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Verfassungsreferendum
Tunesiens Demokratie in Gefahr

Am 25. Juli soll sich Tunesiens Bevölkerung für oder gegen eine neue Verfassung entscheiden. Ein mehrheitliches Ja für den Entwurf von Präsident Kais Saied könnte das Ende der tunesischen Demokratie bedeuten, befürchten Kritiker. Die neue Verfassung sieht nahezu keine Gewaltenteilung vor.

Von Sarah Mersch | 24.07.2022
Proteste in Tunis gegen das Verfassungsreferendum, das am 25. Juli 2022 in Tunesien stattfinden soll.
Proteste in Tunis gegen das Verfassungsreferendum. Die Angst der Kritiker: Selbst bei einer Mehrheit der Gegenstimmen könnte ein anderes Ergebnis verkündet werden – denn die Wahlbehörde wurde offenbar direkt vom Präsidenten ernannt. (picture alliance / ZUMAPRESS.com)
„Das ist gut, dass das Referendum stattfindet. Und hoffentlich wird es ein Erfolg. Denn die letzten zehn Jahre hat sich nichts getan. Nicht mal die Schlaglöcher in der Straße haben sie zugeschüttet.“

Der Wind weht über die Strandpromenade von Hammam Lif, einem Vorort im Süden von Tunis. Einst verbrachte hier die Oberschicht der tunesischen Hauptstadt ihre Sommerfrische. Inzwischen verfällt das ehemalige Casino, von den Häusern blättert der Putz und viele Bewohner drehen jeden Dinar zweimal um. Es ist später Nachmittag. Die Sommerhitze hat etwas nachgelassen und die ersten Händler bauen ihre Stände auf. Es gibt Zuckerwatte, Popcorn, Crèpes und kalte Getränke. Azouz Dellagi reiht auf einer Bank Fußbälle, Beachball-Schläger und Windräder aneinander. Er ist 53 Jahre alt und will beim Referendum auf jeden Fall seine Stimme abgeben und so den Präsidenten unterstützen: 

„Man merkt doch, ob jemand sauber ist oder nicht. Kais Saied ist es auf jeden Fall, das ist doch offensichtlich. Er will arbeiten, etwas für die Jugend tun. Nein, ich habe die neue Verfassung nicht gelesen, aber ich vertraue ihm.“

Kritik aus der Bevölkerung: zu lange habe der Präsident die schlechte Wirtschaftssituation hingenommen

Ein paar Freiwillige verteilen an diesem Nachmittag Flugblätter und werben um Stimmen für die neue tunesische Verfassung. Am Montag, 25. Juli, sollen sich die Tunesierinnen für oder gegen den neuen Text entscheiden, den Präsident Kais Saied offenbar weitgehend selbst verfasst hat. Nicht alle sind so enthusiastisch dabei wie Dellagi. In den Cafés winken viele müde ab oder stecken nur aus Höflichkeit die Flyer ein. Es sei eine Bürgerpflicht, beim Referendum abstimmen zu gehen, meint hingegen ein Mann, Mitte Fünfzig, während er nebenbei an einem kleinen Stand Zuckerkringel frittiert. Aber Kais Saied habe sich zu viel Zeit gelassen, sagt er, er sei spät dran angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Situation und der vielen Menschen, die tagtäglich auf die Boote nach Italien stiegen.

Er wolle nichts dazu sagen, um seinem Arbeitgeber keine Probleme zu machen, winkt ein anderer ab. Die Stimmung zwischen Gegnern und Befürwortern des Präsidenten ist aufgeheizt, teils aggressiv. „Wir wollen so leben wie Ihr. Lasst uns mit Euch leben“ ist der Flyer überschrieben, den Leila Jendoubi und ihre Mitstreitenden an die Passanten verteilen: ‚Wir da unten gegen die da oben‘, zieht sich bei ihnen durch die Kampagne.

