Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Umgang mit Russland
Die Sanktionen und ihre Folgen für ostdeutsche Unternehmen

Zwar ist mit den jüngsten Sanktionen gegen Russland das Aus für die Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 ausgeblieben, worunter auch deutsche Firmen gelitten hätten. Doch für Entwarnung an der Ostseeküste ist es zu früh.

Von Sabine Adler und Silke Hasselmann | 25.10.2020
Russische Verlegeschiff im Juli 2020 vor Rügen
Russische Verlegeschiff im Juli 2020 vor Rügen (picture alliance / dpa / Stefan Sauer)
Dass Russland mit der Annexion der Krim 2014 völkerrechtswidrig Grenzen in Europa verschoben hat, war für die Europäische Union eine so grobe Verletzung der Nachkriegsordnung, dass sie nicht einfach zum Tagesgeschäft zurückkehren konnte. Sie verhängte Sanktionen gegen Russland. Ähnlich reagierte die EU vor einigen Tagen auf die Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny im August mit dem verbotenen Chemiekampfstoff Nowitschok. Während die Strafmaßnahmen nach der Krim-Besetzung vor allem die Wirtschaft betrafen, sind von den neuen Einschränkungen hauptsächlich Personen aus dem engen Kreis um den russischen Präsidenten Wladimir Putin betroffen.
Sie dürfen jetzt weder in die EU einreisen, noch dort auf ihre Vermögenswerte zugreifen oder Finanzmittel erhalten. Die Betroffenen bekleiden Spitzenpositionen im Geheimdienst, im Militär und in der Präsidialverwaltung. Die Sanktionsregeln gelten außerdem für das russische Forschungsinstitut für Organische Chemie und Technologie.
Flaggen im Europäischen Parlament in Brüssel
EU und Russland - Sanktionen sind Mittel, kein Zweck
Sanktionen, wie die EU Russland auferlegt hat, ersetzen keine Politik, sondern gehören zum Werkzeugkasten der Diplomatie, kommentiert Marc Engelhardt. Ohne Plan führten sie nirgendwo hin. Werden sie aber von einer breiten Mehrheit von Staaten getragen, dann können sie erfolgreich sein.
"Diese Sanktionen, die finde ich eigentlich richtig. Die finde ich richtig, weil hier ganz einfach gegen ein Menschenrecht verstoßen wurde und das ist einfach meine ganz klare Meinung dazu", sagt Elektroingenieur Thomas Brünig, verantwortlich für das Russland-Geschäft in der Brandenburger Firma Bals. Der 55jährige hat vier Jahre in Russland verbracht und ist bis heute im ganzen Land unterwegs. Er erlebt seit geraumer Zeit, wie verschnupft die russischen Partner mittlerweile auf die immer neuen westlichen Sanktionen reagieren, die nicht nur die EU, sondern oft auch die USA mit beschließen.
"Wir merken es, dass gewisse Teilbereiche mit Herstellern, Lieferanten aus dem asiatischen Bereich besetzt werden, wo früher europäische und deutsche Unternehmen dort tätig waren. Wir haben es mit Schwierigkeiten in der Zollabwicklung zu tun und vor allem mit dem preislichen Druck bei bestimmten Geschäften. Das sind die spürbarsten Merkmale, die wir dort erkennen."
Seine Firma mit ihren knapp 300 Beschäftigten stellt Elektrosteckverbindungen her, das tat sie auch für die russische Armee. Bis 2014, denn seit der Annexion der Krim und den daraufhin verhängten Sanktionen sind Exporte sogenannter dual-use-Produkte, die zivil und militärisch verwendbar sind, tabu.
Ein kleiner Seufzer der Erleichterung
Quer durch die deutsche Wirtschaft ging ein kleiner Seufzer der Erleichterung, weil mit den jüngsten Sanktionen der befürchtete Baustopp oder gar das Aus für die Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 ausgeblieben sind, worunter auch deutsche Firmen gelitten hätten. Doch für Entwarnung an der Ostseeküste ist es zu früh.
Oktober 2020, die EU hatte sich gerade auf die Nawalny-Sanktionen geeinigt, da stattet die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig (SPD), dem Industriehafen Lubmin einen Besuch ab. Dort landet russisches Erdgas an. In silberglänzenden geschwungenen Röhren wird es aus der Nord-Stream-Leitung von Lubmin aus über Land durch Deutschland und nach Westeuropa losgeschickt. Genau so soll einmal Nord Stream 2 funktionieren, doch noch ist es nicht soweit.
