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Ungarischer Grenzzaun
"Wir waren gezwungen, die Sache zu regeln"

Monatelang habe die ungarische Regierung in Brüssel die Alarmglocke geschlagen und vor einem Flüchtlingsstrom über die serbisch-ungarische Grenze gewarnt, sagte der ungarische Sozialminister, Zoltán Balog, im DLF - "vergeblich". Deshalb sei man schließlich gezwungen gewesen, einseitig zu handeln und "diesen illegalen Strom aufzuhalten".

Zoltán Balog im Gespräch mit Doris Simon | 26.08.2015
    Der ungarische Sozialminister Zoltán Balog gestikuliert während einer Rede.
    Der ungarische Sozialminister Zoltán Balog. (Imago / Gerhard Leber)
    Balog betonte, dass es sich um eine "provisorische Sperre" handele, um zu kontrollieren, wer ins Land komme und aus welchen Gründen - schon um der inneren Sicherheit willen. Andere EU-Länder hätten die Flüchtlinge einfach nach Ungarn durchgelassen, ohne sie zu registrieren. Balog betonte, dass Ungarn grundsätzlich bereit sei, Asylbewerber aufzunehmen. "Wir bauen schon Flüchtlingslager. Aber das muss im Einvernehmen mit den Kommunen geschehen."

    Das Interview in voller Länge:
    Doris Simon: Tausende Menschen auf der Flucht, ohne Essen, Trinken, Dach über dem Kopf - das haben viele Ungarn schon einmal erlebt: vor 26 Jahren, als Ostdeutsche Versuchten, über Ungarn in die Bundesrepublik zu fliehen. Ein viertel Jahrhundert später sind es wieder Flüchtlinge, die nach Ungarn kommen, 140.000 in diesem Jahr bereits, und auch sie wollen nicht dort bleiben, sondern weiter nach Norden, unter anderem nach Deutschland.
    Zoltan Balog hat vor 26 Jahren als Pastor DDR-Bürger in einem Budapester Flüchtlingslager betreut. Heute ist er Minister für gesellschaftliche Ressourcen in der ungarischen Regierung, zuständig unter anderem für Bildung, Kultur, Soziales und Minderheiten, und jetzt am Telefon. Guten Tag!
    Zoltan Balog: Schönen guten Tag, Frau Simon.
    Simon: Herr Balog, die ungarische Regierung hat sich vor 26 Jahren in die Geschichtsbücher geschrieben. Damals hat sie den Eisernen Vorhang zerschnitten und hat weggeschaut, als Tausende von DDR-Flüchtlingen durch die Öffnung nach Westen geflohen sind. Heute baut Ihre Regierung einen Zaun mit Stacheldraht gegen die durchreisenden Flüchtlinge. Warum haben Sie heute, anders als damals, ein solches Problem mit den Flüchtlingen?
    Balog: Ich denke, dass in diesen zwei Problemen, die beide sehr große Probleme und für die Menschen große Herausforderungen waren, doch sehr große Unterschiede sind, die wir sehen müssen. Der Eiserne Vorhang hat Leute eingesperrt, Leute nicht rausgelassen. Sie wollten in die Freiheit gehen. Sie hatten Angst '56 mit Recht, dass sie bestraft werden, dass sie verfolgt werden, und so sind sie geflohen, und das Problem war, dass Ungarn die Grenzen kontrolliert hat. Damals haben wir gekämpft, 1989 dann dafür, dass diese Grenzen offen sind für DDR-Bürger, die ihr eigenes Haus oder ihre eigene Heimat als Gefängnis empfunden haben, und es gingen dann Deutsche nach Deutschland. Wir haben geholfen, dass Deutsche zu Deutschen gehen können, das heißt ein Stück Wiedervereinigung im personellen Bereich.
    Die Herausforderung, wovor wir jetzt stehen, dass Menschen - Sie haben richtig gesagt, über Hunderttausende Menschen schon - in einem relativ kleinen Land illegal reinkommen wollen, ohne jegliche Möglichkeit zu entscheiden, wen und wie können wir aufnehmen. Das ist eine solche Überforderung, dass wir in der Situation waren oder notgedrungen, eine betont provisorische Sperre, Behinderung aufstellen müssen, damit wir wenigstens sehen, wer da kommt und was er will und wie er will, damit wir diesen illegalen Strom aufhalten können.
