EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen plädiert dafür, mit Abgeordneten rechter Parteien im Europaparlament zusammenzuarbeiten, wenn diese proeuropäisch und rechtsstaatlich denken und sich an die Seite der Ukraine stellen. Im Interview der Woche des Deutschlandfunks bezeichnete die Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei die Europawahl zugleich als "Richtungswahl". Bei dieser gehe es darum, ob Europa sich stark weiterentwickelt oder gespalten und zersetzt werde, wie es die Rechtspopulisten wollten.
Hinweis auf fehlenden Fraktionszwang
Die CDU-Politikerin betonte, die Rechtspopulisten im Europaparlament seien klar antieuropäisch. Sie wies aber daraufhin, dass es keinen Fraktionszwang im Europaparlament gibt, was eine Zusammenarbeit mit einzelnen Abgeordneten ermögliche. "In Europa muss man immer wieder sich Mehrheiten suchen für jedes Thema und die Mehrheiten bilden, und das ist einer der Gründe, warum ich sehr deutlich sage, wir müssen nicht auf die Gruppen gucken, sondern wir müssen auf die Abgeordneten gucken", sagte von der Leyen. "Das Kriterium für mich ist, dass die Abgeordneten, mit denen wir zusammenarbeiten wollen, denen wir ein Angebot machen, für Europa sind, für die Ukraine, also gegen Russland, und für den Rechtsstaat."
Von der Leyen war zuletzt wegen ihrer Haltung zu rechten Parteien unter Druck geraten. Sozialdemokraten, Linke und Grüne warfen ihr eine Annäherung etwa an Italiens Postfaschisten aus machttaktischen Gründen vor. Der Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten, Nicolas Schmit, kritisierte, dass von der Leyens Europäische Volkspartei (EVP) sich einer Erklärung zu "roten Linien" gegen Rechtsaußen nicht angeschlossen habe. Die EU-Kommissionschefin schaffe damit eine "Grauzone".
Das Interview mit Ursula von der Leyen im Wortlaut:
Peter Kapern: Keine zwei Wochen mehr sind es, bis die ersten Wahllokale innerhalb der Europäischen Union die Türen öffnen. Die Niederländer sind dann die Ersten, die schon am 6. Juni ihre Stimme abgeben können. Die Deutschen sind, so wie die meisten EU-Bürger, dann allerdings erst am 9. Juni dran. 720 Abgeordnete werden gewählt, und die entscheiden dann darüber, wer in den kommenden fünf Jahren an der Spitze der EU-Kommission steht.
Beste Chancen, diese Wahl zu gewinnen, hat allen Umfragen zufolge die derzeitige EU-Kommissionspräsidentin, die Amtsinhaberin, die Spitzenkandidatin der EVP, der Parteienfamilie der Europäischen Christdemokraten, Ursula von der Leyen, und die ist heute bei uns zu Gast im Interview der Woche. Schauen wir doch zu Beginn einmal auf ein paar Blüten, die der Wahlkampf gerade treibt, gestern zum Beispiel der Rauswurf der AfD aus der rechtsextremen ID-Fraktion als Reaktion auf die Umtriebe des AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah. Schweigen und genießen, oder was ist Ihre Reaktion auf das, was da abläuft am rechten Rand?
Ursula von der Leyen: Das zeigt, wie katastrophal die AfD aufgestellt ist, dass sie sogar für die rechtsextreme Fraktion im Europäischen Parlament untragbar und unhaltbar ist, und wir haben ja Abenteuerliches auch in den letzten Wochen gesehen. Die Spitzenkandidaten stehen im Verdacht, von Russland bezahlt zu werden, für China zu spionieren, mit unseren Werten auf Kriegsfuß. Das zeigt einfach, wie desaströs die AfD ist.
Kapern: Als Political Animal macht man sich doch bestimmt auch Gedanken darüber, was es zu bedeuten hat, dass alle Schwergewichte unter den Nationalisten und Rechtspopulisten plötzlich auf Distanz gehen zu den deutschen Rechtsauslegern, dass die förmlich Kreide fressen, die Salvinis und die Le Pens. Halten Sie das für eine Camouflage oder bahnt sich da eine echte Richtungs- und Strategieänderung der Rechtspopulisten an?