Manuela Schwesig (SPD), Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, im Hafen von Mukran
Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) besucht den Hafen Mukran (dpa / Jens Büttner)
Umso mehr freue man sich über den Besuch aus der Staatskanzlei, sagt Steffen Ebert, Nord-Stream-2-Sprecher für Deutschland. "Die Anlandestation hier in Lubmin für die Nord Stream 2 ist bereits seit Ende letzten Jahres technisch betriebsbereit. Seitdem sind noch ein paar Arbeiten gelaufen wie zum Beispiel Asphaltierung der Straßenwege, ein bisschen Rostschutz und so weiter. Aber die Anlage ist per se betriebsbereit." 97 Prozent der Leitung sind verlegt. Es fehlt noch ein Teilstück südöstlich vor Bornholm.
"Wir haben ja aufgrund der Sanktionsandrohungen durch die amerikanische Seite Ende letzten Jahres die Verlegearbeiten stoppen müssen. Wir suchen jetzt aktuell immer noch Lösungen für den Weiterbau, um Erdgas zu liefern." Schon das erste Ostseepipeline-Projekt habe die Landes- wie die Kommunalpolitik von Mecklenburg-Vorpommern unterstützt, sagt Ebert. Umgekehrt hätten russische Geschäftspartner stets ihre Lieferverträge erfüllt und Investitionszusagen eingehalten, fügt der Bürgermeister von Lubmin, Axel Vogt hinzu. In die Deutschen Ölwerke in Lubmin seien wie vereinbart russische Gelder geflossen und auch der Nordstream-2-Bau verlief lange reibungslos.
"In der Planungsphase, in der Bauphase und in der jetzigen Betriebsphase war und ist Russland stets ein zuverlässiger Partner gewesen. Auch bei den weiteren russischen Investments."
Abhängig von der ankommenden Gasmenge erhält die Gemeinde Lubmin allein aus dem Betrieb der Gas-Empfangsstation Nord Stream 1 jährlich eine bis eineinhalb Millionen Euro aus der Gewerbesteuer. Durch Nord Stream 2 würde die Gemeinde noch mehr einnehmen. Doch daran ist im Moment nicht zu denken. Seit Ende vorigen Jahres ruhen die Arbeiten an der Pipeline, denn die USA drohten den am Bau beteiligten Unternehmen mit Sanktionen. Begründung: Sie würden unterstützen, dass sich Europa in eine Energie-Abhängigkeit von Russland begebe. Als Strafe würde Washington ihnen den Zugang zum US-Wirtschafts- und Finanzmarkt verwehren.
Neue Drohungen
Eine Schweizer Firma zog daraufhin ihre beiden Verlegeschiffe zurück. Der Baustopp ist auch auf der Insel Rügen zu spüren, genauer gesagt am Hafen Sassnitz-Mukran. Dort lagern noch immer die letzten 15.000 von insgesamt 200.000 Röhren, die nun mit Hilfe des russischen Schiffs "Akademik Tscherski" verlegt werden könnten. Das ist dafür wochenlang in Mukran umgerüstet worden.
In Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern werden Röhren für die Gaspipeline Nord Stream 2 verlegt. Daneben steht ein Arbeiter.
Nord Stream 2 - Wie abhängig ist Deutschland von Erdgas aus Russland?
Seit Jahren tobt ein politischer Streit um die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2. Der Fall Nawalny befeuerte die Diskussionen. Aber ist das Projekt überhaupt zu stoppen? Und wie abhängig ist Deutschland vom russischen Erdgas?
Anfang August kamen neue Drohungen. Per Brief von drei US-Senatoren an die Fährhafen Sassnitz GmbH. Die betreibt den Wirtschaftshafen Mukran, gehört zu zehn Prozent dem Land Mecklenburg-Vorpommern und zu 90 Prozent der Stadt Sassnitz.
