Montag, 13. Mai 2024

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Vertragsverletzungsverfahren
Regierung hält EU-Verfahren für unbegründet

Die Bundesregierung zeigt sich in einem Schreiben an Brüssel versöhnlich: Die EU-Kommission hatte wegen eines Urteils aus Karlsruhe zu EZB-Anleihekäufen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland gestartet. Die Entscheidung liegt nun bei der EU-Kommission.

Von Peter Kapern | 12.08.2021
EU-Flaggen vor einem Gebäude der EU-Kommission in Brüssel
EU-Abgeordneter Caspary erwartet, dass das Vertragsverletzungsverfahren mit dem Einlenken Berlins nun abgeschlossen wird (Unsplash / Christian Lue)
Worum geht es beim Vertragsverletzungsverfahren?

In der Europäischen Union sind ständig starke Zentrifugalkräfte zu spüren. Der Sinn für das gemeinsame Interesse bleibt in den letzten Jahren oft dahinter zurück. Nicht nur Polen und Ungarn versuchen, Europäischen Geist und Europäische Verträge immer wieder auf ihre Art zu interpretieren.

Vor gut zwei Jahren kam eine bemerkenswerte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dazu. Es ging um ein Anleihe-Kaufprogramm der Europäischen Zentralbank. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hatte dem längst zugestimmt, doch die Richter in Karlsruhe stellten dann fest, dass die Kollegen damit zu weit gegangen waren. Ein Schock, denn würde nicht mehr Luxemburg, sondern würden nationale Gerichte die gemeinsamen Verträge interpretieren, gäbe es in der EU wohl bald schon keine einheitlichen Regeln mehr, sondern nur noch Bestimmungen, die jeder Mitgliedsstaat für sich so auslegt, dass sie möglichst gut zu nationalen Vorstellungen passen.

Die EU-Kommission - Hüterin der Verträge - leitete deshalb auch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein. Die Bundesregierung hat nun Stellung genommen.
Selten backt die Bundesregierung, wenn sie auf dem Brüsseler Parkett auftritt, so kleine Brötchen wie in diesem vierseitigen Schreiben. Es ist die Antwort Deutschlands auf den Vorwurf der EU-Kommission, mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den EZB-Anleihekäufen von Mai 2020 habe Deutschland gegen die europäischen Verträge verstoßen. Und auch erfahrene Politiker wie der FDP-Bundestagsabgeordnete Otto Fricke blicken stirnrunzelnd auf das Papier: "Die Stellungnahme der Bundesregierung ist gelinde gesagt etwas komisch."

Karlsruhe hatte EZB-Anleihekäufe kritisiert

Zur Erinnerung: Die Karlsruher Richter hatten nicht nur die EZB und ihre Anleihekäufe kritisiert, sondern vor allem den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg ins Visier genommen. Der hatte die Anleihekäufe nämlich in einem Urteil längst gebilligt. Dieses Urteil aber wischte das Bundesverfassungsgericht in rüdem Ton vom Tisch – und stellte damit jedenfalls nach Auffassung der EU-Kommission die europäische Rechtsordnung insgesamt infrage. Denn die beruht darauf, dass das europäische Recht Vorrang vor dem nationalen Recht hat und dass der EuGH als höchste Instanz das europäische Recht auslegt – und nicht die nationalen Verfassungsgerichte.
Das Bild zeigt ein Schild vor dem Europäischen Gerichtshof mit der Aufschrift "Cour de Justice de l'union Européene" im Europaviertel auf dem Kirchberg.
Konflikt um Vorrang des Europarechts
Die EU-Kommission leitet wegen des Karlsruher EZB-Urteils von 2020 ein Verfahren gegen Deutschland ein. Es gebe noch Möglichkeiten, diesen Streit beizulegen, sagte der Politologe Josef Janning im Dlf.
Die polnische Regierung, die sich seit langem bemüht, die europäische Rechtsordnung nach eigenem Gusto umzustürzen, jubelte damals über das Karlsruher Urteil, sodass die EU-Kommission sich gezwungen sah, zum Schutz des europäischen Rechts ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland zu starten. In der vergangenen Woche antwortete Bundesfinanzminister Olaf Scholz im Namen der Bundesregierung auf die Vorwürfe aus Brüssel. Der Brief mit dem Stempel "nur zur dienstlichen Verwendung" liegt dem Deutschlandfunk vor. Otto Fricke:
"Einerseits versucht man ständig, die EU-Freundlichkeit der Verfassung und bestimmter vorheriger Urteile hervorzuheben, geht aber andererseits überhaupt nicht auf das eigentliche Urteil und die dortigen Entscheidungen ein."