"Die Rechtspopulisten sind ganz klar antieuropäisch"
von der Leyen: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Rechtspopulisten sind ganz klar antieuropäisch. Sie wollen dieses Europa, wie wir es heute haben, nicht. Sie sind ganz häufig sehr russlandfreundlich, also gegen die Ukraine, und sie stehen fast immer auch mit dem Rechtsstaat auf Kriegsfuß. Das heißt, wir sollten uns da überhaupt nicht täuschen lassen. Diese Wahl ist wirklich eine Richtungswahl. Wir wollen ein starkes Europa, und die Mitte muss halten. Und diese Wahl geht darum, wollen wir dieses Europa stark weiterentwickeln, oder wollen wir es spalten und zersetzen, wie das die Rechtspopulisten wollen.
Kapern: Die Mitte muss halten, sagen Sie, und wenn man sich die Umfragen, die Prognosen anschaut, dann tut sie das ja eigentlich. Allen Umfragen zufolge bekommt die europafreundliche, informelle Koalition, die ja seit Jahrzehnten die EU-Kommission im Straßburger Parlament stützt, aus Sozialdemokraten, Liberalen und Christdemokraten, die kommt allen Umfragen zufolge auf fast 400 der 720 Sitze. Das ist eigentlich eine satte Mehrheit, und trotzdem schließen Sie eine Kooperation mit Teilen der rechtskonservativen und rechtsnationalistischen EKR-Fraktion nicht aus. Warum?
"In Europa muss man immer wieder Mehrheiten suchen"
von der Leyen: Ganz wichtig ist, dass man weiß, dass das Europäische Parlament ganz anders aufgestellt ist als die nationalen Parlamente, wie wir es hier zum Beispiel in Deutschland kennen. Es gibt keinen Fraktionszwang. Es gibt keinen Koalitionsvertrag. Es gibt keine Parteien, die die Regierung stützen, weil es keine Regierung in Europa gibt. Und deshalb erlebt man, dass bei fast allen Gesetzen aus derselben Gruppe die Abgeordneten zustimmen, andere Abgeordnete das Gesetz ablehnen und die dritte Gruppe sich enthält.
Das heißt, in Europa muss man immer wieder sich Mehrheiten suchen für jedes Thema und die Mehrheiten bilden, und das ist einer der Gründe, warum ich sehr deutlich sage, wir müssen nicht auf die Gruppen gucken, sondern wir müssen auf die Abgeordneten gucken. Das Kriterium für mich ist, dass die Abgeordneten, mit denen wir zusammenarbeiten wollen, denen wir ein Angebot machen, für Europa sind, für die Ukraine, also gegen Russland, und für den Rechtsstaat.
Kapern: Aber die Abgeordneten vertreten ja Parteien dort.
von der Leyen: Es geht darum, die politischen Kräfte zu gewinnen, die für die Mehrheit in der Mitte so wichtig sind. Ich gebe Ihnen einmal ein Beispiel. Das entscheidende Klimagesetz am Anfang dieses Mandates hätte keine Mehrheit gehabt, wenn ich mich ausgerechnet auf die Grünen verlassen hätte. Die wollten nämlich mehr und haben deshalb gegen das Klimagesetz gestimmt.
Dennoch habe ich eine breite Mehrheit im Parlament, und im Europäischen Rat haben die Mitgliedstaaten zugestimmt, gefunden, und wir wissen, dass das entscheidend war, um die Dekarbonisierung als eine saubere Wirtschaftsentwicklung hinzukriegen, die sauberen Energien auf den Weg zu bringen. Und das zeigt, dass man immer wieder das Thema in den Mittelpunkt stellen muss und dann ein Angebot an die Abgeordneten und Mehrheiten suchen.
Kapern: Trotzdem muss man natürlich auch darauf achten, dass europäische Werte nicht völlig unter die Räder kommen. Also ich nenne jetzt auch mal ein Beispiel. Da gibt es Fackelmärsche von Parteimitgliedern der Partei von Giorgia Meloni, der Fratelli d’Italia. Da wird der Gruß der italienischen Faschisten gezeigt. Da gibt es Klagen über Versuche der Fratelli, die Medien und den Kulturbetrieb unter Kontrolle zu bringen, die LGBTQ -Rechte einzukassieren. Das klingt nicht so richtig pro-europäisch. Kann aus dem Reservoire wirklich Kooperationspartnerschaft für die EVP entstehen?
