politischen Umgang mit den Geflüchteten aus der Ukraine. Zum Beispiel, dass die derzeit 200.000 ukrainischen Kinder an Polens Schulen zumeist strikt nach polnischen Lehrplänen unterrichtet werden. Dabrowska vermisst auch Konzepte, um den Mangel an Wohnraum zu beheben. Tatsächlich, so sagt sie es, nehme ihre Organisation der Regierung die Arbeit ab.
Andrzej Duda und Wolodymyr Selenskij
Andrzej Duda und Wolodymyr Selenskij: Seit der russischen Invasion steht Warschau eng an der Seite Kiews (picture alliance / ZUMAPRESS.com / Sarsenov Daniiar / Ukraine Preside)
„Der Staat ist nicht da. Es gibt zwar das Gesetz zur Gleichstellung ukrainischer Personen, ich erwarte aber mehr. In den ersten Wochen haben wir nonstop gearbeitet und kaum geschlafen. Und die Herren Premier und Präsident spenden uns vor allem Beifall. Sie sollten sich aber hier mal sehen lassen und uns unterstützen. Was vor allem fehlt, ist ein langfristiger Plan.“
Ähnliche Vorwürfe formulieren viele Kommunen sowie Freiwillige, die Geflüchteten an der polnisch-ukrainischen Grenze geholfen haben.
Kritik an der polnischen Regierung kommt also vor allem aus dem eigenen Land. Dass Polen außenpolitisch planlos agiere, ist derweil kaum zu hören. Seit der russischen Invasion steht Warschau eng an der Seite Kiews. Sichtbar war dies zum Beispiel Ende Mai, als Präsident Andrzej Duda in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, eine emotionale Rede hielt:
„Liebe Freunde, lieber Wolodymyr, wie soll ich jetzt sprechen, wenn meine Kehle vor Rührung zugeschnürt ist? Ich bin heute im schönen, stolzen Kiew, der Hauptstadt einer freien Ukraine. Ich war auch kurz vor Kriegsbeginn hier, um zu sagen, dass Polen die Ukraine niemals im Stich lassen wird. Trotz der enormen Zerstörung haben Euch die russischen Invasoren nicht gebrochen. Und sie werden es auch nicht schaffen!“

Militärische Unterstützung Polens maßgeblich

Dreimal seit Kriegsbeginn war Duda bislang in der Ukraine. Im März reiste zudem Mateusz Morawiecki als einer der ersten europäischen Regierungschefs nach Kiew. Früh hat Polen innerhalb der EU auf scharfe Sanktionen gegen Russland gedrängt – und ist mit einem Embargo auf Kohle selbst vorangegangen.
Als maßgeblich gilt außerdem die militärische Unterstützung Polens. Die Stadt Rzeszów nahe der Grenze zur Ukraine ist ein Drehkreuz westlicher Waffenlieferungen. Polen selbst hat Militärgerät im Wert von 1,8 Milliarden Euro nach Kiew geschickt, mehr als jedes andere EU-Land – darunter mehr als 200 Kampfpanzer sowjetischer Bauart.
Der Politologe und Publizist Piotr Buras von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations ist ein Kenner polnischer und europäischer Politik. Er hält die Unterstützung der Ukraine durch Polen für bemerkenswert. Geleitet werde Warschau, so Buras, dabei auch von der eigenen historischen Erfahrung einer russischen Invasion:
„In Polen gibt es einen großen politischen Konsens darüber, dass die Ukraine unseren Krieg führt. Und ich glaube, es ist auch wichtig zu verstehen, dass eine direkte militärische Gefahr, die aus Russland ausgeht, in Polen etwas ist, was als möglich betrachtet wird. Während für Westeuropa die einzige Gefahr, die tatsächlich droht, ein Nuklearkrieg ist. Das ist eine völlig andere Perspektive.“
Polens Panzerlieferungen an die Ukraine haben jedoch zu Spannungen mit Deutschland geführt. Geplant war, dass Berlin eigene Panzer nach Warschau liefert, als Ersatz für die polnischen Bestände, die in die Ukraine gegangen sind. Dieser sogenannte Ringtausch stockt aber. Polen reiche das deutsche Angebot, schrittweise 20 Panzer des Typs Leopard 2 zu liefern, nicht aus, wie es heißt.
Ein Kampfpanzer der Bundeswehr vom Typ Leopard 2 A7V steht auf dem Übungsplatz.
Ein Kampfpanzer der Bundeswehr vom Typ Leopard 2 A7V (picture alliance / dpa / Philipp Schulze)
Die Verzögerung sorgt in Warschau für scharfe Kritik – und einen teilweisen Kurswechsel. So hat die PiS-Regierung vor kurzem schwere Waffen in Südkorea bestellt. Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak sagte dazu:
„Südkoreanisches Militärgerät hat sich bewährt, denn das Land befindet sich seit 1950 im Krieg. Die dortige Rüstungsbranche hat enormes Potenzial. Davon profitieren wir nun. Wir warten nicht darauf, bis uns Deutschland 20 Leopard-Panzer liefert oder halt nicht. Ich meine das ironisch, denn die deutsche Unterstützung hat nur symbolischen Charakter.“
Experte Piotr Buras macht vor allem Fehler in der Kommunikation für den stockenden Ringtausch verantwortlich. Offenbar hätten Polen und Deutschland nicht von Anfang an konkrete Details vereinbart. Gleichzeitig beobachtet er, dass das deutsche Image in Polen im Zuge des Krieges leidet:
„Das Wichtigste ist, dass wir den Ukrainern das liefern, was sie brauchen. Und das können die Polen und Deutschen auch ohne den Ringtausch machen. Deutschland wird vorgeworfen, jahrelang eine völlig naive Russlandpolitik betrieben zu haben. Diese Kritik an Deutschland ist in Polen ziemlich weit verbreitet. Man sollte das nicht unterschätzen.“
Das betreffe etwa die früher engen Beziehungen Deutschlands zu Russland in der Energiepolitik. Buras bemängelt aber, dass die PiS-Regierung legitime sachliche Kritik an Deutschland für innenpolitische Zwecke instrumentalisiere.