„Sie haben das alles für sich maßgeschneidert, passgenaue Schuhe, mit denen sie auf dem Volk rumtrampeln. Wer? Die Parteien, die Politiker, die Rechten, die Linken, die Modernisten und Demokraten, sie haben doch alle das Land und seine Einwohner verkauft. Die ganze politische Klasse.“
Die 39-jährige Jendoubi hofft auf mehr Teilhabe durch die neue Verfassung, ganz so, wie es Präsident Kais Saied seinen vor allem jungen Anhängern versprochen hat, als er 2019 gewählt wurde. Er selbst hat keine Partei hinter sich, sondern war als unabhängiger Kandidat angetreten, getragen von lokalen Unterstützernetzwerken, die sich hauptsächlich übers Internet gefunden hatten. „Das Volk will…“ hieß sein Slogan damals, angelehnt an die Sprechchöre der Demonstranten während der Revolution 2011, die Massenproteste in mehreren arabischen Ländern, den sogenannten Arabischen Frühling ausgelöst hatte. Versprochen hat Kais Saied direkte Demokratie und mehr Gewicht für die einzelnen Regionen Tunesiens.

Aus den Wahlen ist ein Präsident hervorgegangen, der keine Partei hinter sich hatte, und ein Parlament, das in der großen Mehrheit gegen ihn war.

Mehdi Elleuch vom Recherchezentrum „Legal Agenda“
Die Verfassung von 2014, die nach der Revolution von frei gewählten Abgeordneten erarbeitet und verabschiedet wurde, sei die Wurzel allen Übels; die Parteien und das semi-parlamentarische System der Grund, dass Tunesien in den vergangenen zehn Jahren vor allem wirtschaftlich nicht auf die Beine gekommen sei.
Eine Lesart, die Kais Saied bewusst forciert habe, um sein Projekt einer neuen Verfassung durchzudrücken, so Mehdi Elleuch vom Recherchezentrum „Legal Agenda“. Doch diese Lesart sei nicht haltbar, sagt der 31-jährige Jurist, der für das tunesische Büro des unabhängigen libanesischen Vereins juristische Sachverhalte untersucht.

„In den ersten fünf Jahren, zwischen 2014 und 2019, wurde die Verfassung ja angewandt. Natürlich gab es auch immer mal wieder Blockaden, aber der Geist des politischen Systems wurde von den Politikern nicht pervertiert. Es gab verschiedene Konstellationen: einen Präsidenten mit einer Mehrheit im Parlament und einen ohne. Und der hatte sich damals auf seinen Zuständigkeitsbereich beschränkt, nämlich Außen- und Verteidigungspolitik. Und das hat funktioniert. Es gab damals keine institutionelle Krise.“

Problematisch sei es erst 2019 geworden, als dann mehrere Akteure gleichzeitig die demokratischen Spielregeln missachtet hätten.

„Aus den Wahlen ist ein Präsident hervorgegangen, der keine Partei hinter sich hatte, und ein Parlament, das in der großen Mehrheit gegen ihn war. Auf der einen Seite stand der Parlamentspräsident Rached Ghannouchi, der Kais Saied in seinem Zuständigkeitsbereich Konkurrenz machen wollte. Auf der anderen Seite Kais Saied, der ohne Parlamentsmehrheit regieren wollte. Das heißt, die Akteure haben die Spielregeln nicht mehr anerkannt und das hat zu einer Blockadesituation geführt. Alle waren daran beteiligt, allen voran der Präsident der Republik, der diese Krise forciert hat - bis zum 25. Juli.“
Der tunesische Präsident Kais Saied
Der tunesische Präsident Kais Saied (Wassim Jdidi/imago)

Der 25. Juli 2021 – Kais Saied stellt das Parlament kalt

1. Juli 2021 – ein Feiertag, Tag der Republik. Die politische Situation ist damals völlig verfahren, Parlament, Regierung und Präsident blockieren sich gegenseitig, die Wirtschaft schwächelt. Inmitten der bis dahin schlimmsten Covid-Welle sterben die Menschen reihenweise, weil die maroden Krankenhäuser völlig überfüllt sind und kurz vor dem Kollaps stehen. Der damalige Premierminister verbringt unterdessen mit seinen Ministern und deren Familien ein Wochenende in einem Luxushotel. Die muslimisch-konservative Ennahdha-Partei, stärkste Kraft im Parlament unter Führung des Parlamentspräsidenten Ghannouchi, fordert trotz leerer Staatskassen finanzielle Entschädigung für ehemalige politische Häftlinge. Eine Gemengelage, die im ganzen Land Menschen auf die Straße treibt.
Abends veröffentlicht das Präsidialamt ein Video auf Facebook. Es ist ein Auszug aus der Sitzung des Sicherheitsrats. Flankiert von Generalen erklärt Präsident Kais Saied, dass er den Notstand ausruft, den Regierungschef entlässt, das Parlament kaltstellt. Und damit quasi alleine die Macht übernimmt. Alles im Rahmen der Verfassung, so der parteilose Jurist und ehemalige Hochschullehrer. Mit seiner Interpretation des Notstandsartikels der tunesischen Verfassung steht er schon damals ziemlich alleine da. Doch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung feiert ihn.