Die AfD und ihre "bedenkliche Nähe zu Putin"
von der Leyen: Aber Sie formulieren es ja selber auch, das ist nicht pro-europäisch. Das sind manchmal Werte des Rechtsstaates, die nicht beachtet werden, und oft ist auch, wenn ich mir die AfD zum Beispiel anschaue oder den Front National, den Rassemblement National in Frankreich, eine ganz bedenkliche Nähe zu Putin. Und drehen wir es einmal anders um.
Diese Abgeordneten wollen nichts, aber auch gar nichts mit mir zu tun haben und meinen Vorschlägen, denn die Vorschläge, die inhaltlichen Vorschläge der Kommission sind so aufgebaut, dass sie sehr klar dieses Europa stark machen wollen, nach vorne bringen wollen, sehr klar die Demokratie verteidigen gegen den Autokraten, ganz klare Schwerpunkte auf die Rechtsstaatlichkeit und unsere Werte legen, und darüber stimmen die Abgeordneten ab.
Kapern: Sie hören den Deutschlandfunk, das Interview der Woche, heute mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Frau von der Leyen, die europäische Wirtschaft lahmt. Die Wachstumsraten sind weit niedriger als in den USA und in China. Auch in anderen Bereichen läuft die EU hinterher, etwa Ausgaben bei Forschung und Entwicklung. Der Präsident von Gesamtmetall, des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, der spricht sogar von einer Entindustrialisierung. Sie auch?
von der Leyen: Ich finde ganz wichtig im Vergleich mit den USA und China, dass wir unsere Stärken kennen. In den USA und China ist die Schere zwischen Arm und Reich viel größer als in Europa. Wir haben eine starke Mittelschicht. Hier ist der Zugang zu Bildung ein viel besserer, unabhängig vom Geldbeutel der Eltern, ob das jetzt Schule ist oder Ausbildung oder Universität. Wir haben geringere CO2-Emissionen. Wir haben eine bessere Infrastruktur, und wir haben, aus all dem ergibt sich das, eine höhere Lebenserwartung. Natürlich gibt es aber auch Themen, wo wir unsere Hausaufgaben machen müssen.
Kapern: Das alles, was Sie gerade aufgezählt haben, bleibt ja möglicherweise nicht so, wenn tatsächlich die industrielle Basis in Europa verloren geht.
Saubere Technologien weiter nach vorn bringen
von der Leyen: Und deshalb können wir auf die Hausaufgaben schauen, die wir machen müssen. Das Erste ist das Thema: Zugang zu Kapital verbessern für unsere Unternehmen. Da geht es gar nicht um öffentliche Mittel, sondern da geht es vor allen Dingen um privates Kapital, das da ist, aber wo der Zugang schwierig ist, weil Europa zu fragmentiert ist. Und deshalb brauchen wir eine sogenannte Kapitalmarktunion. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Die Finanzminister müssen jetzt zu einer gemeinsamen Entscheidung kommen.
Wenn wir eine Kapitalmarktunion haben, dann hätten wir etwa 470 Milliarden Euro pro Jahr an Investitionen mehr in Europa, ein Riesenschritt nach vorne für die Unternehmen. Zweites Thema, unsere Energiekosten sind noch strukturell zu hoch. Wir haben Berge versetzt, als Putin uns erpresst hat und versucht hat, uns die Gasreserven abzudrehen. Da haben wir Berge versetzt im Zusammenhalt und uns befreit aus dieser Abhängigkeit und aus diesem Erpressungsversuch. Es ist uns gelungen, andere Zulieferer zu finden. Freunde haben uns geholfen, und wir haben massiv investiert in erneuerbare Energien. Das hat die Energiepreise wieder heruntergebracht.
Das ist nicht nur gut für das Klima, sondern es hat uns vor allen Dingen mehr Unabhängigkeit gebracht. Trotzdem müssen die Energiepreise weiter runter. Das heißt, die sauberen Technologien müssen wir weiter nach vorne bringen, denn das ist Energie, die hier in Europa entsteht, die wir nicht importieren müssen. Und deshalb sind die Preise geringer für die sauberen Energien, die hier zu Hause entstehen.