Führungsvakuum der Europäischen Union im Zuge des Krieges in der Ukraine

Zu den USA hingegen hat Polen sein Verhältnis spürbar verbessert. Ausdruck davon war auch ein Besuch von Präsident Joe Biden Ende März. In Rzeszów sicherte Biden für den Fall einer russischen Attacke auf Polen die Unterstützung der NATO samt der USA zu – was im Land als wichtiges Signal angesehen wird. Washington lobt Polens militärisches Engagement in der Ukraine ausdrücklich. Vergessen zu sein scheint der frühere Schulterschluss der PiS-Regierung mit Bidens Vorgänger Donald Trump. Auch die Kritik aus den USA an der kontroversen Justizreform Warschaus ist leiser geworden.
Hat Polen damit außenpolitisch eine Führungsrolle übernommen? Piotr Buras vom European Council on Foreign Relations ist hier zurückhaltend.
Er diagnostiziert in der Europäischen Union zwar ein Führungsvakuum im Zuge des Krieges in der Ukraine – auch wegen einer zögerlichen deutschen Politik. Zwar hat Polen laut Buras sein internationales Standing gesteigert. Doch der Experte schränkt ein:
„Ich habe aber meine Zweifel, ob Polen diese Lücke füllen kann. Wegen des politischen Potenzials, das geringer ist als im Fall von Frankreich oder Deutschland. Und wegen der Rechtsstaatlichkeitsprobleme, wegen einer relativen Isolierung in der Europäischen Union, kann Polen diese Rolle in diesem Maß nicht spielen.“
Wie schlecht es weiterhin um das Verhältnis Warschaus zu Brüssel bestellt ist, zeigt die Debatte um den Corona-Wiederaufbaufonds. Daraus stehen Polen eigentlich etwa 35 Milliarden Euro zu. Im Mai durch den Sejm beschlossene Rücknahmen der Justizreform reichen der EU-Kommission aber nicht, die Auszahlung lässt auf sich warten.
US-Präsident Joe Biden bei seinem Besuch in Polen.
US-Präsident Joe Biden bei seinem Besuch in Polen. (picture alliance / AA / Stringer)
PiS-Generalsekretär Krzysztof Sobolewski drohte unverhohlen mit einer Blockadepolitik auf europäischer Ebene:
„Unsere Möglichkeiten umfassen auch das Vetorecht. Man kann es sehr eng oder sehr weit auslegen, bei weniger wichtigen oder durchaus relevanten Themen nutzen. Wir werden jetzt die Taktik ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ anwenden.“
Regierungschef Mateusz Morawiecki sprach zudem von „EU-Sanktionen“ gegenüber Polen, die schlimmer seien, als die gegenüber Russland.
In Polen wird spätestens in einem Jahr ein neues Parlament gewählt. Mit Blick darauf ist der Politologe Piotr Buras angesichts des weiter schwelenden Streits zwischen Warschau und Brüssel besorgt:
„Das ist die Rhetorik, die jetzt im Spiel ist. Die zeugt von einem sehr tiefen Konflikt, sie deutet auch darauf hin, dass die antieuropäische Tendenz eine große Rolle spielen wird bei der Mobilisierung der Wählerschaft der Regierungspartei.“
Im anlaufenden Wahlkampf spielen die ökonomischen Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine eine Hauptrolle – vor allem hohe Energiepreise und die Inflation, die in Polen derzeit bei 16 Prozent und damit deutlich über dem EU-Durchschnitt liegt. Fachleute und die Opposition werfen der PiS-Regierung vor, die Inflation nicht zu bekämpfen und sie vielmehr durch eine jahrelang lockere Ausgabenpolitik verschärft zu haben.
Der Chef der zentristischen Partei „Polen 2050“, Szymon Holownia, spitzte es so zu:
„Es ist unfassbar, was diese Nichtsnutze angerichtet haben. Neulich habe ich in Polen und Deutschland beim gleichen Discounter eingekauft, um die Preise zu vergleichen. Ich habe jeweils die gleiche Summe bezahlt, nur dass in Polen der Durchschnittslohn dreimal niedriger ist. Die PiS hat uns deutsche Gehälter und polnische Preise versprochen, stattdessen haben wir deutsche Preise und polnische Gehälter.“

