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Urteil in den Haag
"Es geht um aktive Mitschuld"

Der bosnische Rechtsanwalt und Politiker Dennis Gratz hat die Verurteilung von niederländischen Soldaten im Zusammenhang mit dem Massaker in Srebrenica begrüßt. Die Soldaten hätten sehr wohl gewusst, was mit den 300 Männern nach dem Abtransport passieren würde, sagte er im DLF.

Dennis Gratz im Gespräch mit Mario Dobovisek | 17.07.2014
    Der bosnischen Gesellschaft bringe das Urteil zu Srebrenica jedoch keine Genugtuung, sagte Dennis Gratz, Mitbegründer der Partei "Nasa Stranka" und Rechtsanwalt in Sarajewo. Wichtig an dem Urteil sei jedoch, dass die UN den Staaten, die an den Missionen teilnehmen, keine Immunität zusichert. Das niederländische Urteil sei jedoch ein "Fallurteil", das sich nicht generalisieren lasse. Das werde nicht dazu führen, dass andere Staaten nun keine Soldaten mehr zu Blauhelmeinsätzen schicken würden, sagte er im Deutschlandfunk.

    Das Interview in voller Länge:
    Mario Dobovisek: Srebrenica vor 19 Jahren, genauer am 13. Juli 1995. 300 Männer werden deportiert aus der Obhut niederländischer Blauhelm-Soldaten. Diese tun nichts, schießen nicht, stellen sich den bosnischen Serben nicht in den Weg. Es folgt das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Am Ende sind rund 8000 bosnische Muslime tot, von bosnischen Serben ermordet und in Massengräbern verscharrt, mitten in der Schutzzone der Vereinten Nationen, bewacht von niederländischen Blauhelm-Soldaten, dem sogenannten Dutchbat. Gestern nun das Urteil eines niederländischen Gerichts in Den Haag. Das sieht die Niederlande mitverantwortlich für den Tot zumindest der 300 aus dem Lager Verschleppten. Hier die Richterin Larissa Elwin:
    O-Ton Larissa Elwin: "Dutchbat hat den Fehler gemacht, an der Deportation dieser Menschen mitzuwirken. Es ist sicher, dass diese 300 Menschen heute noch leben würden, wenn Dutchbat sie bei sich behalten hätte."
    Dobovisek: Die Blauhelm-Soldaten hätten wissen müssen, urteilte die Richterin, dass die deportierten Männer getötet werden würden. – Am Telefon begrüße ich Dennis Gratz, Rechtsanwalt in Sarajewo. Er hat sich wissenschaftlich mit dem Kriegsverbrechen in Bosnien auseinandergesetzt und ist Mitbegründer einer kleinen, ausdrücklich nicht nationalistischen Partei, der Nasa Stranka. Guten Morgen, Herr Gratz!
    Dennis Gratz: Hallo! Guten Morgen!
    Dobovisek: Was bedeutet das Urteil für Bosnien und Herzegowina?
    Gratz: Das Urteil ist insofern wichtig, als dass die UN keine Immunität mehr den Staaten sichert, die an den Missionen teilnehmen. Für die bosnisch-herzegowinische Gesellschaft ist das Urteil wie alle anderen Urteile in Bezug auf die begangenen Kriegsverbrechen nur eine Art Tropfen auf dem heißen Pflaster. Man begrüßt zwar solche Urteile, insbesondere dieses, aber Genugtuung bringen sie nicht.
    Dobovisek: Thomas Karremans war damals Kommandant des niederländischen Blauhelm-Kontingents, das die Zivilbevölkerung von Srebrenica hätte schützen sollen. 400 Soldaten waren das. Und als die bosnischen Serben immer weiter auf Srebrenica vorrückten, bat er mehrfach um Luftunterstützung, die ausblieb. Welche Handlungsalternativen hätte er denn gehabt aus Ihrer Sicht?
    Gratz: In diesem Fall bezieht sich das Urteil vor allem auf die ungefähr 300 Personen, Männer, Jugendliche, die unter der Obhut der Dutchbat waren. Es geht um eine aktive Mitschuld, da die Soldaten sehr wohl wussten, was denn diesen Menschen passiert, falls sie ausgeliefert werden. Das Unterlassen an sich ist hier das Problematische, weil die Blauhelm-Soldaten aktiv mitgewirkt haben, dass diese Menschen außerhalb dieser Fabrik rausgebracht werden und dann getötet werden. Insofern finde ich das Urteil richtig.
    Dobovisek: Sie sagen, die Immunität der Blauhelm-Soldaten ist mit diesem Urteil sozusagen passé. Was bedeutet das für künftige Missionen, wenn zum Beispiel keine Staaten mehr Blauhelm-Soldaten entsenden wollen, weil sie das Risiko scheuen?
    Gratz: Ich glaube, das Risiko hier ist eigentlich begrenzt auf den Staat Niederlande, und es geht um ein Fallurteil in Bezug auf die Verantwortung der Einheiten, die ja keine Befehle von der UN erhalten haben, sondern von den eigenen Offizieren. Deswegen finde ich, dass es sich eigentlich mehr um eine Erklärung beziehungsweise um eine apologetische Behandlung des ganzen Falles handelt, wenn man ganz einfach sagt, jetzt werden in Zukunft keine Länder mehr ihre Soldaten zur Verfügung stellen, weil sie befürchten, falls Kriegsverbrechen stattfinden, dass ihre Staaten dann die Mitschuld tragen beziehungsweise dafür verantwortlich gemacht werden. Ich glaube, das ist eigentlich keine konsequente Erklärung. Da kann man das nicht generalisieren, weil es geht ja nicht um ein internationales Gericht, sondern um ein ziviles Gericht. Es handelt sich um ein ziviles Urteil im rechtlichen Sinne und es bezieht sich tatsächlich auf die Führung der Soldaten vor Ort, die eigentlich dorthin gesendet wurden, um die Schutzzone zu schützen, was sie ja nicht getan hat.