Dritter Punkt: Fachkräfte, wegen des demografischen Wandels brauchen wir deutlich mehr Fachkräfte, und da müssen wir erst einmal Hausaufgaben machen. In Deutschland ist das Thema Jugendarbeitslosigkeit sehr gut bearbeitet, aber in anderen Mitgliedstaaten können wir noch besser werden, die Jugendarbeitslosigkeit abzubauen. Zweitens, großes Potenzial bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, da sind Eltern, insbesondere Mütter, die gut ausgebildet sind, die gerne mehr tun würden, aber wo die Infrastruktur, also Kindergarten, gute Schulen, nicht vorhanden ist.
Hürden im Binnenmarkt weiter abbauen
Dazu kommt auch das Thema legale qualifizierte Migration, Menschen, die vom Ausland hierher zu uns kommen. Das ist ein ganz wichtiges Thema für die Industrie. Und dann ist der letzte Punkt, aber der ist fast der wichtigste, unser fantastischer Binnenmarkt. Alle Hürden, die im Binnenmarkt noch sind, müssen wir weiter abbauen, denn unser Mittelstand exportiert die Produkte, zum Beispiel aus Deutschland, weit über die Hälfte in den europäischen Binnenmarkt hinein. Das ist der wichtige Produktivitätsmotor und Wohlstandsmotor, den wir hier haben in Europa.
Kapern: Frau von der Leyen, Kapitalmarktunion, Binnenmarktentwicklung, da klingeln mir ein wenig die Ohren, denn schon im Jahr 2000 hat die EU die Lissabon-Strategie beschlossen. Und Sie wissen es, Sie ahnen es zumindest, das Ziel war, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft in Europa zu steigern. Das ist jetzt 24 Jahre her. Woran scheitert diese Umsetzung?
von der Leyen: Also erstens hat sich natürlich seitdem gewaltig was verändert zum Positiven, allein die Tatsache, dass wir in dieser Zeitspanne zehn neue Mitgliedstaaten aufgenommen haben in die Europäische Union. Also da ist eine gewaltige Dynamik dahinter.
Kapern: Aber auch schon damals beispielsweise hinkte die EU bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung gegenüber den USA gewaltig hinterher.
von der Leyen: Ja, Forschung und Entwicklung, gut, dass Sie das Thema aufgreifen, wir sind ausgezeichnet bei den öffentlichen Investitionen. Wir haben das Programm Horizon Europe, aber der Zugang zu privatem Kapital, daran hapert es. Das heißt, in der Weiterentwicklung verändern sich die Schwerpunkte. Die Schranken im Binnenmarkt niederzureißen und die Hürden zu entfernen, das ist ein Dauerthema. Das verändert sich auch über die Zeit, aber das ist ein Dauerthema, wo man sehr konsequent schlicht und einfach mit den Mitgliedstaaten auch daran arbeiten muss, dass diese Hürden abgebaut werden, aber die anderen Themen, die ich genannt habe, sind genauso virulent.
Das ganze Fachkräftethema hat eine ganz neue Dimension in den letzten Jahren bekommen. Das Energiethema hat auch eine neue Dimension durch Russlands Krieg in der Ukraine bekommen, und natürlich die Innovation und Forschung spielt eine ganz große Rolle für die neuen Produkte, die auf den Markt kommen.
Kapern: Nun haben wir noch gar nicht die externe Komponente der europäischen Wirtschaftsstärke besprochen, insbesondere Deutschland, aber eigentlich alle europäischen Staaten leben vom Export über die Grenzen des Binnenmarktes hinaus nach außen in die weite Welt. Und was dieser Teil der Wirtschaft, der so wichtig ist für Europa, braucht, das sind offene, globale Märkte. Und trotzdem prüft Ihre Kommission gerade die Verhängung von Zöllen auf Importe chinesischer Elektroautos. Warum?
US-Protektionismus und chinesische Überkapazitäten
von der Leyen: Offene Märkte, die aber nach Spielregeln der Welthandelsorganisation und unseren gemeinsamen Spielregeln weltweit funktionieren, denn auch unser Binnenmarkt zum Beispiel in Europa hat seine Spielregeln, damit es fair zugeht. Es geht um Fairness, und worüber wir mit den Chinesen diskutieren, ist, dass wir sehen, in China gibt es eine Nachfrageschwäche. Trotzdem investiert und subventioniert der chinesische Staat massiv die Produktion, also haben Überkapazitäten, die produziert werden. Die Amerikaner haben ihren Markt zugemacht, und wir müssen aufpassen, dass das nicht alles jetzt auf den europäischen Markt kommt.