In dem Brief wiesen die Senatoren auf ein verschärftes Sanktionsgesetz hin, "zum Schutz gegen Feinde Amerikas" mit einer Lex Nord Stream 2, wie es heißt. Weil Mukran beim Verlegen von Röhren helfe und russische Schiffe beherberge, drohten auch hier einerseits persönliche Einreiseverbote und andererseits schwerwiegende Strafmaßnahmen gegen das Unternehmen sowie gegen dessen künftige Geschäftspartner, sofern diese US-Beziehungen pflegten, weiß Frank Kracht:
"Ich als Bürgermeister und auch die Geschäftsführung nimmt diese Bedrohung sehr, sehr ernst, weil es sich gezeigt hat, dass im Kongress ja nicht nur eine Partei dort zugestimmt hat, sondern es ist mit einer sehr, sehr großen Mehrheit zugestimmt worden. Im Endeffekt sehe ich es so, dass es egal ist, welcher Präsident im November gewählt wird. Ob er Herr Trump heißt oder Herr Biden heißt - und dann weiß ich nicht, ob Projektgeschäfte so einfach über die Bühne gehen, weil selbstverständlich auch Firmen, die einen Ansiedlungswunsch hier in Mukran haben, dann vielleicht zurücktreten, weil sie auch im Golf von Mexiko tätig sind oder in den Vereinigten Staaten und dann selber Sanktionen zu befürchten zu haben."
Ministerpräsidentin Schwesig ist gegen jeden politischen Druck auf das Nord-Stream-2-Projekt. Daran änderte auch der Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen Nawalny nichts. Bei ihrem Besuch einer Mukraner Betriebsversammlung Mitte August erklärt sie:
"Das Verbrechen gegen Herrn Nawalny muss aufgeklärt werden, aber es darf nicht dazu genutzt werden, die Ostsee-Pipeline zu verhindern. Wir sind kurz vor der Fertigstellung. Deutschland braucht diese Energieversorgung, und die Bundesregierung darf es nicht zulassen, dass amerikanische Politiker, Institutionen deutsche Arbeitsplätze bedrohen."
In Lubmin, wo das Gas aus der Nord-Stream-2-Pipeline ankommen soll, ist noch keine derartige Drohung eingegangen. Aber, so Bürgermeister Axel Vogt: "Wenn die Pipeline fertiggestellt wird, wovon ich ausgehe, und auch in Betrieb genommen wird, dann kann ich mir vorstellen, dass die Amerikaner den Fokus dann mehr in Richtung Lubmin richten."
Eine lange Talfahrt
Die 2014 verhängten Russland-Sanktionen hat die Schweriner Landesregierung stets skeptisch gesehen, weil sie die Werften in Mecklenburg-Vorpommern schwer getroffen haben und auch die Nahrungsmittelindustrie im Zuge der russischen Gegensanktionen. Die anderen ostdeutschen Länderchefs kritisierten sie ebenfalls, auch Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Sie alle nahmen das Risiko in Kauf, die einheitliche Haltung des Westens aufzuweichen.
Aus Ostdeutschland sind deutlich mehr Klagen über die Sanktionen zu hören, fürchtet man doch auch um die in Jahrzehnten gewachsenen Beziehungen zu Russland. Klaus Kräher aus Chemnitz schätzt diese Kontinuität.
Rohre für die Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 werden auf dem Gelände des Hafen Mukran gelagert. 
Rohre für die Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 werden auf dem Gelände des Hafen Mukran gelagert. (picture alliance/dpa-Zentralbild/Stefan Sauer)
"Die Personen, die vor 30, 40 Jahren dort aktiv waren, die existieren heute in Russland auch nicht mehr. Aber die Folgegeneration hat immer mit am Tisch gesessen, wenn dort Besuch aus Deutschland kam. Und genau so ist das heute. Und wenn es dann darum geht zu investieren, an wen wendet man sich dann zuerst? Natürlich an denjenigen, den man kennt." Der Ingenieur ist heute Geschäftsführer des Chemnitzer Maschinenbauunternehmens Niles-Simmons, das zu DDR-Zeiten noch Großdrehmaschinenbau "8. Mai" hieß.
"Früher, und das hat wenig mit Ostalgie zu tun, sondern es war einfach eine Tatsache, war Russland natürlich für uns Handelspartner Nummer eins. Von den circa 400 Maschinen, die im Jahr hier produziert wurden, gingen gut 90 Prozent nach Russland, in die frühere Sowjetunion. Heute sieht die Welt anders aus. Logischerweise. Wir sind heute mit circa 80 Prozent Exportanteil immer noch sehr im Auslandsgeschäft tätig. Russland liegt momentan auf Platz drei."
Die mit Russland kooperierenden Unternehmen in Sachsen haben eine lange Talfahrt hinter sich. Anders als bei den Nawalny-Sanktionen, die sie nicht berühren, waren die Einschränkungen nach der Krim-Annexion zum Teil schmerzhaft. Für beide Seiten. Seit dem Jahr 2013, also der Zeit vor den Sanktionen, ging der Russland-Handel in Sachsen um 70 Prozent zurück. Also fast um drei Viertel. Kein anderes Bundesland war und ist so gebeutelt wie Sachsen. Die Ostdeutschen traf es insgesamt härter als die Westdeutschen, wenngleich der Umfang ihrer Geschäfte insgesamt deutlich geringer war.
