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Vertriebenen Rohingya
"Bangladesch braucht sehr viel internationale Unterstützung"

Der Deutsche Caritasverband hat mehr internationale Unterstützung für die Versorgung der Rohingyas in Bangladesh angemahnt. Etwa 500.000 Rohingya seien inzwischen aus Myanmar ins Nachbarland geflohen, sagte Caritas-Referent Peter Seidel im Dlf. Die Umstände, unter denen die Flüchtlinge dort leben, seien unerträglich.

Peter Seidel im Gespräch mit Philipp May |
    Angehörige der Rohingya schützen sich in einem Flüchtlingslager in Bangladesch vor Monsun-Regen.
    Angehörige der Rohingya schützen sich in einem Flüchtlingslager in Bangladesch vor Monsun-Regen. (AFP / DOMINIQUE FAGET)
    Philipp May: Nach Einschätzungen von UN-Chef Antonio Gutierrez ist es die am schnellsten eskalierende Flüchtlingskrise: Über eine halbe Million Rohingya sind schon von Myanmar ins benachbarte Bangladesch geflohen. Nun drohe die anhaltende Gewalt der buddhistischen Bevölkerungsmehrheit gegenüber der muslimischen Rohingya-Minderheit, weitere 250.000 Männer und Frauen in die Flucht zu zwingen. Wörtlich sprach Gutierrez von einem Albtraum, den die Rohingya erleben, denn auch in Bangladesch ist die Lage katastrophal. Peter Seidel von der Hilfsorganisation Caritas war vor Ort und ist gerade aus Bangladesch zurückgekommen. Er ist jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Seidel!
    Peter Seidel: Guten Morgen!
    May: Unter welchen Umständen leben denn die Menschen da in den Lagern?
    Seidel: Die Menschen sind ohne alles nach teilweise dreiwöchigen Fußmärschen nach Bangladesch gekommen und bekommen von den Hilfswerken und von der Regierung in Bangladesch das Allernötigste: Plastikplanen, einen wenig Wasserversorgung, ein wenig Nahrungsmittelversorgung und sitzen, die meisten von ihnen, auf einem Berg Schlamm unter diesen Plastikplanen und warten drauf, mehr Hilfsgüter zu bekommen.
    "Ähnlich wie beim Völkermord in Ruanda"
    May: Sie sind ja als Caritas-Helfer möglicherweise schon in einigen Krisengebieten gewesen. Womit ist denn dieses Ausmaß vergleichbar?
    Seidel: Es ist so eine ähnliche Situation, auch von der Gewalt und von den Exzessen, wie der Völkermord damals in Ruanda. Ich selber … Damals in den Bürgerkriegszeiten in Kolumbien gab es ja auch massenhafte Vertreibungen von Menschen, die dann in den Slums der großen Städte unter Plastikplanen campiert haben. Auch das war eine ähnliche Situation. Nur die Größenordnung ist natürlich nicht vergleichbar. In Bangladesch sitzen 500.000 Menschen jetzt in diesen Notaufnahmelagern. Jeder hat grausame Geschichten zu erzählen von Angehörigen, die ermordet wurden von grausamen Gewalttaten, bei denen die Menschen dabei waren, Frauen, die vergewaltigt wurden. Die Gewalt, von der die Menschen berichten, die nach Bangladesch geflohen sind, ist grauenvoll.
    May: Was erzählen Ihnen denn die Menschen konkret von ihrer Flucht und auch von dem, was in Myanmar los ist?