Kapern: Das kommt ja bisher noch gar nicht. Das geben die Statistiken nicht her.
von der Leyen: Wenn wir sehen, wie subventionierte Produkte den Markt überschwemmen, ich kann Ihnen als Beispiel Solarindustrie nennen, da waren wir Vorreiter. Dann haben die Chinesen die Technologie übernommen. Dann haben sie sie massiv subventioniert. Dann kommen sie mit Billigprodukten auf den Markt. Da mag man ja erst sagen, das ist ja gut, wenn es billig ist, aber da das Produkte sind, die so subventioniert sind, dass die Preise geringer sind als die Herstellungskosten, hat man eine Situation, dass unsere Unternehmen kaputtgehen und bei uns Arbeitsplätze verloren gehen. Und heute haben wir in der Solarindustrie die Situation, dass überwiegend die Solarpanels aus China kommen, und das darf mit anderen Produkten nicht geschehen.
Kapern: Das heißt, die Autozölle kommen?
Transparenz über die Daten- und Faktenlage
von der Leyen: Nein, wir haben eine Untersuchung auf den Weg gebracht, wie es die Regeln der WTO verlangen. Die Ergebnisse sind noch nicht da. Ich finde ganz wichtig, Tatsachen und Fakten klarzulegen. Und dann ist der allererste Schritt, mit den Chinesen darüber zu reden. Da haben wir auch schon angefangen. Ich habe mich im vergangenen Jahr, in diesem Jahr jetzt dreimal mit Präsident Xi getroffen. Da spielten noch andere Themen eine Rolle, aber dieses Thema hat eine Rolle gespielt. Das heißt, der erste Schritt ist immer, dass man Klarheit, Transparenz über die Datenlage und Faktenlage herstellt und dann mit dem Gegenüber darüber spricht, wie man diese Benachteiligung Europas und diese Unfairness, die da im Wettbewerb ist, beheben kann.
Kapern: Nun hat China ja schon mit Gegenzöllen gedroht, und das nicht nur auf Autos aus Europa. Die Zölle auf Autos würden insbesondere deutsche Hersteller treffen, aber die Chinesen drohen auch mit Zöllen in anderen Bereichen. Oliver Zipse, der BMW-Chef, hat gesagt, Zölle bringen neue Zölle. Steuern wir da auf einen globalen Handelskrieg zu? Ist der überhaupt noch zu verhindern?
von der Leyen: Nein, wir steuern nicht auf einen Handelskrieg zu, auf keinen Fall, aber ich finde, Fairness verlangen am Markt und unseren Unternehmen auch fairen Wettbewerb zu ermöglichen, ist eine Selbstverständlichkeit für die Europäische Union. Noch einmal, wir verlangen im Binnenmarkt ja auch faires Miteinander. Wir mögen Wettbewerb, wir mögen Handel, aber er muss schon fair sein. Und wir würden ja niemals tolerieren im Binnenmarkt, dass ein Staat so massiv subventioniert, die Produktion einer bestimmten Branche, dass sie alle anderen kaputtmacht im europäischen Binnenmarkt. Und das Gleiche, diese Fairness, will auch die Welthandelsorganisation.
China braucht den europäischen Markt
Wir sind ganz klar nach den Spielregeln der Welthandelsorganisation aufgestellt. Das heißt, es gibt dann auch viele Verhandlungsmechanismen. Und am Ende des Tages darf man nicht vergessen, China braucht auch den europäischen Markt. Noch einmal, diese massive Überproduktion bei einer zu geringen Nachfrage, die China im eigenen Land hat, und das ist das eigentliche Problem, das China hat, die Märkte, die geschlossen sind, wie zum Beispiel den in den USA, aber andere schotten sich inzwischen auch ab, ich finde, da haben wir eine gute Gelegenheiten, mit China intensiv darüber zu sprechen, wie wir eigentlich die Fairness wieder herstellen können und das Gleichgewicht, damit wir tatsächlich über die Qualität den Wettbewerb machen und nicht über die Subventionen.