    "Da entstand eine solche chaotische Situation"
    Simon: Entschuldigung, Herr Balog. Sie sagten gerade, illegaler Strom. Aber unter diesen Flüchtlingen sind ja zum Beispiel auch Kriegsflüchtlinge aus Syrien, die nicht viele andere Möglichkeiten haben, als auf diese Art und Weise nach Europa zu kommen. Die bekommen ja keine andere Möglichkeit der Einreise.
    Balog: Das ist so. Aber was wir machen, das sind Aufnahmepunkte. Die Grenze wird kontrolliert und eindeutig ausgeschildert, wo die Aufnahmepunkte sind, und dort können diese Menschen ihre Bitte um Aufnahme vorstellen. Aber ungehindert, unkontrolliert ins Land reinzukommen, durch die Dörfer, durch die Felder, da entstand eine solche chaotische Situation, dass wir gezwungen waren, die Sache einigermaßen zu regeln. Das heißt, diese Leute dort hinzuleiten, wo die Leute des Einwanderungsbüros ihre Personalien festhalten, eine Gesundheitskontrolle durchführen und dann die Entscheidung stattfindet, was mit ihnen wird.
    Simon: Herr Minister Balog, Sie sagen jetzt, diese Leute sollen nicht mehr unkontrolliert ins Land, sondern über die Aufnahmepunkte ganz gezielt auch nach Ungarn hineinkommen können. Zugleich hat aber der Regierungssprecher gestern wieder gesagt, dass man schon sehe, dass so ein Zaun dazu dienen könne, die Menschen fernzuhalten von Ungarn. Ist es nicht doch das Ziel zu sagen, bitte nicht bei uns, dann geht lieber durch andere Länder dahin, wo ihr hingehen wollt?
    Balog: Seien wir mal ehrlich. Wie sind diese Leute an die ungarische Grenze gekommen? Die sind durch EU-Länder und durch Länder, die zur EU beitreten wollen, das heißt Beitrittsländer, durch mehrere, zu uns gekommen. Nirgendwo wurden sie registriert, sondern einfach durchgelassen. Das heißt, dass diese Länder ihre Pflichten nicht getan haben. Wir sind die ersten, die bereit sind, das zu machen, zum Teil im Interesse von Deutschland und Österreich, wo 95 Prozent dieser Leute weitergehen wollen.
    "Wir bauen Flüchtlingslager"
    Simon: Die Europäische Kommission hat Ungarn ja angeboten, Herr Balog, ein Aufnahmelager für Flüchtlinge einzurichten als Unterstützung für die ungarischen Behörden. Bis jetzt hat es da noch keine Reaktion gegeben. Werden Sie das Angebot annehmen?
    Balog: Ich bin nicht direkt für diese Sachen verantwortlich. Das ist der Innenminister. Ich weiß nicht genau, was angeboten wird und was angenommen wird. Wir bauen Flüchtlingslager schon, aber das müssen wir natürlich mit den Ortsbehörden und mit den Leuten vor Ort bereden, ob sie bereit sind, das zu dulden. Es gibt Kommunen, die sagen, okay, kein Problem, hier besteht die Möglichkeit; andere wollen das nicht. Das muss im Einvernehmen geschehen. Ich denke, so etwas können wir auch aus eigenen Mitteln oder aus eigenen Kräften bauen. Aber in einer Kooperation, wenn uns Hilfe angeboten wird, das werden wir natürlich annehmen.
    Simon: Aus Ihrer Sicht, führt der Durchstrom von Flüchtlingen in Ungarn dazu, dass die Ressentiments gegenüber Fremden zunehmen, oder sehen Sie auch eine Zunahme von Hilfsbereitschaft?
    Balog: Beides, wie das oft ist. Da sind Menschen, die wirklich helfen wollen, und ich bin dankbar dafür, dass solche Privatorganisationen, Kirchen und Hilfsorganisationen da sind, die das tun. Ich bin da als Privatmensch auch in einer involviert. Aber da muss man auch sagen, besonders diese, ich sage mal, untere Welt der Medien, wo heute jeder Journalist sein kann, wenn er Facebook macht oder einen Blog, da lese ich und sehe ich Bilder und sehe ich Texte, wofür ich mich schäme, wenn das Ungarn geschrieben haben. Deshalb habe ich auch jetzt eine Aktion gestartet, gut entscheiden, wen wir reinlassen und wen nicht. Aber wer reingelassen wird, den sollten wir dann so betrachten, als wäre er unsereiner, und besonders im Blick auf die Kinder, weil dort kann man immer schneller eine Sympathie wecken.
