
In Heidenheim an der Brenz, einer Stadt an der schwäbischen Ostalb, kreuzen sich die Paradies- und die Römerstraße, die Patrick Findeis neuem Roman seinen Titel gegeben haben. So schön der Name auch klingt, so dringlich erscheint es, aus diesem unterprivilegierten Soziotop, bestehend aus Wohnblöcken, Drogen und Gewalt, zu entkommen. Frankie, eine der Hauptfiguren des Romans, hat es immerhin bis nach Stuttgart geschafft. Er hat eine Frau und einen kleinen Sohn und arbeitet als Zahntechniker in einem Labor.
In der Auftaktszene von „Paradies und Römer“ sitzt Frankie in einer Stuttgarter Kneipe und erlebt ein überraschendes Wiedersehen: Nach mehr als einem Jahrzehnt taucht Danilo wieder in seinem Leben auf. In Heidenheim waren Danilo und seine Familie berüchtigt. Als Asoziale, die nicht lange fackeln, bevor sie zuschlagen. Nun hat Danilo ein Glasauge und arbeitet als Eintreiber für ein dubioses Inkassounternehmen. Seine Brutalität, das wird sich noch zeigen, ist ungebrochen. Kurz nach seinem Auftritt in der Kneipe taucht Danilo bei Frankies Chef auf, um dessen Spielschulden einzutreiben:
„Danilo blickt ihm in die Augen. Er stellt sich vor, wie er ihm den Zeigefinger bricht im Gelenk, das er so lange überdehnt, bis es Klack macht und der Finger an der Wurzel im rechten Winkel absteht. Dieser absurde Anblick, der ihn und sein Opfer immer wieder gleichermaßen erstaunt.“
„Danilo blickt ihm in die Augen. Er stellt sich vor, wie er ihm den Zeigefinger bricht im Gelenk, das er so lange überdehnt, bis es Klack macht und der Finger an der Wurzel im rechten Winkel absteht. Dieser absurde Anblick, der ihn und sein Opfer immer wieder gleichermaßen erstaunt.“
Schwäbische Geisterbahnfahrt
Derjenige, der all das beobachtet, erzählt und sich gelegentlich als Ich-Erzähler einschaltet, ist ein Toter: Ferry heißt er und ist wie Frankie und Danilo ein ehemaliges Mitglied der Heidenheimer Clique, gestorben schon vor langer Zeit an einer Diabetes-Erkrankung. Der Mehrwert dieser merkwürdigen Konstruktion erschließt sich auch auf den zweiten Blick nicht. Allerdings fügt sich die Idee der toten Erzählinstanz in das insgesamt düstere Szenario des Romans. Patrick Findeis unterwirft all seine Figuren einer schwäbischen Geisterbahnfahrt durch eine heillose Jugendzeit in den 1990er-Jahren, die in der Gegenwart keine Besserung gefunden hat.
Die zur Zeit am Beispiel der Schriftstellerin Hanya Yanagihara geführte Debatte über die literarische Inszenierung traumatischer Erfahrungen ließe sich auch an Patrick Findeis Roman anknüpfen: Exzessiver Drogenmissbrauch und Entzugstherapien, häusliche Gewalt, von den Eltern im Stich gelassene Kinder und reihenweise frühe Tode. Was Findeis in seiner apokalyptischen Ländle-Erzählung auf gerade einmal 200 Seiten auffährt, ist dick aufgetragen. Das gilt auch für die Darstellung von Ellen, jener Frau, die einst der Sehnsuchtsmensch der Heidenheimer Jugend an der Kreuzung Paradies/Römer war:
„Ellen ist nie ein Mädchen, sie ist immer eine Frau, auch damals mit fünfzehn, als wir sie kennenlernen. Die Ahnung ihres Körpers lauert wie eine ständige Versuchung. Die Narbe jetzt an ihrer Schläfe. Die schiefe Nase. Sie ist ein Rätsel, das nicht zu lösen ist.“
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Kaputte Charaktere, gescheiterte Leben
Der Roman wird zum Roadmovie, dessen Spannungsmomente in der allerdings recht eindimensional gezeichneten Danilo-Figur liegen – zum einen in seiner Unberechenbarkeit; zum anderen in dem in Danilo schlummernden Nebennierentumor. Es gehört zur Logik des Romans, dass die Tour durch die schwäbische Provinz auch für Danilo nicht gut ausgeht. Es ist der Ich-Erzähler höchstpersönlich, der ihn in eine andere, in eine bessere Welt überleitet:
„Danilo lässt los. Und das gehört zum Schönsten, was er je gefühlt hat.
Hopp, sage ich.“
Hopp, sage ich.“
Patrick Findeis ist, das hat er mit vorangegangenen Büchern bewiesen, ein guter Schriftsteller. Auch in „Paradies und Römer“ finden sich viele gelungene, atmosphärisch ausgefeilte Einzelszenen. Im Ganzen aber krankt sein autobiografisch getönter Roman daran, dass ihm die Kontraste fehlen und das Elend dadurch seinen Schrecken verliert.
Die klassenbewusste Erzählung aus einem unterprivilegierten Milieu in einem reichen westdeutschen Bundesland, die durchaus großen Reiz hat, verliert paradoxerweise gerade in der seriellen Vorführung devastierter Charaktere und gescheiterter Lebensentwürfe an Schärfe. Immerhin: „Paradies und Römer“, dieser schwarze Heimatroman, endet mit einem lauten Lachen. Es ist kein höhnisches, sondern ein befreiendes Lachen.
Patrick Findeis: „Paradies und Römer“
Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München, 204 Seiten, 20 Euro
Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München, 204 Seiten, 20 Euro