Christiane Kaess: Schon vor der Parlamentswahl in Ungarn wurde fest damit gerechnet, dass die rechtskonservative Fidesz-Partei von Regierungschef Viktor Orban die meisten Stimmen bekommt. Es ging fast nur noch um die Frage, ob ihr auch ihre Zwei-Drittel-Mehrheit bleibt. Auf die stützte sich Viktor Orban beim Durchregieren mit weitgehenden Änderungen in der Verfassung, mit denen er das Land auf seinen Kurs brachte, wie Kritiker ihm vorwerfen, und die in der Europäischen Union einige demokratiepolitische Besorgnisse ausgelöst haben. Nach ersten Ergebnissen hat Orban gute Chancen, zusammen mit den Christdemokraten mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit weiterregieren zu können. – Am Telefon ist Peter Balázs. Er war nach dem EU-Beitritt seines Landes EU-Kommissar in Brüssel und vormals auch Außenminister in Ungarn, und er ist parteilos. Guten Morgen!
Peter Balázs: Guten Morgen.
Kaess: Herr Balázs, keine Überraschung also?
Balázs: Keine große Überraschung. Die Anzahlen sind verschieden, Orban hat gewonnen, eindeutig. Aber er hat keine Mehrheit der Stimmen bekommen mit 44 Prozent.
Kaess: Keine Zwei-Drittel-Mehrheit, meinen Sie? Bis jetzt steht das noch nicht hundertprozentig fest.
Balázs: Nun ja, es fehlen noch einige Prozente. Aber was wir jetzt sagen können, dass er nicht einmal die Hälfte aller Stimmen bekommen hat. Aber dank dem ungarischen Wahlsystem kann er trotzdem eine Zweidrittelmehrheit im Parlament bekommen.
Kaess: Und diese Wahlrechtsreform, die war sehr umstritten. Kann man von einer fairen Wahl sprechen?
Balázs: Nun, es gibt viele neue Elemente. Das Parlament ist viel kleiner geworden, die Hälfte der Anzahl der Abgeordneten. Es gibt nur einen Wahlgang, das ist vielleicht die größte Änderung. Und man hat die Wahlkreise umstrukturiert und dazu kommen noch neue Regelungen über die Medien und so weiter. Das war ein ganz neues System diesmal, und damit hat Fidesz und Herr Orban sein Ein-Parteien-System für weitere Jahre, ich würde nicht vier Jahre, aber für manche weitere Jahre gesichert.
Kaess: Es gibt viel Kritik an Viktor Orban. Auf der anderen Seite muss man sagen, wirtschaftlich hat er dem Land gutgetan und das haben andere Regierungen davor nicht geschafft.
Balázs: Nun, es handelt sich um ein Modell des Populismus, verstärkten Nationalismus und Antimodernität in der Rhetorik von Fidesz, und damit hat er diese Unterstützung gewonnen.
Kaess: Also nicht mit guten Wirtschaftsdaten?
Balázs: Gar nicht, im Gegenteil. Das Wirtschaftswachstum war im Durchschnitt in den letzten vier Jahren ein Prozent pro Jahr. Es gibt keine neuen Investitionen im Lande und die Beschäftigung ist sehr schwach. Ungefähr 500.000 Ungarn arbeiten irgendwo in Westeuropa, meistens in England, Deutschland, Schweden und so weiter.
Kaess: Dennoch ist Viktor Orban sehr populär.
Balázs: Er ist populär mit seinem speziellen Populismus. Das ist gar nicht neu. Man hat schon in den Nachbarländern wie der Slowakei oder Polen solche Perioden miterlebt, mit den Kaczynskis, mit Meciar und weiteren Politikern. Aber das ist sehr populär in Ungarn und Orban führt dauernd einen "Kampf" gegen die Banken, gegen die EU, gegen multinationale Konzerne und so weiter und damit bekommt er diese Popularität und Unterstützung.
Kaess: Was müssen wir jetzt erwarten in den nächsten Jahren?
Balázs: In den nächsten Jahren, das ist eine große Frage, wie es weitergeht. Jetzt könnte sich Herr Orban erlauben eine mehr liberale Führung der Politik seitens Ungarns. Das war eine kleine Überraschung in seiner Rede gestern Abend, dass er für die EU eine Stellung eingenommen hat. Er hat gesagt, Ungarn habe seinen Platz innerhalb der EU. Das war neu. Aber die Machtkonzentration geht weiter und er wird große Schwierigkeiten auf zwei Gebieten haben: einerseits der Wirtschaft, das haben wir schon erwähnt, andererseits die Lage der Roma-Minderheit in Ungarn. Es gibt seriöse Spannungen in manchen Regionen des Landes.
Kaess: Ist das ein Grund, warum die rechtsextreme Jobbik-Partei so stark geworden ist und sich anscheinend fest etabliert?
Balázs: Ja. Jobbik ist stärker geworden, zu stark. Mehr als 20 Prozent der Stimmen gehen zu Jobbik, und das ist eine reine Reinkarnation der alten Faschistenpartei von 1944: dieselbe Rhetorik, dieselben Symbole. Das ist ziemlich gefährlich für die Zukunft der ungarischen Politik.
Kaess: …, sagt Peter Balázs, ehemals EU-Kommissar in Brüssel und vormals auch Außenminister Ungarns. Danke für diese Einschätzungen heute Morgen.
Balázs: Danke.
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