Gerd Breker: In deutschen Betrieben werden offenbar massenhaft die gesetzlichen Mindestlöhne unterlaufen. Im vergangenen Jahr seien in der Bauwirtschaft fast 1500 Bußgeldverfahren gegen Firmen wegen Verstößen gegen den Mindestlohn eingeleitet worden, das weiß die "Süddeutsche Zeitung" unter Berufung auf einer ersten Bilanz der Bundesregierung, und in der Gebäudewirtschaft seien es rund 200 Verfahren gewesen. Diese Bilanz hatte das Arbeitsministerium auf eine Anfrage der Grünen hin zusammengestellt. Am Telefon bin ich nun verbunden mit Ottmar Schreiner. Er ist der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der SPD. Guten Tag, Herr Schreiner.
Ottmar Schreiner: Guten Tag. Hallo!
Breker: Herr Schreiner, 1700 Verstöße gegen den Mindestlohn, aufgedeckte Verstöße, muss man wohl sagen. Wahrscheinlich sind es viel mehr. Das heißt, der Mindestlohn wird von der Wirtschaft gar nicht angenommen?
Schreiner: Ich würde nicht sagen, von "der" Wirtschaft, aber von erheblichen Teilen der Wirtschaft wird offenkundig versucht, die rechtlichen und gesetzlichen Regelungen zu unterlaufen. Das ist ein Skandal und da muss dringendst Abhilfe geschaffen werden.
Breker: Reichen da Bußgeldverfahren überhaupt aus?
Schreiner: Ich bin nicht sicher, ob Bußgeldverfahren ausreichen. Neben der Tatsache, dass die Summe der Beamten, die sich mit dieser Problematik als Kontrolleure befassen, deutlich angehoben werden muss, wird auch darüber zu reden sein, ob aus dem Unterlaufen dieser Regelungen nicht ein Straftatbestand gemacht werden muss, um die Abschreckungswirkung deutlich zu erhöhen.
Breker: Denn zurzeit muss man sagen, dass die Praxis das Instrument des Mindestlohns – das hat ja einen Sinn – einfach infrage stellt und ignoriert.
Schreiner: Ja, natürlich. Der Mindestlohn funktioniert in fast allen anderen europäischen Ländern. Selbst im Mutterland des Kapitalismus, in Großbritannien, hat sich der Mindestlohn bewährt. Die dortigen Unternehmungen halten es für eine Frage des Anstandes, dass der Mindestlohn auch korrekt ausgezahlt wird, dass niemand das unterläuft. Sie haben da Selbstregulierungsmechanismen eingeführt, die dafür sorgen, dass es zu schwarzen Schafen erst gar nicht kommt. Das muss auch in Deutschland möglich gemacht werden. Der Grundsatz lautet, ein Mensch muss von dem Ertrag seiner Arbeit einigermaßen leben können, und das muss dann auch vom Gesetzgeber, der das ja will, mit den notwendigen Mitteln durchgesetzt werden.
Breker: Sie haben den Begriff Anstand ins Gespräch gebracht, Herr Schreiner. Man fragt sich ja, was ist eigentlich in unserer Gesellschaft los, dass Arbeitgeber überhaupt so etwas tun, dass Arbeitnehmer überhaupt sich so etwas gefallen lassen. Man fragt sich, wo bleiben denn da die Gewerkschaften, wo bleiben die Medien, wo bleiben die Proteste.
Schreiner: Na ja, die Mindestlöhne finden in der Regel in Branchen mit einem sehr geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad statt. Hier wäre es zunächst einmal eines der Hauptanliegen, genau dies zu verbessern und massenhaft in die Gewerkschaften reinzugehen, um den eigenen sozialen Schutz kollektiv zu verbessern. Aber es kann nicht sein, dass in einem beträchtlichen Umfang Unternehmungen sich gewissermaßen als rechtsfreier Raum betrachten und gesetzliche Regelungen unterlaufen und so tun, als ob es die gar nicht gäbe. Das kann der Gesetzgeber nicht hinnehmen und da reicht es auch nicht aus, wenn die Bundesarbeitsministerin vom politischen Willen redet. Hier müssen die notwendigen Instrumente zur Verfügung gestellt werden, um den Willen des Gesetzgebers auch in der Praxis durchzusetzen.
Breker: An welche Instrumente denken Sie da, Herr Schreiner?
Schreiner: Zunächst einmal an eine erhebliche Aufstockung des Kontrollpersonals. Da fehlt es ja hinten und vorne. Wir haben eben gehört, dass zum 1. August auch die Pflegebranche mit etwa 800.000 Leuten in die Mindestlohnregelung aufgenommen werden soll, das ist bereits verabredet. Insoweit ist eine deutliche Aufstockung unabdingbar. Zum Zweiten müssen die Sanktionsinstrumente erheblich verschärft werden. Wenn man sich überlegt, mit welchen Instrumenten bei Arbeitslosen hantiert wird, dann liegt es auf der Hand, dass hier der Gesetzgeber alles daran setzen muss, seinen Willen auch durchzusetzen.