Klaus Kräher vom Chemnitzer Maschinenbauer Niles-Simmons erinnert sich an die Phase direkt nach der Verhängung der Krim-Sanktionen. Zwar ist kein einziger Arbeitsplatz verloren gegangen, doch die Belegschaft sei verunsichert gewesen und die Führung habe sich neu orientieren müssen.
"Ich meine, es gibt eine ganz klare Aussage, die da heißt: Güter für militärische Zwecke dürfen in solche Länder grundsätzlich nicht geliefert werden. Dazu stehen wir auch. Das ist auch Teil unserer eigenen Compliance, die wir im Unternehmen haben. Und ob die Sanktion am Ende greift oder nicht greift, das ist immer die Frage, wem am Ende solche Sanktionen nützen?"
Ost- und westdeutsche Russlandbilder
Der Blick des Geschäftsführers von Niles-Simmons richtet sich auf die Vereinigten Staaten. "In der heutigen Situation sehen wir schon, dass natürlich von Seiten der USA bestimmte Interessen durchgesetzt werden. Wenn man die Investitionsaktivitäten der USA oder amerikanischer Investoren in Russland sieht, so hat die seit 2014 nicht abgenommen, sondern massiv zugenommen."
Deutlich amerikakritischer als der Geschäftsführer äußerte sich der Inhaber Hans Naumann. Anfang der 1990er-Jahre hat er den ehemaligen volkeigenen Betrieb gekauft. Naumann ist gebürtiger Sachse, der aber in Westdeutschland aufwuchs und später in den USA lebte. Inzwischen ist er 85 Jahre alt und ein streitbarer Kopf. In einem Zeitungsinterview unterstellte er den Vereinigten Staaten, einen Keil zwischen die EU und Russland treiben zu wollen, um ein derart vergrößertes europäisches Bündnis zu verhindern.
Die Auffassung des Inhabers macht sich Geschäftsführer Kräher nicht zu eigen, er verwirft sie aber auch nicht. "Zumindest hat es den Beziehungen zwischen Europa und Russland massiv geschadet. Und wenn das im Interesse der amerikanischen Administration lag, dann hat sie damit Erfolg gehabt. Dennoch wenn Sie heute schauen, haben wir noch die gleiche Situation wie damals, als die Krim annektiert wurde. Es hat sich nichts geändert, und insofern muss man die Art der Sanktionspolitik für meine Begriffe schon hinterfragen."
Bundeskanzlerin Merkel und der russische Präsident Putin geben sich die Hand und schauen zu den Fotografen.
Bundeskanzlerin Merkel und Russlands Präsident Putin (AP Photo/Pavel Golovkin)
Dass die Kritik an den Sanktionen von Ostdeutschen besonders laut geäußert wird, führen manche Beobachter auf die zu sozialistischen Zeiten engen Beziehungen zu Moskau zurück, die angeblich bis heute andauerten. Mehr Ostdeutsche als Westdeutsche halten laut Umfragen die EU-Politik gegenüber Russland für zu hart, wünschen sich mehr Kooperation. Das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien ZOIS hat jetzt festgestellt, dass Menschen in Ostdeutschland Wladimir Putin weniger als Bedrohung, dafür mehr als effektiven Präsidenten sehen. Aber es fand auch heraus, dass nicht unbedingt jemand, der in Ostdeutschland geboren ist, freundlicher Richtung Moskau schaut, sondern dass das vor allem diejenigen tun, die heute in Ostdeutschland leben. Wer in Westdeutschland wohnt, hat zumeist ein in Nuancen kritischeres Bild von Russland.
Generell ergab die Studie, dass die Befragten wenig über die Details der Sanktionen wussten. Trotzdem wurden sie kritisiert.
In den Unternehmen musste man sich wohl oder übel genau mit den Verboten befassen. Denn die Sanktionen, die an den Minsker Friedensprozess gekoppelt sind und auf die Besetzung der Krim bzw. den Krieg in der Ostukraine reagierten, reglementieren Exporte stark. Was dem Ausbau der Infrastruktur auf der Krim dienen könnte, wird nicht genehmigt. Auch bestimmte Technologietransfers nicht, darunter solche, wie sie der Chemnitzer Maschinenbauer von der Niles-Simmons-Hegenscheidt-Gruppe plante.