Es gibt keine Möglichkeit, den Präsidenten zu kontrollieren, ihn für seine Taten in Verantwortung zu nehmen, selbst bei schweren Verstößen gegen die Verfassung nicht.

Mehdi Elleuch von „Legal Agenda“.
In vielen Städten gehen die Menschen spontan auf die Straße, stundenlang fahren Autokorsos durch die Hauptstadt Tunis. Kais Saied verspricht, Ordnung ins Land zu bringen, die tief verwurzelte Korruption zu bekämpfen und die Forderungen des Volkes umzusetzen. Eigentlich sollte der Notstand zunächst nur 30 Tage gelten, doch der Präsident verlängert ihn und reißt immer mehr Macht an sich. Er regiert per Dekret, setzt eigenmächtig eine neue Regierung ein, löst das Parlament auf, verändert die Zusammensetzung des unabhängigen Justizrats und der Wahlbehörde und entlässt mehrere Dutzend Richterinnen und Richter. Nach langem Warten auf einen Zeitplan kündigt er schließlich ein Referendum über einen neuen Verfassungstext an, genau ein Jahr nachdem er den Notstand ausgerufen hatte. Sollte der neue Entwurf angenommen werden, finde sich Tunesien in einer Diktatur wieder, so Mehdi Elleuch von „Legal Agenda“.

Die neue Verfassung würde dem Präsidenten enorme Macht geben

„Es gibt keine Möglichkeit, den Präsidenten zu kontrollieren, ihn für seine Taten in Verantwortung zu nehmen, selbst bei schweren Verstößen gegen die Verfassung nicht. Selbst der Notstand wird im neuen Text nicht mehr vom Verfassungsgericht kontrolliert. Er kann also dauerhaft im Notstand regieren. Das ist alles andere als demokratisch. Er kann sogar nach Ende seines Mandats weiterregieren. Und wir können nichts dagegen tun, denn diese neue Verfassung sieht keine Möglichkeit vor, ihn davon abzuhalten.“

Neben einem übermächtigen Präsidenten sieht der Entwurf ein Parlament mit zwei Kammern vor. Eine davon ist die Umsetzung von Kais Saieds basisdemokratischen Ideen. Aus lokalen Versammlungen werden Volksvertreter jeweils in die nächsthöchste Regionalinstanz gewählt bis hin zur zweiten Parlamentskammer. Zusammen mit der direkt gewählten ersten Kammer sollen sie den Präsidenten kontrollieren. Eine wirkliche Gewaltenteilung gibt es im Entwurf letztlich nicht, erklärt Kais Saieds ehemalige Kollegin, die Verfassungsrechtlerin Salsabil Klibi von der Universität Tunis.