    Simon: Viele der ungarischen Politiker, auch Ihre Kollegen treten ja mit markigen Sprüchen auf in dieser Krise. In Deutschland hatten wir auch vor 20 Jahren noch einen anderen Umgang mit dem Thema Zustrom von Flüchtlingen. Dieses Mal stellen sich die Politiker anders der Herausforderung, auch mehr mit dem Ansatz, wie schaffen wir es, und nicht nur, wir wollen die nicht haben. Warum ist das in Ungarn so anders im Augenblick noch?
    Balog: Es ist schon ein sehr schwieriges Thema, für mich persönlich auch, muss ich ehrlich sagen. Es sind zwei Sachen. Die eine Sache ist das Gebot der Nächstenliebe, dass wir Menschen, die in Not sind, helfen müssen, wenn wir können, und wir sollten alles dafür tun, wenn Menschen in Not geraten, und wir kennen ja alle diese Szenen auf dem Mittelmeer und auch sonst. Das ist die eine Sache, das ist eine individuelle Pflicht.
    Die andere Sache ist, was wir von unserem Staat erwarten oder unsere Bürgerinnen und Bürger von uns erwarten, dass wir die Grenzen sicher halten und nicht einfach unkontrolliert. Das müssen Sie sich schon vorstellen, wie auf einmal über hunderttausend Leute ins Land reinströmen, ohne jegliche Kontrolle. Das ist die andere Seite der Medaille und die beiden Sachen muss man in Einklang bringen.
    Ich denke, Sie haben ein Stück Recht, wenn Sie sagen, dass manche Politiker nicht genau zwischen den beiden unterscheiden können, dass wir nicht Verachtung von Menschen und Fremdenhass schüren dürfen, sondern klar machen müssen, das sind auch genauso Geschöpfe, wie wir es sind. Im zwischenmenschlichen Bereich muss das so sein, diese Leute nicht abzustempeln.
    Auf der anderen Seite diese zivilisatorische Herausforderung, dass jetzt durch die Migration praktisch eine Völkerwanderung losgeht, und das ist mehr als in den letzten 10, 20 Jahren irgendetwas war, da in die Augen zu schauen und fragen, will das Europa, und wenn Europa das will, auf welche Weise es das will und welche Konsequenzen das hat für unser Zusammenleben in Ungarn und in Europa. Das sind Fragen, drei Fragen, die man voneinander unterscheiden muss, denke ich.
    "Jeder muss verantwortlich handeln"
    Simon: Was erwarten Sie, was erhoffen Sie sich, Herr Balog, von der Europäischen Union und auch von anderen EU-Ländern wie zum Beispiel Polen und der Slowakei, die bislang ja kaum Flüchtlinge aufgenommen haben?
    Balog: Ich möchte keine Erwartungen im Blick auf andere Länder formulieren, weil ich kenne manchmal auch die nicht legitimen oder die unbegründeten Erwartungen, die ständig an mein Land herangetragen werden. Ich denke, jeder muss verantwortlich handeln, und natürlich muss die Europäische Union nicht hinter den Ereignissen hinken oder laufen.
    Simon: Das tut sie aber gerade.
    Balog: Ja, aber da sind wir, glaube ich, als Ungarn zu klein, das zu beeinflussen. Ein Stück denke ich auch, das ist ein Aufrufzeichen, was wir hier gemacht haben. Wir sind seit Monaten in der Situation, wo wir in Brüssel ständig unsere Dinge vorgetragen haben. Wir haben gesagt, dass dieser Zustrom jetzt sich umstellen wird vom Mittelmeer auf den Balkan und über Ungarn, und wir haben ständig die Alarmglocke geschlagen und es ist keine Antwort gekommen. Nun sind wir gezwungen, einseitig Dinge zu machen, die Aufsehen erregen, und ich hoffe, dass das die Entscheidungsträger zu einer schnelleren Reaktion oder Strategie zwingt oder leitet, weil die Antworten auf diese Herausforderungen fehlen weitgehend - auf europäischer Ebene auf jeden Fall, aber auch auf nationaler Ebene.
    Simon: Zoltan Balog war das, Minister für gesellschaftliche Ressourcen in der ungarischen Regierung. Herr Balog, vielen Dank.
    Balog: Herzlichen Dank für Ihr Interesse.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.