"Wir hatten ein Joint Venture, wie man salopp sagt, bereits in trockenen Tüchern. Und dieses wurde dann im Nachgang nach Verhängung der Sanktionen gekündigt, sodass wir am Ende ja auf den Investitionskosten oder den Kosten, die wir bis dato hatten, sitzen geblieben sind. Es ging darum, in Russland ein Unternehmen aufzubauen, ein Tochterunternehmen, was speziell für den russischen Markt Maschinen herstellt."
Der Deal platzte, rund 15 Millionen Euro waren in den Sand gesetzt. Doch nur die verhängten Sanktionen samt der Gegensanktionen für den Rückgang des Russlandgeschäfts verantwortlich zu machen, greife viel zu kurz, sagt Ricardo Giucci von Berlin-Economics, einer Wirtschaftsagentur, die die Bundes- und andere Regierungen berät.
"Es kamen die Sanktionen im Juli 2014. Aber das Problem ist, dass der Ölpreis gleichzeitig stark gesunken ist. Wenn der Ölpreis hoch ist, dann geht es den Russen gut wirtschaftlich, dann haben sie Kaufkraft, dann können sie viel investieren und sie kaufen dann deutsche Güter, unter anderem. Wenn der Ölpreis niedrig ist, gibt es weniger Einkommen, weniger Devisen und der Import geht stark zurück."
Erholung von den Exporteinbußen
Nach Auffassung des Analysten Giucci waren ein weiterer ausschlaggebender Faktor für den Einbruch im bilateralen Handel die Finanzsanktionen, die Russland hart, die EU aber kaum getroffen hätten.
"Bestimmte Finanzinstitutionen in Russland waren sanktioniert und die hatten Kredite im Westen aufgenommen, die man normalerweise Jahr für Jahr verlängert. Und auf einmal hieß es, das darf nicht verlängert werden. Und auf einmal fehlten die Devisen praktisch. Und da musste die Zentralbank intervenieren, hat das gut gemacht, und man hat den Kurs stabilisiert, aber auf einem ganz anderen Niveau."
Seit zwei, drei Jahren geht es wieder bergauf. Die Chemnitzer erholen sich von den Exporteinbußen, machten inzwischen rund 20 Prozent ihrer Verluste wieder wett, auch dank eines Investitionsprogramms der russischen Regierung.
"Das sind Projekte für die Eisenbahnindustrie. Wir stellen also Maschinen her zur Fertigung beziehungsweise Bearbeitung von Eisenbahnradsätzen. Dort hat es ein Programm des russischen Staates gegeben. Seit 2017 ist das aufgesetzt, indem viele neue Trassen gebaut wurden, und in dem Zusammenhang natürlich auch entsprechende Technik benötigt wird für die Züge, die darauf fahren."
Auch die Elektrostecker-Firma Bals aus Freiwalde hat eine neue Nische in Russland gefunden: Ladestationen für Elektro-Autos. Der Unternehmer Thomas Brünig, der auch Vorsitzender des Außenhandelsausschusses in der Industrie- und Handelskammer Cottbus ist, gehört zu den Initiatoren eines sogenannten Russian Desk. Den hat die IHK gegründet, weil das Interesse am russischen Markt wieder wächst, ergänzt Silke Schwabe, die das Russland-Geschäft mit ankurbeln soll.
"Politik ist Politik und Wirtschaft ist eben Wirtschaft. Aber man sieht im Prinzip auch den Bedarf des russischen Marktes an hochwertigen Produkten und Technologien, verbunden auch mit einem sehr guten Service, im Gegensatz zur chinesischen Konkurrenz."
Zusätzlich zu den Russland-Sanktionen macht den Unternehmen, Ost wie West, die Corona-Pandemie zu schaffen. Die Unsicherheit ist groß und für Entwarnung ist es viel zu früh. Auf die Chemnitzer Maschinenbauer könnten weit größere Probleme zukommen, sagt Klaus Kräher.
"Fakt ist natürlich eins, dass wir mit Corona und dem erheblichen Wertverlust des Rubels, der hat circa 30 Prozent verloren gegenüber dem Euro, weitere Schwierigkeiten im Russland-Geschäft haben. Wir haben einen Auftragseingangs-Rückgang im ersten halben Jahr dieses Jahres von circa 35 Prozent zu verzeichnen gehabt."
Alles deutet darauf hin, dass die COVID-19-Krise die Herausforderungen durch die Russland-Sanktionen bald in den Schatten stellt.