Montag, 29. April 2024

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Ukrainepolitik
Russen fürchten harte Wirtschaftssanktionen

Er sehe aktuell eine "weitere Verschärfung der Situation, die schon in der Krim begonnen hat", sagte Professor Klaus Segbers von der FU Berlin im DLF. Er hält sich zurzeit in Moskau auf. Gleichzeitig realisiere man in Russland, dass für die Annexion der Krim einen Preis gezahlt werden müsse. Besonders die Mittel- und Oberschicht fürchte Wirtschaftssanktionen.

Klaus Segbers im Gespräch mit Dirk Müller | 08.04.2014
    Dirk Müller: Kippt nach der Krim auch noch der Osten der Ukraine? Jetzt gibt es eine eigene Dynamik in dieser Region um Donezk und Charkow beispielsweise, die an der Entwicklung auf der Krim erinnern. Immer mehr russische Sympathisanten machen mobil, auch mit Gewalt, wenn es sein muss, und besetzen wichtige Verwaltungen und Regierungsgebäude in zahlreichen Städten.
    Der Osten der Ukraine und die Politik von Wladimir Putin – unser Thema nun mit Professor Klaus Segbers, Osteuropa-Fachmann an der FU in Berlin, zurzeit in diesen Tagen in Moskau. Guten Tag.
    Klaus Segbers: Guten Tag.
    Müller: Herr Segbers, werden Sie in dieser Situation immer mehr zum Russland-Versteher?
    Segbers: Ich hoffe, dass ich, wenn überhaupt, ein ganz guter Russland-Versteher und auch ein ganz guter Ukraine-Versteher bin. Aber ich sage meinen Studirenden auch immer, verstehen heißt nicht billigen. Jeder der glaubt und hofft, dass er Expertise hat und sie sich aneignen kann, muss versuchen, Dinge zu verstehen, aber es ist was ganz anderes, sie auch zu akzeptieren.
    Müller: Das heißt, Sie suchen eher nach Erklärungen, denn nach Rechtfertigungen?
    Segbers: Ich suche vor allen Dingen nach Erklärungen, weil nur auf der Basis einer vernünftigen Auswahl plausibler Erklärungen man auch Handlungsstrategien diskutieren kann und Handlungsstrategien vorschlagen kann.
    Müller: Wie können Sie uns erklären, dass Moskau im Osten der Ukraine aktiv ist?
    "Moskau beginnt zu verstehen, dass Annexion der Krim einen Preis haben wird"
    Segbers: Zunächst einmal würde ich vorschlagen, vorsichtig zu sein damit. Was wir erleben ist eine sehr ernste Entwicklung, die von vielen im Westen und in der Ukraine seit längerem befürchtet wurde. Eine Entwicklung, die in die Richtung einer Destabilisierung der Gebiete – Sie haben es eben gehört – vor allen Dingen in Charkow, Donezk und Lugansk zielt. Wir wissen aber nicht genau, wir wissen es wirklich nicht, ob das in diesem Fall anders als auf der Krim im wesentlichen lokale Kräfte sind, die das anzetteln, oder ob das teilweise auch aus Moskau orchestriert wird.
    Das ist deshalb schwer zu sagen, weil mein Eindruck hier in Moskau schon ist, dass einige langsam beginnen zu verstehen, dass die Europäische Union und andere Akteure im Westen es ernst meinen, dass die Annexion der Krim einen Preis haben muss, haben wird, und dass eine weitere Eskalation mit russischer Beteiligung im Osten der Ukraine einen noch viel höheren Preis haben würde. Es scheint mir so, dass das langsam einsickert.
    Insofern kann ich im Augenblick nicht verlässlich sagen, ob das, was wir seit gestern erleben im Osten der Ukraine, ganz wesentlich auch auf Moskauer Inszenierungen zurückgeht.
    Müller: Sie sagen, Herr Professor Segbers, Sie sehen dort einige, die sich beeindrucken lassen. Gehört der Präsident, gehört der Ministerpräsident auch dazu?