„Der Form nach haben sie drei Institutionen, aber de facto ist eine davon übermächtig und wird sich alle anderen einverleiben. Die Gewaltenteilung ist da nur noch Formsache.“
Fast genauso wichtig, wie das, was in der Verfassung steht, ist vielen aber auch, was dort nicht zu lesen ist. „Wo ist denn das Kapitel zur Wirtschaft?“ schrieb Fatma Mseddi auf Facebook ungläubig, als der Präsident am 30. Juni den zur Abstimmung stehenden Entwurf im Amtsblatt veröffentlichte. Mseddi, ehemalige Abgeordnete des aufgelösten Parlaments, war Mitglied einer vom Präsidenten einberufenen Kommission, die in einem sogenannten Nationalen Dialog Vorschläge für die Verfassung entwerfen sollte – genauer gesagt den sozioökonomischen Teil. Doch obwohl Kais Saied immer wieder betont, die wirtschaftliche Situation der Bevölkerung verbessern zu wollen, findet sich fast keiner der Vorschläge der Kommission im endgültigen Text wieder. Im Radio macht Mseddi ihrem Ärger und ihrer Enttäuschung Luft.
Digitalisierung der Wirtschaft, die Beseitigung administrativer Hürden für Gründer, all das sei verschwunden, beklagt Mseddi, ohne dass der Präsident je auf die Kommission zugekommen sei, um die Vorschläge zu diskutieren. Die meisten Mitglieder haben sich inzwischen von der neuen Verfassung öffentlich distanziert - sogar Sadok Belaid, Leiter der Kommission und ehemaliger Dekan der Fakultät, an der auch Kais Saied einst unterrichtet hatte.
Tunesiens Bewertung nach dem Fragile States Index (FSI) von 2012 bis 2022. Der Fragile States Index (ehemals: Failed States Index) ist eine von der Organisation Fund for Peace etablierte Kennzahl, die zur Beurteilung der Stabilität eines Staates dient. Der FSI bewertet auf einer Skala von 0 (= stabiler Staat) bis 120 (= instabiler Staat) jährlich weltweit 179 Staaten. Tunesien erreichte im FSI 2022 einen Indexwert von 68,2 Punkten und belegte somit Platz 93 von 179 untersuchten Staaten weltweit.
Tunesiens Bewertung nach dem Fragile States Index (FSI) von 2012 bis 2022. Der Fragile States Index (ehemals: Failed States Index) ist eine von der Organisation Fund for Peace etablierte Kennzahl, die zur Beurteilung der Stabilität eines Staates dient. Der FSI bewertet auf einer Skala von 0 (= stabiler Staat) bis 120 (= instabiler Staat) jährlich weltweit 179 Staaten. Tunesien erreichte im FSI 2022 einen Indexwert von 68,2 Punkten und belegte somit Platz 93 von 179 untersuchten Staaten weltweit. (FFP - The Fund for Peace/statista.de )

Die beiden Texte hätten nichts miteinander zu tun, bestätigt er. Andere Akteure wie der mächtige tunesische Gewerkschaftsbund hatten die Arbeit der Kommission von Anfang an boykottiert, da sie das Ganze nur für eine Maskerade hielten. Die Verfassungsrechtlerin Salsabil Klibi ist überzeugt, dass Kais Saied seinen eigenen Text von Anfang an in der Schublade gehabt habe. Denn eigentlich sollte die Kommission schon im Herbst ihre Arbeit aufnehmen. Letztendlich tat sie es Ende Mai, erst vier Wochen vor Ablauf der Frist.
„Das hat mich getroffen. Die Kommission konnte ihre Aufgabe gar nicht erfüllen, das war mission impossible. Was bedeutet das? Dass da jemand sein eigenes Projekt schon fertig hat.“

„Er wollte einem persönlichen Projekt einen demokratischen Anstrich verleihen. Der Entwurf der Kommission wurde einfach in die Tonne gekloppt“, sagt Mehdi Elleuch.

Opposition und Zivilgesellschaft sind uneins, wie sie auf die Manöver des Präsidenten reagieren sollen. Die „Koalition Soumoud“, ein Zusammenschluss verschiedener Vereine, hatte Kais Saied und den Prozess des 25. Juli lange verteidigt. Sie hatte schon vor Jahren eine Reform der Verfassung und des Wahlrechts gefordert. Doch nicht in dieser Form, erklärt ihr Sprecher Houssem Hammi.

„Wir haben Angst, dass die Menschen das Referendum boykottieren und nur diejenigen, die mit Ja stimmen werden, überhaupt wählen gehen, und es dann durchgeht. Dann ist es mit vorbei mit der Demokratie in Tunesien.“

Zweifel an der Legalität des Referendums

Doch würde ein „Nein“ wirklich eine Rückkehr zur Demokratie bedeuten? Mehrere wichtige Gruppen der Zivilgesellschaft, die einst starke Ennahdha-Partei, aber auch ihre erbitterten Gegner, die konservative, dem alten Regime nahestehende „Freie Destour-Partei“, rufen zum Boykott auf.
Das Referendum dürfte gar nicht erst stattfinden, sei illegal, erklärt eine Anhängerin der Partei bei einem Protest vor der Wahlbehörde. Sie werde daher am 25. Juli nicht wählen gehen, um dem ganzen Prozess durch ihre Stimme nicht zusätzlich Legitimität zu verleihen. Auch Elleuch bezweifelt, dass das Verfahren rechtlich korrekt ist:

„Da stehen Prinzipien gegen Effizienz. Und dann gibt es natürlich Zweifel in Hinblick auf Transparenz des ganzen Ablaufs. Die neue Wahlbehörde wurde direkt vom Präsidenten ernannt. Viele denken, dass selbst bei einer Mehrheit der Gegenstimmen am Ende etwas anderes verkündet wird und der Präsident so oder so das Ergebnis bekommen wird, das er will.“
Die verschiedenen Lager – Ja, Nein, Boykott – haben eines gemeinsam: ihnen gelingt es kaum, die Bevölkerung für das Thema zu mobilisieren.

