Freitag, 19. April 2024

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Virologe Stürmer zur Delta-Variante
"Der Herbst muss nicht in einer vierten Welle enden"

Der Virologe Martin Stürmer mahnt, die Menschen sollten die Freiheiten, die sie nach Monaten des Lockdowns wiederbekommen haben, nicht überstrapazieren. Dann müsse es eine vierte Erkrankungswelle durch die Delta-Variante des Coronavirus im Herbst auch nicht geben, sagte Stürmer im Dlf.

Martin Stürmer im Gespräch mit Sandra Schulz | 19.06.2021
Der Virologe Martin Stürmer bei der Aufzeichnung der ZDF-Talkshow "Markus Lanz"
Der Virologe Martin Stürmer (dpa / Geisler-Fotopress)
Für ein behutsames Öffnen in kleinen Schritten hat der Präsident des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, geworben. Denn nach der britischen Coronavirus-Mutante, die das Land in eine heftige dritte Corona-Welle geschickt hat, beschäftigt jetzt die Delta-Variante die Corona-Manager, also die Virusmutante, die noch einmal ansteckender sein soll.
"Wir haben es selber in der Hand", ob es ein guter Sommer wird, sagte der Virologe Martin Stürmer, der in Frankfurt das private Diagnostiklabor IMD leitet, im Dlf. "Wenn wir uns wirklich gut verhalten, wird auch der Herbst nicht unbedingt in einer massiven vierten Welle enden und in weiteren Lockdown-Maßnahmen. Aber wir können uns das aber auch noch verderben, indem wir jetzt zu leichtsinnig werden." Mit Sorge habe er aber nach London geblickt, wo beim Fußballspiel die schottischen Fans eng durch die Straßen gezogen seien. "Solche Szenen sollte man weltweit vermeiden."
An Reisende könne er nur appellieren, sich auch im Urlaub entsprechend zu verhalten. Mit den geeigneten Maßnahmen könne man relativ gefahrlos in Urlaub fahren. Wenn es irgendwo zu eng werde, zu viele Menschen auf einem Haufen seien, sollte man sich zurückzuziehen, Abstand halten.
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Mehrere Varianten des ursprünglichen Coronavirus sind in Deutschland angekommen. Dominierend ist noch die britische Variante bezeichnete Alpha-Variante, aber auch die Delta-Variante wird vermehrt nachgewiesen.

Das Interview in voller Länge:

Sandra Schulz: Wieso sorgt diese Delta-Variante jetzt in Großbritannien für steigende Zahlen, obwohl dort der Impffortschritt ja viel weiter ist als in Deutschland?
Martin Stürmer: Ja, diese Delta-Variante ist zum einen sehr viel ansteckender, das heißt, es gibt ja auch in Großbritannien noch Ungeimpfte, die entsprechend leichter infiziert sind. Man war dort auch auf dem Weg zu zahlreichen Lockerungen, die man schon zum größten Teil umgesetzt hat und trotz steigender Zahlen noch nicht gestoppt hat. Zum anderen ist es so, dass auch diese Delta-Variante bei Erstgeimpften, die auf ihre zweite Impfung warten, auch sehr effektiv sich weiterverbreiten kann, und da die Briten sehr viel AstraZeneca nehmen, ist dort zwölf Wochen Abstand eben auch ungünstig.
Schulz: Jetzt ist die Inzidenz in Großbritannien schon wieder auf 70 geklettert – wie groß ist das Problem bei einer Inzidenz von 70 mit so vielen Geimpften?

"Die Virusvermehrung unterdrücken"

Stürmer: Die vollständig Geimpften werden eher weniger das Problem sein. Auch die können sich natürlich infizieren, aber es sind eben auch keine 100 Prozent erreicht, und dementsprechend ist es ein Wettkampf. Was man nie unterschätzen darf, wenn ich weiter Virusvermehrung habe und das bei mehrfach Geimpften oder einfach Geimpften es trotzdem zu Ausbrüchen kommt, dann kann sich natürlich trotzdem immer noch eine neue Variante draufsetzen. Insofern muss man zusehen, dass diese Virusvermehrung unter Geimpften wirklich auf Null geht wieder oder weiter zurückgeht.
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Schulz: Lassen Sie uns das noch genauer abstufen: Eine Ausbreitung unter Geimpften ist auch möglich, dann droht allerdings kein schwerer Verlauf, und wie ist es bei den einmal Geimpften?
Stürmer: Ja, natürlich ist auch dort der Verlauf wahrscheinlich eher milde, aber das ist jetzt nicht unbedingt das Entscheidende. Natürlich müssen wir immer auch auf das Gesundheitssystem gucken, und unser erstes Ziel war ja auch letztendlich, die schweren Verläufe zu mildern und die Todesfolgen zu reduzieren.
Auf der anderen Seite wollen wir natürlich auch nicht, dass sich diese Pandemie weiter fortsetzt, wir wollen ja mit der Impfstrategie und Impfkampagne auch weltweit versuchen, da irgendwo ein Ende zu setzen, auch wenn es weltweit deutlich länger dauern wird als in Deutschland. Und da dürfen wir es uns nicht leisten, dass wir auch unseren Beitrag dazu leisten, dass noch neue Varianten dazukommen. Es muss unser Ziel sein, auch die Virusvermehrung zu unterdrücken.
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Schulz: Und damit haben wir ja wie gesagt auch schon Erfahrung, wenn wir ans Frühjahr denken, als sich die damals sogenannte britische Variante ausgebreitet hat, in Deutschland, da ging das ja rasend schnell. Jetzt diese Delta-Variante, die ursprünglich in Indien zunächst nachgewiesen wurde, die ist in Deutschland jetzt ja noch kaum verbreitet. Warum das?