    Putins Handeln beschert ihm neues Umfragehoch
    Segbers: Nun, mit denen hatte ich jetzt leider noch nicht Gelegenheit zu sprechen. Insofern fällt mir da ein Urteil schwer. Aber die sind natürlich nicht ganz im luftleeren Raum, auch wenn diese Entscheidung, etwa die Krim-Entscheidung ganz offensichtlich in einem sehr, sehr kleinen Kreis um den Präsidenten Putin herum getroffen wurde. Aber einige der auch im Medienbereich sichtbaren und auch präsenten Experten, Ratgeber, Konsultanten scheinen, eine gewisse Nachdenklichkeit aufgenommen zu haben.
    Man muss aber zugleich sehen und immer wieder darauf hinweisen – und das ist ein Problem auch für uns in der Europäischen Union: Für das, was in der Krim geschah und mit der Krim geschah, hat der russische Präsident eine Mehrheit von über 70 Prozent. Das heißt, seit den problematischen Wahlen Ende 2011 gab es nicht mehr ein so großes Einvernehmen zwischen der Staatsspitze und dem Großteil der Bevölkerung, die offenbar sehr hoch – das begegnet mir jeden Tag -, sehr hoch emotionalisiert ist über vieles, was man in den vergangenen Jahren angesammelt hat, und jetzt glaubt, eine Gelegenheit gefunden zu haben, endlich mal zurückzuzahlen.
    Müller: Wäre denn der Osten der Ukraine, bestimmte Regionen im Osten der Ukraine, im Moment territorial immer noch souverän, Bestandteil der Ukraine – das wird zumindest ja im Westen und in der Ukraine selbst von niemandem bezweifelt, beziehungsweise nicht von den prowestlichen und pro-ukrainischen Kräften bezweifelt -, wäre das eine völlig neue andere Dimension?
    Segbers: Das wäre eine deutliche weitere Verschärfung der Situation, die schon mit der Krim begonnen hat. Die Landnahme auf der Krim war eine klare Verletzung internationalen Rechts, auch Völkerrechts. Es gibt dafür keine Grundlage. Das Referendum hat ebenfalls keine verfassungsmäßige Grundlage in der ukrainischen Gesetzgebung, und die Krim war und ist Teil der Ukraine. Das konnte nicht verhindert werden.
    Ich sehe das in den östlichen Regionen der Ukraine ein bisschen anders. Das wäre eine klare weitere Eskalation, wenn es hier zu einer Einmischung russischer Truppen und Sicherheitskräfte käme, und es wäre auch deshalb eine neue Qualität, weil dort die Meinungslage in der Bevölkerung in den eben genannten drei Regionen sehr viel gemischter ist. Es ist nicht einmal sicher, ob bei einem Referendum es eine klare Mehrheit oder überhaupt eine Mehrheit gäbe für einen Anschluss in Russland. Die Situation ist da sehr viel komplexer und es hätte eine neue Qualität, wenn dort weiter eskaliert würde.
    Russlands Finanzlage ist jetzt schon angespannt
    Insofern muss auch die EU sich darauf einrichten, dass wenn das geschähe, was wir noch nicht wissen und nicht hoffen, dann auch eine neue Stufe, die sogenannte Stufe III von Sanktionen einsetzen müsste.
    Müller: Reden wir, Herr Segbers, über diese Sanktionen. Viele im Westen haben ja gesagt, Sie haben das eben auch ein bisschen angedeutet, wir haben das, der Westen hat das mit der Krim so hingenommen, man hat kaum was unternehmen können, man hat nicht wirklich operativ handeln können, bis auf diese Sanktionen. Da haben auch viele gesagt, das sind Sanktiönchen, das ist Kosmetik, das sind kleine Symbole, kleine Signale, aber keine wirklichen Sanktionen. Wirtschaftssanktionen, das wäre die dritte Stufe, von denen Sie jetzt gesprochen haben. Einige wiederum haben gesagt, dann wartet mal ab, selbst diese kleinen Sanktionen, diese Sanktiönchen vermeintlicherweise, haben jetzt schon Auswirkungen in Moskau. Haben Sie diese gesehen, gespürt?
    Segbers: Ja, ich denke, dass es diese Auswirkungen gibt, nicht unbedingt in dieser Woche oder in den allernächsten Tagen, zum Teil auch das schon, aber in der Zukunft. Es gibt eine ganze Reihe von Vereinbarungen, auch die Zusammenarbeit etwa der NASA mit der entsprechenden russischen Agentur, die im Augenblick gestoppt oder unterbrochen worden sind. Es gibt die berühmten Kontosperrungen, es gibt die Visa-Verweigerungen, es gibt auch in meinem Bekanntenkreis zu beobachtende Tendenzen, dass Leute sagen, sie müssen sich jetzt auf den Weg nach Europa machen, um Gelder umzuschichten oder irgendwo abzuheben und woanders hinzubringen. Also es gibt eine gewisse Wirkung schon jetzt.
