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Urteil zu ausländischen Pflegekräften
Das Dilemma bleibt

Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur Entlohnung ausländischer Pflegekräfte hat für gemischte Gefühle gesorgt. Viele Betreuungskräfte kommen aus Osteuropa und der Ukraine - und dort sind nicht alle begeistert. Manche fürchten, dass sie jetzt keine Aufträge mehr bekommen.

Von Jan Pallokat | 05.07.2021
Eine Frau wäscht mit einem Lappen die Hand von einem älteren Mann
Pflegenotstand in Deutschland und Geldnot vieler Menschen im Osten der EU haben ein Beziehungsgeflecht entstehen lassen, in dem der Bruch arbeitsvertraglicher Regeln stillschweigend akzeptiert wird (imago/Martin Wagner)
Ende Mai sorgte ein Foto im polnischen Internet für so viel Furore, dass das Warschauer Außenministerium intervenieren wollte. Es ging um Werbung auf der Rückseite eines Busses in Deutschland. Zu sehen: eine Seniorin und eine junge Frau, beide guter Dinge, dazu die Zeile: "Oma’s neue Polin! – procura 24 Pflegevermittlung".
Reform in der Altenpflege - Pflegekräfte und ihr neuer Kampf um höhere Löhne
Die Pflegereform verspricht zwar Lohnerhöhungen, doch die gibt es nur, wenn die Arbeitgeber sich auf gute Tarifverträge einlassen. Für die Beschäftigten heißt das: Sie müssen sich bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne selbst erstreiten.
Zwar kam, wie sich herausstellte, eine diplomatische Intervention etwas spät, da die Bahn als Betreiber der fraglichen Buslinie im niedersächsischen Ammerland-Kreis die Werbung demontiert hatte - nach Protesten in Deutschland selbst, und zwar schon im letzten Herbst; das Foto war alt. Und doch lenkte der Fall die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass in bis zu 300.000 deutschen Haushalten Ausländerinnen, oft Polinnen, ältere Patienten pflegen, und zwar, wie schon der Name der procura 24-Vermittlung suggeriert, rund um die Uhr. In der Praxis, weiß die polnische Altenpflegerin Mariola Juszczuk, ist davon oft nur im Vertrag die Rede, den die Familien sehen, nicht aber im Arbeitsvertrag der Vermittler mit der Pflegerin:
"Aber die andere Seite wird dann immer sagen: Also mir wurde eine solche Dienstleistung angeboten. Wer das Geld braucht, wird dann auch entsprechend arbeiten, trotz einer festgeschriebenen Arbeitszeit von höchstens 40 Stunden. Und wer so viel nicht arbeiten kann, der hört: Danke schön, dann nehme ich eine andere Betreuerin aus Rumänien, die bekommt 50 statt 70 Euro pro Tag, also tschüss, war nett."

Bruch arbeitsvertraglicher Regeln wird stillschweigend akzeptiert

Der Pflegenotstand in Deutschland und die Geldnot vieler Menschen im Osten der EU, nicht selten auch der Wunsch schon etwas älterer Frauen aus Polen und anderswo, nochmal auf eigenen Beinen zu stehen: Dies hat ein Beziehungsgeflecht entstehen lassen, in dem der Bruch arbeitsvertraglicher Regeln und Mindeststandards regelmäßig stillschweigend akzeptiert wird, von beiden Seiten.
Dass jetzt eine bulgarische Betreuerin in einem vielbeachteten Urteil erfolgreich erstritt, dass ihre De-Facto-Rund-um-die-Uhr-Bereitschaft auch rund um die Uhr bezahlt werden muss, ist deswegen zwar einerseits eine juristische Blaupause, aber ob deswegen jetzt reihenweise andere Pflegerinnen auf den Bereitschafts-Mindestlohn pochen, steht auf einem anderen Blatt. Eher nicht, glaubt Pflegerin Juszczuk:
"Meiner Meinung nach werden diese Frauen weiter arbeiten, und zwar 10 bis 16 Stunden am Tag, und die Vermittler werden einfach nicht mehr so offensiv mit 24-Stunden-Dienstleistungen werben. Ich denke, dass wird weiter umgangen werden, weil die Menschen eben Arbeit und Geld brauchen und der Bedarf an diesen Diensten groß ist."
Dominik Potepa verdient in Deutschland bei der Rund-Um-die-Uhr-Betreuung gut 1.500 Euro - das sei für polnische Verhältnisse gut. Rund um die Uhr heißt: Er wohnt bei der betreuten Person. Potepa freut sich über das Urteil des Bundesarbeitsgerichts:
"Ich denke, es ist ein sehr gutes Urteil, denn es kann die Familien und Vermittler dazu bringen, die Gehälter für die 24-Stunden-Pflege zu erhöhen. Das ist eine sehr schwere und spezifische Arbeit, denn eigentlich haben wir keine Freizeit. Wir können ja nicht nach acht Stunden zumachen und nach Hause gehen, denn jemand muss bei den Patienten sein. Einige brauchen Betreuung selbst nachts."

Hinter vorgehaltener Hand heißt es, das Geschäftsmodell sei in Gefahr

Freizeitregeln stehen oft in den Verträgen, aber wenn etwas zu tun ist, wird kaum einer sagen, jetzt nicht, habe gerade Freizeit. Die großen polnischen Pflege-Vermittler selbst standen für Interviews zum Urteil zunächst nicht zur Verfügung; dort ordnet man sich erst. Hinter vorgehaltener Hand heißt es aber bei seriöseren Anbietern, das Geschäftsmodell sei in Gefahr, wenn künftig wirklich die ganze Bereitschaftszeit voll bezahlt werden müsste. Dieses Problem sieht auch Marek Benio vom Krakauer Thinktank "Inititative Arbeitsmobilität":
"Wenn die Kosten der Dienstleistung um 10 Prozent steigen, dann werden die Deutschen sich das leisten können, aber wenn die Kosten um 50 oder 100 Prozent steigen, dann werden die Kunden in den Schwarzmarkt ausweichen, und wenn sich die Betreuer dann nicht beschweren, wird alles noch weniger kontrolliert werden."
Die Pflege im Haushalt mit ihren Besonderheiten sei mit den Standard-Instrumenten des Arbeitsrechts gar nicht recht zu greifen, sagt Benio – und schlägt maßgeschneiderte Systemlösungen vor. Jeder Pflegefall sei unterschiedlich arbeitsintensiv; und der Nachweis, wieviel während der Bereitschaft tatsächlich gearbeitet wird, falle oft schwer.
Der norddeutsche Pflegevermittler procura 24 hat indes jetzt noch einmal gegenüber der Deutschen Welle seine frühere Werbung gerechtfertigt - den Werbespruch "Oma’s neue Polin", der, wie es nun auch in Polen hieß, Pflegerinnen zu einer austauschbaren Ware herabwürdige: Der Text bilde doch einfach nur einen Teil der deutschen Wirklichkeit ab.