Auch die über Jahre so kritische und aktive Zivilgesellschaft bringt heute kaum noch Menschen mit politischen Themen auf die Straße. Die Ausrufung des Notstands habe dazu ganz entscheidend beigetragen, so Mehdi Elleuch:

„Leider haben sie quasi kollektiv gekündigt seit dem 25. Juli 2021. Der war eine Ohrfeige, die die ganze Zivilgesellschaft traumatisiert hat. Auch die großen Organisationen sind intern gespalten. Die Ablehnung der Islamisten und generell der politischen Klasse hat dazu geführt, dass selbst vermeintliche Demokraten, Progressive, Menschenrechtler die Gefahr Kais Said nicht erkennen und bereit sind, ihre Prinzipien zu opfern. Die Eliten sind kollektiv gescheitert, sie haben ihre historische Aufgabe nicht erfüllt und sie haben es nicht geschafft, wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen mitzudenken, Lösungen zu finden.“

Termin des Referendums könnte niedrige Beteiligung forcieren

Keiner der Regierungen, die in den letzten elf Jahren an der Macht war, ist es gelungen, das Land wirtschaftlich zu reformieren. Die Inflation ist seit Jahren konstant hoch. Die Covid-Pandemie und die damit ausbleibenden Touristen sowie die steigenden Weltmarktpreise für Nahrungsmittel durch den Krieg gegen die Ukraine haben alles nur noch verschärft. Daher sind die meisten Tunesierinnen und Tunesier viel eher mit dem täglichen Kampf um ein einigermaßen würdevolles Leben beschäftigt als mit politischen Fragen. Auf eine groß angelegte Online-Befragung der Bevölkerung zu ihren Wünschen für die neue Verfassung hatten Anfang des Jahres gerade einmal 500.000 Personen geantwortet. Die Regierung hatte drei Millionen Antworten erwartet. In Tunesien leben rund zwölf Millionen Menschen.
Da der Montag, an dem das Referendum stattfindet, ein Feiertag ist, fällt die Abstimmung nicht nur in die Sommerferien, sondern auch auf ein langes Wochenende, und das bei erwarteten Temperaturen von teils über 40 Grad. Insofern gehen viele davon aus, dass die Beteiligung am Referendum gering ausfallen wird – und ein klares „Ja“ für die neue Verfassung das Ergebnis sein dürfte. Dann sollen im Winter die beiden Kammern des Parlaments gewählt werden. Kann das ein Ausweg aus der Krise sein, in der Tunesien seit Jahren feststeckt? Leila Jendoubi, die in Tunis Flugblätter verteilt, hofft, dass der neue Text die alten wirtschaftlichen Blockaden aufbrechen und so die Situation verbessern werde.

„Die ganze Bürokratie im Privatsektor wird abgeschafft. So können die jungen Leute in ihren Regionen investieren und die Wirtschaft ankurbeln, ohne dass die Großinvestoren Druck auf sie ausüben.“

Mehdi Elleuch von „Legal Agenda“ ist da weniger optimistisch:

„Die wirtschaftliche Situation ist jetzt schon sehr schwierig. Sie wird Kais Saied früher oder später einholen. Er braucht ein neues Abkommen mit dem Internationalen Währungsfond, um die Haushaltslöcher zu stopfen. Das wird direkte gesellschaftliche Auswirkungen haben: Die Löhne werden eingefroren, es wird Einstellungsstopps geben und irgendwann werden auch die Subventionen auf Grundnahrungsmittel gestrichen. Das wird eine gesellschaftliche Krise auslösen.“

Dass eine neue Verfassung langfristig Stabilität bringen würde, glaubt Elleuch daher nicht. Wie es weitergeht, kann auch er nicht sagen. Doch er hofft im Falle einer Zustimmung zur neuen Verfassung auf Widerstand. 

„Es wird nicht einfach werden, aber wir können doch nicht alles, was wir seit der Revolution 2011 erreicht haben, einfach so opfern.“