    Wenn es aber dann in der Stufe III zu konkreten Maßnahmen bei Finanzmärkten käme, zu konkreten Maßnahmen im Handelsbereich, vor allen Dingen im Energiesektor, dann hätte das auf den russischen Staatshaushalt, der zu 50 Prozent seiner Einnahmen abhängig ist vom Export von Gas und Öl, massive Auswirkungen, und das in einem Jahr, wo man ohnehin schon vor dieser laufenden Krise mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von ungefähr 1,5 Prozent zu rechnen hatte.
    Müller: Herr Segbers, geben Sie uns da ein Beispiel. Sie sagen, in Ihrem Bekanntenkreis, ohne alles preiszugeben. Da gibt es durchaus Vertreter, die Vermögen, die Gelder in Westeuropa investiert haben und die jetzt darum fürchten, dass das verloren geht.
    Segbers: Natürlich.
    Ober- und Mittelklasse fürchtet weitere Sanktionen
    Müller: Welche Konsequenz wird jetzt gezogen, wenn sie nicht einreisen dürfen? Sie dürfen jetzt noch einreisen, aber in der Konsequenz, in der möglichen Konsequenz, die da droht.
    Segbers: Es wird bei dem Teil der oberen russischen Mittelklasse bemerkbar, die ja bei aller Skepsis gegenüber westlichen Lebensformen und westlichen Regelsystemen auch die Vorteile eines westlichen Lebensstils außerordentlich genießen, genossen haben, erfreulicherweise in den letzten 15, 20 Jahren, die sehr reiseaktiv sind, die sehr konsumaktiv sind, die ihre Kinder oft auf gute ausländische Schulen schicken, die ihren Urlaub im westlichen Ausland verbringen. Das sind alles Dinge, die dann so nicht mehr möglich sein werden, und das beginnt, jetzt zum Teil schon zu greifen.
    Es ist natürlich ein Grummeln, eine Art von Unruhe, die die russische Regierung, die russische Führung, die ohnehin – ich sagte das eben – vor großen wirtschaftlichen Problemen steht, die dann sicherlich auch ihre Popularität ankratzen werden, in der Zukunft bedenken muss. Das ist ein Punkt, den die russische Führung sieht, und das ist auch ein Punkt, den die Europäische Union sehen sollte. Sie werden, um es offen zu sagen und nicht darum herumzureden, wie auch in der Krim auch im Falle weiterer Eskalationen in der Ostukraine dort keine Truppen hinschicken. Die Ukraine ist kein NATO-Mitgliedsland. Aber wir müssen ganz klare und harte wirtschaftliche Sanktionen in einem solchen Fall einsetzen.
    Müller: Um das noch mal auf die kleinere Ebene zu bringen, auf die familiärere Ebene, oder der Betroffenen: Könnte man das so zusammenfassen, Herr Segbers, der Kapitalismus ist gut, der ist sehr gut, aber nicht unter westlichen Bedingungen?
    Segbers: Ja, das könnte man so zusammenfassen, und es kommt hinzu ein gewisses, ich sage jetzt mal in Anführungszeichen, "Minderwertigkeitsempfinden", wofür zahlreiche Beispiele angeführt werden können - ich will die jetzt nicht alle aufzählen. Nach dem Ende des Kalten Krieges, dass Russland in vielen Bereichen nachgegeben hat, bei der NATO-Osterweiterung, bei der Kosovo-Geschichte und bei vielen anderen Fragen, und dass man insgesamt nicht ernst genommen wird. Das ist eine hohe Emotionalisierung, ich sagte das eben schon, die mir häufig begegnet, und egal ob sie zurecht oder zu Unrecht besteht, es ist ein Faktor hier, der politikmächtig ist, der politikfähig ist und den wir, auch wenn wir ihn nicht teilen, einpreisen müssen.
    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk Professor Klaus Segbers, Osteuropa-Fachmann an der FU in Berlin. Danke für dieses Gespräch nach Moskau.
    Segbers: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.