"Nicht den Fehler machen, wieder zu viel zuzulassen"

Stürmer: Ja, wir haben natürlich durch die Umsetzung der Maßnahmen die Alpha-Variante ziemlich gut zurückdrängen können. Da sind sicherlich viele Faktoren zusammengekommen, durchaus saisonale Effekte nicht ganz auszuschließen, verbreiteteres Impfen und eben doch auch Disziplin in der Bevölkerung durch die Maßnahmen. In der Kombination ist es mit der Alpha-Variante sehr schnell nach unten gegangen, und das hält natürlich auch die Delta-Variante in Schach.
Es ist ja nicht so, dass diese Variante trotz unserer Maßnahmen sich weiterverbreitet, sondern sie bleibt eben auch relativ niedrig. Wir dürfen halt jetzt den Fehler nicht machen, wieder zu viel zuzulassen, weil wenn wir das tun, dann geben wir der Delta-Variante einen Nährboden, mit dem sie sich verbreiten kann, und sie kann es deutlich effektiver als eben Alpha zum Beispiel im Frühjahr.
Schulz: Ja, wobei Sie sagen, die Alpha-Variante hätten wir schnell in den Griff bekommen. Die war ja verantwortlich für die dritte Welle, die auch das Land ja noch mal ganz entscheidend in den Lockdown geschickt hat mit Schulschließungen und alles, was sowieso galt, noch verlängert hat.
Stürmer: Das ist richtig. Ich hätte jetzt erwartet, dass die Alpha-Variante länger uns beschäftigt, insofern bin ich erfreut, dass wir es doch, in Anführungszeichen, relativ schnell hinbekommen haben. Aber wir haben natürlich den Fehler gemacht, diese Variante zu unterschätzen im März, dass wir halt eben die Lockerungen zu sehr forciert haben, obwohl die Zahlen gestiegen sind. Diesen Fehler dürften wir halt jetzt nicht machen.
Sie haben es in der Anmoderation ja sehr schön gesagt, es ist ein sehr schmaler Grat zwischen zu viel Warnung und zu viel Euphorie, und den müssen wir natürlich irgendwo finden. Ich glaube, diese Findungsphase, die müssen wir jetzt sehr schnell eingehen, weil wir hinken mit unseren Zahlen, die wir sehen, mit unserer Prävalenz von sechs Prozent Delta, natürlich immer noch ein, anderthalb Wochen hinterher, weil das Infektionsgeschehen, was wir jetzt messen, ist schon passiert.
Schulz: Wird denn jetzt ausreichend gefahndet nach dieser Delta-Variante? Das war ja ursprünglich im Frühjahr auch ein Problem, dass einfach zu wenig sequenziert wurde, also bei den PCR-Tests sozusagen noch mal genau nachgeschaut wurde, welche Variante es ist. Wird das denn jetzt flächendeckend gemacht?