    Seidel: Man muss da schon nachfragen. Sie sind natürlich nicht besonders willens, diese Horrorgeschichten zu erzählen. Die sind erst mal froh, dass sie in Bangladesch angekommen sind, aber fast jeder, mit dem man sich unterhält, hat irgendwelche Angehörigen verloren. Wir haben beispielsweise ein Mädchen getroffen, das die gesamte Familie auf der Flucht … gestorben, umgebracht wurde und die dann ein Nachbar mit nach Bangladesch gebracht hat und die jetzt da praktisch alleine unter der Obhut dieses Nachbarn in einem von diesen Lagern sitzt. Zum Glück kümmert sich jetzt auch mittlerweile die Regierung in Bangladesch um solche Fälle und hat dann ein spezielles Programm auch für Waisenkinder aufgelegt.
    "Die werden systematisch vertrieben mit Gewalt"
    May: Sie haben gerade schon den Völkermord in Ruanda angesprochen als Vergleich. Kann man tatsächlich soweit gehen und von einem Völkermord sprechen an den Rohingya?
    Seidel: Ja, wenn man sich die Zahlen anschaut: Die werden systematisch aus der Region vertrieben mit Gewalt, die Dörfer werden niedergebrannt, Frauen werden systematisch vergewaltigt. Was die Menschen erzählen ist grauenvoll, und es hat ja von der internationalen Öffentlichkeit auch niemand Zugang, um zu verifizieren, was da tatsächlich in Myanmar passiert.
    May: Die Regierung bestreitet das ja, von Myanmar, dass sowas passiert.
    Seidel: Ja, gut, aber sämtliche UN-Hilfswerke, das Rote Kreuz, haben ja kaum Zugang zu dieser Region und können nur Menschen außerhalb dieser Region unterstützen, und von daher sind wir von den Informationen her auf das angewiesen, was uns die Flüchtlinge erzählen, die ja selber dabei waren, und die erzählen eigentlich alle das gleiche.
    May: Der UN-Menschenrechtskommissar Said al-Hussein hat das Vorgehen der Militärs in Myanmar als lehrbuchmäßiges Beispiel für eine ethnische Säuberung bezeichnet. Da würden Sie also mitgehen.
    Seidel: Da hat er wohl recht, ja.
    "Die Solidarität in Bangladesch ist sehr groß"
    May: Wie viele Helfer sind denn vor Ort, um diesen Massen an Flüchtlingen zu helfen?
    Seidel: Die Regierung in Bangladesch hat ja mittlerweile auch ihr Militär involviert. Das Militär in Bangladesch, viele davon haben Erfahrungen mit UN-Blauhelmeinsätzen, was gut ist, weil die schon mit humanitärer Hilfe was zu tun hatten. Die UN-Hilfsorganisationen, das Welternährungsprogramm, die IOM sind aktiv, die großen Hilfswerke. Wir von der Caritas haben jetzt letzten Donnerstag endlich die Regierungsgenehmigung bekommen, auch Hilfe zu leisten, und von daher fangen jetzt auch die anderen NGOs zusammen mit den UN-Organisationen und der Regierung an, großflächig Hilfe zu verteilen, und so hoffen wir, dass dann in den nächsten Wochen auch tatsächlich alle Menschen versorgt werden können.
    May: Muss man Bangladesch für den humanitären Einsatz loben?
    Seidel: Auf jeden Fall. Bangladesch ist eins der ärmsten Länder der Welt. Die Region, in der die Flüchtlinge ankommen, ist eine der ärmsten Regionen dieses Landes, und auch dort ist sowohl die Regierung als auch die einheimische Bevölkerung im Moment noch sehr willig zu unterstützen. Es gibt viele Privatinitiativen auch, Menschen, die aus den umliegenden Gegenden Lastwagen mit Hilfsgütern beladen und dann unter den Flüchtlingen verteilen. Das heißt, die Solidarität in Bangladesch ist sehr groß. Das wird natürlich wahrscheinlich nicht ewig so weitergehen, aber umso wichtiger ist, dass dann die Hilfswerke in Zukunft stärker ihre Aktivitäten ausweiten.
    May: Wie ist denn die Perspektive der Flüchtlinge in der Region?