Scholz übt verklausuliert Kritik an Karlsruhe

In der Tat: Auf vier Seiten führt die Bundesregierung frühere europafreundliche Urteile des Bundesverfassungsgerichts auf, in denen Karlsruhe den Vorrang des Europarechts und die höchstrichterliche Auslegungskompetenz des EuGH anerkannt hat. Auch das Grundgesetz, beteuert die Bundesregierung, verpflichte Deutschland auf diese Grundsätze. Verklausuliert übt Olaf Scholz in dem Schreiben sogar Kritik an Karlsruhe, weil das Verfassungsgericht die strittigen Anleihekäufe dem EuGH nicht noch einmal zur Prüfung vorgelegt hat. Eines aber, so Sven Giegold, der grüne Europaabgeordnete, verrät der Brief nicht:
"Die Bundesregierung verweigert eine Antwort darauf, dass das Urteil den Anwendungsvorrang des EU-Rechts außer Kraft zu setzen drohte und daher die europäische Rechtsordnung erschüttert."
Der Turm der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main
Was Sie über den Kauf von Staatsanleihen durch die EZB wissen müssen
Das Bundesverfassungsgericht hat das Anleihekaufprogramm der EZB namens PSPP für teilweise verfassungswidrig befunden. Ein Überblick über den Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB.
Sven Giegold also vermisst einen Vorschlag zur Lösung des Problems, das Karlsruhe mit seinem Urteil angerichtet hat, während Otto Fricke sich mehr Rückendeckung aus Berlin für das deutsche Verfassungsgericht gewünscht hätte:
"Urteile gelten, und das heißt für die Bundesregierung auch, dass sie sich an das Urteil halten muss und dann auch gegenüber Dritten nicht so tun sollte, als wenn sie sich ja beinahe schon für dieses Urteil schämen würde."

Entscheidung hängt nun an der Kommission

Der versöhnliche Tonfall des Briefes aus Berlin könnte Methode haben. In Regierungskreisen heißt es, an dem Schreiben sei im Prinzip gemeinsam mit der EU-Kommission und in Abstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht gefeilt worden. Denn nun muss die Kommission entscheiden, wie sie reagiert. Zwei Möglichkeiten hat sie: Wenn ihr der Brief nicht ausreicht, kann sie nach Luxemburg zum EuGH gehen und Deutschland verklagen. Es dürfte klar sein, wie das Urteil ausfällt: Nämlich gegen Deutschland. Und damit würden der EuGH und Karlsruhe in eine offene juristische Feldschlacht gezwungen. Die EU-Kommission könnte aber nach dem Antwortschreiben den Fall auch für erledigt erklären, weil Berlin ja mehr oder weniger zugestanden habe, was Brüssel verlangt hatte. Und genau das erwartet Daniel Caspary, der Chef der Unionsabgeordneten im Europaparlament:
"Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort an die Europäische Kommission klargestellt, dass Deutschland grundsätzlich ein proeuropäisches Land ist, das sich an europäisches Recht hält. Von daher hoffe ich, dass diese Antwort für die Kommission ausreichend ist, und dass das Vertragsverletzungsverfahren abgeschlossen wird."