Fast ein Viertel Delta-Variante in Frankfurt

Stürmer: Ja, wir haben ja die Verordnung, dass wir zehn Prozent der positiven Proben bei dieser niedrigen Inzidenz zum Sequenzieren geben müssen, alle Labore in Deutschland. Insofern wird man einen gewissen Überblick behalten. Wir in Frankfurt testen so ziemlich jede positive Probe, die wir für den offiziellen Testzentren bekommen, auf die Varianten, und sehen dort auch, wenn es eine indische Variante wäre, also eine Delta-Variante wäre, und wir sehen diese Zunahme tatsächlich auch. Ich hab in den letzten zwei Untersuchungsreihen, wo wir sehr wenig untersucht haben, weil es kaum noch Positive gibt, aber da ist fast ein Viertel indische Variante, Delta-Variante gewesen.
Schulz: Sie haben die Gefahr, die Unwägbarkeiten rund um diese Delta-Variante jetzt geschildert. Wir haben die Einschätzungen im Ohr von Christian Drosten von vor ein paar Wochen, jetzt sagt gestern Jens Spahn auch noch mal, es kann ein guter Sommer werden. Kann sich das Blatt denn jetzt auch noch relativ kurzfristig ändern?
Schottische Fans feiern auf dem Leicester Square in London das Unentschieden ihrer Mannschaft gegen England bei der Fußballeuropameisterschaft 
Schottische Fans feiern in London das Unentschieden ihrer Mannschaft gegen England (dpa / AA / Hasan Esen )
Stürmer: Ja, also wir haben es selber in der Hand, dass wir diesen guten Sommer bekommen, und ich gehe sogar noch ein Stückchen weiter und sage auch, wenn wir uns wirklich gut verhalten, wird auch der Herbst nicht unbedingt in einer wirklich vierten Welle, massiven vierten Welle enden und in weiteren Lockdown-Maßnahmen. Aber wir können uns das, wie Sie es richtig sagen, auch noch verderben, indem wir jetzt zu leichtsinnig werden.
Wenn ich zum Beispiel gestern nach London geschaut habe bei dem Fußballspiel, wie eng dort die schottischen Fans da durch die Straßen gezogen sind, solche Szenen sollte man weltweit vermeiden und gerade auch in Deutschland vermeiden, damit eben so was nicht passiert.
Schulz: Lässt sich das überhaupt steuern? Wenn wir jetzt im Moment davon ausgehen, da scheint ja vielleicht noch nicht das letzte Wort gesprochen zu sein, aber es könnte auf ein EM-Finale in Großbritannien, in London rauslaufen.

EM ein Schub für die Varianten?

Stürmer: Ja, das ist natürlich problematisch, und es wird ja auch schon diskutiert, ob das da überhaupt stattfinden soll, gerade im Kontext der sich dort sehr stark ausbreitenden Delta-Variante. Man sollte das sich sehr genau anschauen, und wie gesagt, wenn ich diese Disziplinlosigkeit, die ich nachvollziehen kann, weil Fußball ist halt eben ein emotionaler Sport wie viele andere Sportarten auch … aber das ist eben zu weit gegangen.
Und da besteht natürlich die Gefahr, dass die Menschen, die dort hinfahren, die fahren ja dann auch wieder in ihre Heimatländer zurück und bringen dann diese Varianten möglicherweise in einem weiteren Schub vor Ort, und das sehe ich schon mit ein bisschen Sorgenfalten in der Stirn.
Schulz: Wobei das ein Thema ist, das andere Thema ist das Reisen, das jetzt ja auch wieder viel einfacher geworden ist. Das Auswärtige Amt hat eine ganze Reihe, eine lange Reihe von Ländern von der Risikoliste gestrichen, gestern ist wieder eine Reihe von Ländern dazugekommen, in die zu reisen viel einfacher wird. Dort werden möglicherweise ja auch Touristinnen und Touristen in Großbritannien sich aufhalten. Gehen Sie diesen Spagat mit?

Eher Individualurlaub als Massentourismus

Stürmer: Es ist wie letztes Jahr ein ziemlicher Spagat tatsächlich, den man machen muss. Ich kann nur an die Reisenden appellieren, die Freiheiten, die wir jetzt bekommen, eben nicht überzustrapazieren, sondern sich auch im Urlaub entsprechend adäquat zu verhalten. Wenn man geeignete Maßnahmen trifft für sich selber, die man hier eben auch sehr gut beherrscht hat, dann kann man auch relativ gefahrlos in Urlaub fahren. Man muss halt eben die Knackpunkte kennen.
Wenn es irgendwo zu eng wird, zu viele Menschen auf einem Haufen sind, da ist eben wirklich dann vielleicht angedacht, sich daraus zurückzuziehen, Abstand zu halten, vielleicht auch eine Maske aufzusetzen. Dann, denke ich, kann man schon es riskieren, in Urlaub zu fahren. Ich würde natürlich gerne so einen Individualurlaub eher favorisieren als den Massentourismus.
Schulz: Jetzt ist es bei den Reisen ja so, dass teilweise eben noch PCR-Tests erforderlich sind kurz vor Abreise – reicht das?
Stürmer: Solange es noch PCR-Tests sind, bin ich ja zufrieden. Teilweise in Spanien hieß es ja schon, dass man jetzt nur noch einen Antigen-Schnelltest braucht, um ins Land zu reisen, und das sehe ich mit deutlich mehr Sorgen, weil der natürlich noch weniger aussagekräftig ist. Ganz, ganz wichtig für mich ist die Testung bei Rückkehrern, weil damit wären wir nicht blind, was möglicherweise aus dem Urlaub zu uns zurückkommt. Wenn man das geschickt anstellt, dann hat man Möglichkeiten, da irgendwie Unheil abzuwenden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.