Kapern: Sie klingen so, Frau von der Leyen, als sei der Dialog mit China eigentlich schon die Lösung des Problems und die Zollfrage sei sozusagen nur die Drohung im Hintergrund, die nie umgesetzt werden muss. Das fällt ein wenig schwer zu glauben nach dem Vorspiel der letzten Wochen und Monate. Deswegen noch mal die Frage, kommen diese Zölle, ja oder nein?
von der Leyen: Es gibt eine klare Abfolge an Schritten, die die WTO vorschreibt, die die Welthandelsorganisation vorschreibt, und die halten wir auch ein. Und das Allererste ist die Untersuchung, deren Ergebnis wir abwarten, und genau das tun wir jetzt.
Kapern: Die europäische Wirtschaft, darüber haben wir jetzt gerade gesprochen, Frau von der Leyen, die soll also wieder brummen. Heißt das auch, dass wieder die Schlote rauchen müssen, wie man früher gesagt hat? Oder anders ausgedrückt, kommt der Green Deal unter die Räder, wenn der Deal für die europäische Industrie und die Wettbewerbsfähigkeit auf das Gleis gesetzt wird?
von der Leyen: Zwei Dinge dazu, erstens, wir haben ja gerade über die Hindernisse für den Wettbewerb oder die Produktivität Europas gesprochen. Und da war der europäische Green Deal, nämlich zum Beispiel saubere Technologien, die Lösung, zum Beispiel die Energiekosten runterzubringen. Wichtig finde ich auch, dass wir in strategische Technologien investieren. Das sind saubere Technologien, das ist künstliche Intelligenz und Quantum. Das sind Biotechnologien. Wenn wir einmal schauen, was unsere Wettbewerber machen, also wo die Zukunftsmärkte liegen, wenn man sich einmal anschaut, wo die Entwicklung hingeht, die USA haben massiv investiert in saubere Technologien über ihren Inflation Reduction Act.
Weniger Abhängigkeiten durch erneuerbare Energien
Wenn man sich die Golfstaaten anschaut, die sitzen auf Öl und Gas, sagen mir aber, dass sie massiv investieren in sauberen Wasserstoff, weil sie heute die Energiemärkte dominieren, und sie wollen das morgen auch tun, und deshalb, weil sie wissen, dass der saubere Wasserstoff die Energie der Zukunft ist, investieren sie da rein. Wir haben eben über China gesprochen, das ebenfalls massiv investiert in Elektromobilität, weil sie auch wissen, wo die Zukunftsmärkte liegen. Also, das sind alles Themen, die sauberen Technologien, die gut für das Klima sind, aber die eben auch die Zukunftsmärkte zeigen und zum Teil, das ist mir immer wichtig, gut für unsere eigene Unabhängigkeit sind. Wenn wir Energie sauber hier selber herstellen, haben wir nicht die Abhängigkeiten, die wir früher von Russland hatten.
Kapern: Der Vorsitzende der EVP, Manfred Weber, Chef der EVP-Fraktion, auch im Europaparlament, der hat gerade gefordert, dass die EU nun mit anderen Regionen der Welt sprechen muss, beispielsweise mit Indien und anderen Ländern, damit die den Klimaschutz genauso ernst nehmen wie Europa. Und dann hat er hinzugefügt, und wenn sie das nicht tun, dann müssen Teile des Green Deals zurückgenommen werden. Das klingt ja nun ganz anders als die Logik, die Sie gerade hier ausgebreitet haben.
von der Leyen: Und wir sehen auch, ich habe Ihnen eben drei große Regionen der Welt genannt, die USA, der Mittlere Osten und China, wohin die Reise geht. Und ich könnte weitermachen, Indien zum Beispiel hat einen ganz klaren Kurs auch, seine eigenen Akzente zu setzen in den sauberen Technologien und auch dort Vorreiter zu werden. Das heißt, wir alle spüren, der Klimawandel ist Realität. Wir alle spüren schmerzhaft die Folgen des Klimawandels und die Kosten, die dadurch kommen. Und deshalb ist es ein Wettlauf, dass es uns gelingt, industriell gut aufgestellt zu sein bei den modernen neuen Technologien, um nicht nur den Klimawandel zu beherrschen, sondern auch im Wettbewerb der Welt ganz vorne zu sein.