    Grabsteinen der Potocari Gedenkstätte für den Völkermord in Srebrenica. Rund 8000 männliche Muslime wurden am 11.07.1995 in Srebrenica von bosnisch-serbischen Truppen ermordet, obwohl die Stadt UN-Schutzzone war. 
    Gedenkstätte für den Völkermord in Srebrenica (picture alliance / dpa / Foto: Thomas Brey )
    Kriegsverbrechen belasten die Gesellschaft immer noch stark
    Dobovisek: Eines macht das Urteil allerdings klar: Srebrenica und die Gräuel des Krieges sind nicht vergessen. Wie schwer belasten die Kriegsverbrechen von einst die bosnische Politik von heute?
    Gratz: Ja, leider viel zu viel. Die Politik in Bosnien-Herzegowina ist und wird leider auch in Zukunft von den Kriegsverbrechen, von der Geschichte geprägt, sehr wohl zum Nachteil der Fähigkeit der Politiker, irgendetwas zu unternehmen gegen die aktuellen Probleme wie die Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Probleme und so weiter. Die Tatsache, dass der Krieg so eine Rolle immer noch in der Gesellschaft spielt, verhindert eigentlich die Versöhnung unter den Menschen und die Entwicklung des Landes in jeder Hinsicht.
    Dobovisek: Wie kann das aufgebrochen werden?
    Gratz: Ich finde, man muss eigentlich eine andere Rhetorik übernehmen. Man müsste die Kriegsverbrechen, die Verantwortung, das Tragen der Mitschuld müsste man den Gerichten überlassen und das Feststellen, wer Schuld daran ist und wer das Opfer ist, müsste man der Wissenschaft überlassen, und die Politiker sollten mehr Verantwortung zeigen und eigentlich sich den Problemen widmen, die aktuell sind und die die Zukunft betreffen.
    "In den Köpfen findet der Krieg leider immer noch statt"
    Dobovisek: Die Föderation von Bosnien und Herzegowina mit Kroaten und muslimischen Bosniaken und die Republika Srpska mit den bosnischen Serben, an der Spitze des Staates stehen gleich drei Präsidenten und ein Hoher Repräsentant der internationalen Gemeinschaft – ist Bosnien überhaupt ein richtiger souveräner nationaler Staat?
    Gratz: Meiner Meinung nach nicht. Es handelt sich um einen Staat, der eigentlich eine Versöhnung darstellt beziehungsweise ein Ergebnis der Verhandlungen von Dayton 1995 ist, und als solcher ist der Staat nicht funktionsfähig. Er wird und sollte von der internationalen Gemeinschaft gesteuert werden und dann irgendwann später zusammenwachsen. Das ist leider nicht passiert, weil der Staat so konzipiert ist, dass die gegnerischen Seiten im Krieg den Staat immer noch führen. Der Krieg hat zwar aufgehört, in den Köpfen dieser Menschen findet er leider immer noch statt.
    Dobovisek: War das Abkommen von Dayton ein Fehler?
    Gratz: Nein, auf keinen Fall. Ich war ja damals 16, 17 Jahre alt. Ich finde das ganz wichtig, dass das Töten aufgehört hat, dass die Zerstörung aufgehört hat. Insofern würde ich alles unterschreiben, sage ich mal so, damit das Töten aufhört. Auf der anderen Seite finde ich, dass die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft dafür war, dass der Staat danach, in der Nachkriegszeit funktionstüchtig gemacht werden musste, und da hat die internationale Gemeinschaft meiner Meinung nach versagt.
    Dobovisek: Slowenien und Kroatien sind bereits Mitglied der Europäischen Union. Selbst Albanien trat inzwischen der NATO bei und Serbien klopft in Brüssel kräftig an die Türen. Warum zieht die Beitrittsperspektive offensichtlich nicht in Bosnien und Herzegowina?
    Gratz: Weil wir im Lande viel zu wenig tun. Es sind ja nicht nur die wirtschaftlichen Probleme, die uns behindern, uns weiter in die europäischen Institutionen zu integrieren, sondern vor allem die Tatsache, dass unsere Verfassung, die politische Gesellschaft im Lande nicht integrierbar ist, nicht kompatibel ist mit den Werten und den Richtlinien der Europäischen Union. Da muss die bosnische Politik mehr tun, da muss aber die internationale Gemeinschaft in dieser Hinsicht, insbesondere die Europäische Union, mehr Mut zeigen und eigentlich mehr Druck ausüben auf die lokalen Politiker, dass sie mit den Reformen vorankommen.
    Dobovisek: Der bosnische Rechtsanwalt und Politiker Dennis Gratz über das Massaker von Srebrenica vor 19 Jahren und die richterlich festgehaltene Mitschuld der Niederlande. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gratz.
    Gratz: Ich bedanke mich.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.