    Seidel: Die Perspektive ist eigentlich miserabel, wie die Flüchtlinge selber. Die Hälfte geht davon aus, dass sie langfristig in Bangladesch bleiben müssen. Ein Viertel hofft irgendwie, vielleicht nach Myanmar zurückkehren zu können, und ein Viertel hat keine Ahnung, wie das in Zukunft weitergehen soll. Ich selber denke, so wie die Situation ist, wird es wenig andere Möglichkeiten für die nächsten Jahre geben als diese Bevölkerung, die betroffene, in Bangladesch selber irgendwie zu versorgen. Das Problem ist, dass die Regierung im Moment glaubt, sie könnte all diese Menschen in der Grenzregion versorgen. In diesen Lagern, wo eine halbe Million Menschen unter Plastikplanen im Schlamm sitzen, weil es immer noch starke Monsunregenfälle gibt, ist das natürlich auch aus gesundheitlicher Sicht sehr risikoreich, eine große Katastrophe. Wenn da irgendwann Cholera ausbricht in diesem Schlammhaufen, wo die Leute kaum Toiletten und nur schlechtes Trinkwasser haben, dann wird die Katastrophe ja noch viel größer. Das heißt, diese Vorstellung, dass eine halbe Million Menschen zusammen in so einem improvisierten Flüchtlingslager sitzen, diese Dimension ist schon in der Tat außergewöhnlich.
    "Auf Jahre hin Bedarf an Versorgung dieser Menschen"
    May: Was ist denn also zu tun Ihrer Meinung nach?
    Seidel: Ich denke, die Regierung in Bangladesch braucht erst mal sehr viel internationale Unterstützung, um mit diesem riesigen Problem fertig zu werden, und es wird wohl drauf rauslaufen, auch dezentrale Lösungen zu finden. Wenn Sie sich vorstellen, während der Flüchtlingskrise in Deutschland, wenn alle Flüchtlinge, die nach Deutschland kamen, direkt an der Grenze zu Österreich in Zelten untergebracht worden wären, eine halbe Million Menschen in einem Zeltlager, sowas auch logistisch zu versorgen ist ja mittelfristig gar nicht … oder das ist auch kurzfristig gar nicht möglich. Es gibt da nur eine einzige Zufahrtsstraße. Allein die Lastwagentransporter, die die Nahrungsmittel dahin bringen, mittlerweile muss Trinkwasser transportiert werden, weil die Brunnen nicht mehr sauber sind. Das ist allein logistisch eine riesige Herausforderung. Wenn es noch eine Masernepidemie dazu gibt oder eine Choleraepidemie, dann wird das Ganze zu einem vollständigen Desaster.
    May: Fließt denn bisher genug Geld? Ich meine, wir berichten ja jetzt schon seit einigen Wochen verstärkt über die Situation der Rohingya in Myanmar beziehungsweise in Bangladesch. Fließt dementsprechend dann auch Geld, gerade aus dem Westen?
    Seidel: Ja, gut, die großen internationalen Hilfswerke und auch die UN-Organisationen, wir bekommen schon Unterstützung, aber der Bedarf ist natürlich gigantisch, und das Problem löst sich ja jetzt nicht schnell innerhalb der nächsten zwei, drei Wochen oder zwei, drei Monate. Das wird wahrscheinlich auf Jahre hin Bedarf an Versorgung dieser Menschen geben, denn Bangladesch ist selber ein Land, wo es nicht viele ökonomische Möglichkeiten gibt. Die Regierung möchte jetzt nicht die Menschen direkt integrieren, und von daher, wenn die Menschen weiterhin in diesen Lagern leben, müssen sie von Hilfsorganisationen oder von der Regierung versorgt werden.
    May: Sagt Peter Seidel von der Hilfsorganisation Caritas, gerade zurückgekehrt aus den Flüchtlingslagern der Rohingya in Bangladesch. Herr Seidel, vielen Dank für das Gespräch!
    Seidel: Ja, gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.