Breker: Hat es möglicherweise, Herr Schreiner, auch etwas damit zu tun, dass wir ja gar keinen flächendeckenden Mindestlohn haben? Wir haben eine Krücke, nämlich das Entsendegesetz, durch das der Mindestlohn festgeschrieben wird.
Schreiner: Das spielt möglicherweise eine Rolle, weil offenkundig viele immer noch annehmen, dass aufgrund des Fehlens eines gesetzlichen Mindestlohnes das alles nicht so ernst zu nehmen ist. Deshalb wäre es mehr als hilfreich, wenn der Bundestag sich eindeutig zu einem gesetzlichen Mindestlohn bekennen würde. Das wäre ein ganz klares Signal: Wir meinen es ernst damit, Menschen auch würdig in der Arbeitswelt zu behandeln, was die Lohnfrage anbelangt.
Breker: Wir haben ja ein Phänomen zu beobachten, Herr Schreiner, dass der Arbeitsmarkt sich radikal wandelt. Es gibt immer weniger reguläre Arbeitsplätze. Kann man da einfach nur zusehen und sich das so entwickeln lassen?
Schreiner: Nein, da kann man überhaupt nicht nur zusehen. Wir hatten im letzten Jahr beispielsweise, im Jahr 2009: Von allen Neuarbeitsverträgen waren 48 Prozent zeitlich befristet. Das heißt, aus einer ursprünglichen Ausnahme ist inzwischen die Regel geworden. Wir haben einen sprunghaften Anstieg zu beobachten bei der Leiharbeit, bei anderen sogenannten ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen. Dies war politisch so gewollt, und wenn die Politik das ändern will, dann muss sie die entsprechenden Rahmenbedingungen eben wieder ändern. Wenn wir so weitermachen wie bisher, laufen wir Gefahr, wieder eine Tagelöhnergesellschaft zu werden. Dass das zur Regel wird, was im 19. Jahrhundert in der aufkommenden Industriegesellschaft Regel war, und dass ein 100-jähriger Kampf für anständige Arbeitsbedingungen letztlich dann ins Leere zielt, das darf und kann nicht sein im Interesse der beschäftigten Menschen.
Breker: Im Deutschlandfunk war das die Meinung des Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der SPD, Ottmar Schreiner. Herr Schreiner, danke für dieses Gespräch.
Schreiner: Ja, ich danke Ihnen auch. Danke sehr!
Ottmar Schreiner: Guten Tag. Hallo!
Breker: Herr Schreiner, 1700 Verstöße gegen den Mindestlohn, aufgedeckte Verstöße, muss man wohl sagen. Wahrscheinlich sind es viel mehr. Das heißt, der Mindestlohn wird von der Wirtschaft gar nicht angenommen?
Schreiner: Ich würde nicht sagen, von "der" Wirtschaft, aber von erheblichen Teilen der Wirtschaft wird offenkundig versucht, die rechtlichen und gesetzlichen Regelungen zu unterlaufen. Das ist ein Skandal und da muss dringendst Abhilfe geschaffen werden.
Breker: Reichen da Bußgeldverfahren überhaupt aus?
Schreiner: Ich bin nicht sicher, ob Bußgeldverfahren ausreichen. Neben der Tatsache, dass die Summe der Beamten, die sich mit dieser Problematik als Kontrolleure befassen, deutlich angehoben werden muss, wird auch darüber zu reden sein, ob aus dem Unterlaufen dieser Regelungen nicht ein Straftatbestand gemacht werden muss, um die Abschreckungswirkung deutlich zu erhöhen.
Breker: Denn zurzeit muss man sagen, dass die Praxis das Instrument des Mindestlohns – das hat ja einen Sinn – einfach infrage stellt und ignoriert.
Schreiner: Ja, natürlich. Der Mindestlohn funktioniert in fast allen anderen europäischen Ländern. Selbst im Mutterland des Kapitalismus, in Großbritannien, hat sich der Mindestlohn bewährt. Die dortigen Unternehmungen halten es für eine Frage des Anstandes, dass der Mindestlohn auch korrekt ausgezahlt wird, dass niemand das unterläuft. Sie haben da Selbstregulierungsmechanismen eingeführt, die dafür sorgen, dass es zu schwarzen Schafen erst gar nicht kommt. Das muss auch in Deutschland möglich gemacht werden. Der Grundsatz lautet, ein Mensch muss von dem Ertrag seiner Arbeit einigermaßen leben können, und das muss dann auch vom Gesetzgeber, der das ja will, mit den notwendigen Mitteln durchgesetzt werden.