„Viele sorgen sich vor der nahen Zukunft und dem Winter“

Die Regierung versucht zwar gegenzusteuern. Sie hat etwa die Mehrwertsteuer für bestimmte Waren gesenkt. Zahlreiche Haushalte, die noch mit Kohle heizen, sollen einen Zuschuss erhalten. Dennoch sinkt die Zustimmung für PiS. Seriöse Umfragen sehen derzeit die Opposition vorne.
Die finanzielle und militärische Unterstützung der Ukraine durch Polen werde der Wahlkampf indes nicht schmälern, glaubt Politikbeobachter Piotr Buras, über die Notwendigkeit von Waffenlieferungen herrsche parteiübergreifend Einigkeit. Dennoch werde Polen, je länger der Wahlkampf andauert, mehr mit sich selbst beschäftigt sein:
„Die Unterstützung für die Ukraine ist in Polen in der Bevölkerung nach wie vor sehr groß. Gleichwohl denke ich, dass die Unfähigkeit der Regierung, diese Probleme zu lösen, die ziemlich düsteren wirtschaftlichen Aussichten, dass das alles natürlich zu Missmut in der Bevölkerung führen kann.“
Flüchtlingshelferin Anna Dabrowska vom „Lubliner Komitee zur Hilfe für die Ukraine“ schaut mit Sorge auf die kommenden Monate. Zwar hinterfragt bisher so gut wie niemand die Ukraine-Politik der Regierung. Dabrowska befürchtet aber, dass die hohe Sympathie für die Ukraine und die von dort geflüchteten Menschen nachlassen könnte:
„Das Mitgefühl schwindet etwas. Der Krieg wird ein wenig zum Begleitrauschen. Viele sorgen sich vor der nahen Zukunft und dem Winter, was mich nicht wundert, das könnte die Stimmung beeinflussen. Manchmal hören wir schon so etwas wie: ‚Wegen der Ukrainer bleibt weniger für mich übrig‘.“
Natalia Rak hingegen, die aus Charkiw geflohen ist und seit März in Suwalki im Nordosten Polens lebt, glaubt weiter an die Gastfreundschaft und Solidarität im Land. Auch wenn ihr die Heimat fehlt, kann sie sich vorstellen, länger in Polen zu bleiben. Weitreichende Pläne – so die Ukrainerin – schmiede sie vorerst keine mehr:
„Wissen Sie, wir haben uns angewöhnt, flexibel zu sein, auch wegen unserer ersten Flucht aus Donezk im Jahr 2014. Momentan leben wir in dieser wunderbaren Stadt mit ihren tollen Menschen. Ob wir in die Ukraine zurückkehren? Nun, warten wir ab, bis der Krieg vorbei ist, bis wir gewonnen haben.“