Breker: Sie haben den Begriff Anstand ins Gespräch gebracht, Herr Schreiner. Man fragt sich ja, was ist eigentlich in unserer Gesellschaft los, dass Arbeitgeber überhaupt so etwas tun, dass Arbeitnehmer überhaupt sich so etwas gefallen lassen. Man fragt sich, wo bleiben denn da die Gewerkschaften, wo bleiben die Medien, wo bleiben die Proteste.
Schreiner: Na ja, die Mindestlöhne finden in der Regel in Branchen mit einem sehr geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad statt. Hier wäre es zunächst einmal eines der Hauptanliegen, genau dies zu verbessern und massenhaft in die Gewerkschaften reinzugehen, um den eigenen sozialen Schutz kollektiv zu verbessern. Aber es kann nicht sein, dass in einem beträchtlichen Umfang Unternehmungen sich gewissermaßen als rechtsfreier Raum betrachten und gesetzliche Regelungen unterlaufen und so tun, als ob es die gar nicht gäbe. Das kann der Gesetzgeber nicht hinnehmen und da reicht es auch nicht aus, wenn die Bundesarbeitsministerin vom politischen Willen redet. Hier müssen die notwendigen Instrumente zur Verfügung gestellt werden, um den Willen des Gesetzgebers auch in der Praxis durchzusetzen.
Breker: An welche Instrumente denken Sie da, Herr Schreiner?
Schreiner: Zunächst einmal an eine erhebliche Aufstockung des Kontrollpersonals. Da fehlt es ja hinten und vorne. Wir haben eben gehört, dass zum 1. August auch die Pflegebranche mit etwa 800.000 Leuten in die Mindestlohnregelung aufgenommen werden soll, das ist bereits verabredet. Insoweit ist eine deutliche Aufstockung unabdingbar. Zum Zweiten müssen die Sanktionsinstrumente erheblich verschärft werden. Wenn man sich überlegt, mit welchen Instrumenten bei Arbeitslosen hantiert wird, dann liegt es auf der Hand, dass hier der Gesetzgeber alles daran setzen muss, seinen Willen auch durchzusetzen.
Breker: Hat es möglicherweise, Herr Schreiner, auch etwas damit zu tun, dass wir ja gar keinen flächendeckenden Mindestlohn haben? Wir haben eine Krücke, nämlich das Entsendegesetz, durch das der Mindestlohn festgeschrieben wird.
Schreiner: Das spielt möglicherweise eine Rolle, weil offenkundig viele immer noch annehmen, dass aufgrund des Fehlens eines gesetzlichen Mindestlohnes das alles nicht so ernst zu nehmen ist. Deshalb wäre es mehr als hilfreich, wenn der Bundestag sich eindeutig zu einem gesetzlichen Mindestlohn bekennen würde. Das wäre ein ganz klares Signal: Wir meinen es ernst damit, Menschen auch würdig in der Arbeitswelt zu behandeln, was die Lohnfrage anbelangt.
Breker: Wir haben ja ein Phänomen zu beobachten, Herr Schreiner, dass der Arbeitsmarkt sich radikal wandelt. Es gibt immer weniger reguläre Arbeitsplätze. Kann man da einfach nur zusehen und sich das so entwickeln lassen?
Schreiner: Nein, da kann man überhaupt nicht nur zusehen. Wir hatten im letzten Jahr beispielsweise, im Jahr 2009: Von allen Neuarbeitsverträgen waren 48 Prozent zeitlich befristet. Das heißt, aus einer ursprünglichen Ausnahme ist inzwischen die Regel geworden. Wir haben einen sprunghaften Anstieg zu beobachten bei der Leiharbeit, bei anderen sogenannten ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen. Dies war politisch so gewollt, und wenn die Politik das ändern will, dann muss sie die entsprechenden Rahmenbedingungen eben wieder ändern. Wenn wir so weitermachen wie bisher, laufen wir Gefahr, wieder eine Tagelöhnergesellschaft zu werden. Dass das zur Regel wird, was im 19. Jahrhundert in der aufkommenden Industriegesellschaft Regel war, und dass ein 100-jähriger Kampf für anständige Arbeitsbedingungen letztlich dann ins Leere zielt, das darf und kann nicht sein im Interesse der beschäftigten Menschen.
Breker: Im Deutschlandfunk war das die Meinung des Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der SPD, Ottmar Schreiner. Herr Schreiner, danke für dieses Gespräch.
Schreiner: Ja, ich danke Ihnen auch. Danke sehr!