Kapern: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Frau von der Leyen, wir müssen noch ein wenig über die äußeren Grenzen der Europäischen Union hinwegschauen und auf beunruhigende Meldungen aus dieser Woche. Da gibt es Versuche, Russlands Grenzen im baltischen Raum zu verschieben, Seegrenzen zu verschieben. Da werden Markierungsbojen, Grenzmarkierungsbojen an der estnisch-russischen Grenze kassiert. Es gibt Meldungen darüber, dass die Zahl der forcierten Migranten an der Grenze zwischen der EU und Belarus wieder steigt. Was lesen Sie daraus? Was ist da im Busch?
"Wer so handelt wie Putin, will keinen Frieden"
von der Leyen: Das sind diese vielfältigen Nadelstiche, die Putin ununterbrochen versucht, was wir diese hybriden Angriffe nennen, auf lauter verschiedenen Ebenen, sei es, den Handel zu unterbinden, wie wir es gerade mit dem Gas besprochen haben, oder in der Tat Migranten aus den entlegensten Ecken der Welt nach Moskau zu holen und sie dann zum Beispiel gegen die finnische Grenze auch zu drücken, jetzt der Vorfall in Estland, gar nicht zu sprechen von dem Versuch, über die sozialen Medien massiv Stimmung gegen Europa zu machen oder Europa zu spalten, und ich könnte endlos weitermachen in dieser Liste.
Kapern: Was ist die richtige Reaktion darauf?
von der Leyen: Wer so redet und handelt wie Putin, der will keinen Frieden, sondern der wird weitermachen. Und deshalb ist es so wichtig, dass wir die Ukraine konsequent unterstützen und dass wir unsere eigene Verteidigungsfähigkeit stärken, denn wenn wir den Frieden auf unserem Kontinent bewahren müssen, dann müssen wir in Verteidigung investieren.
Kapern: Das ist eine plausible Forderung. Der steht aber eine ganze Reihe von Tatsachen gegenüber. Die deutsche Initiative zur Stärkung der ukrainischen Luftabwehr kommt nicht voran. Die tschechische Initiative zum Kauf von Artilleriemunition kommt kaum voran. Die EU musste ihr Versprechen brechen, eine Million Artilleriegeschosse bereitzustellen für die Ukraine. Das passt ja noch längst nicht unter einen Hut. Das, was Sie sagen, ist das eine. Das, was wir in der Realität sehen, ist das eine Ukraine-Fatigue, oder was ist das?
von der Leyen: Ich sehe das anders. Es ist uns gerade gelungen, 50 Milliarden auf den Weg zu bringen innerhalb Europas, in der Europäischen Union, für die Ukraine, damit die Ukraine sich in den nächsten Jahren fest darauf verlassen kann, finanziell gestützt zu sein und zum Beispiel Krankenhäuser, Unterricht, Polizeiwesen, Armee bezahlen zu können. Gleichzeitig ist es in den USA gelungen, das 60-Milliarden-Paket auch für die Ukraine zur Verfügung zu stellen. Ich sehe, dass die Munitionsinitiative Tschechiens gut läuft. Der Vorschlag aus Deutschland, einen Luftabwehrschirm zu bilden gemeinsam europäisch, macht gute Fortschritte.
Jetzt haben Polen und Griechenland einen verstärkenden Vorschlag dazu gemacht. Das heißt, das ist auf gutem Weg. Dahinter sieht man, dass wir verstanden haben, wir müssen die Ukraine unterstützen, so lange und konsequent wie sie es braucht, um sich zu verteidigen, aber wir müssen unsere eigene Verteidigungsfähigkeit auch verbessern, und das heißt, mehr in Verteidigung investieren, besser gemeinsam investieren. Das ist zum Beispiel diese Luftverteidigungsinitiative, und mehr europäisch investieren, das ist für mich wichtig, dass wir bei den Milliarden, die wir investieren, auch gute Arbeitsplätze hier in Europa bilden.
Kapern: Europäisch investieren, aus welchen Töpfen?
von der Leyen: Es gibt zwei Möglichkeiten, das zu machen, entweder sind das nationale Beiträge, wenn man zum Beispiel ein europäisches Projekt hat wie einen Luftabwehrschirm. Dann kann man entweder nationale Beiträge dazu geben oder man muss der europäischen Ebene Eigenmittel gewähren.
Kapern: Steuereinnahmen, eigene Steuern.
von der Leyen: Wir haben einen Vorschlag dafür gemacht schon vor geraumer Zeit. Der liegt den Mitgliedstaaten vor. Das sind die beiden Möglichkeiten, weitere Ausgaben zu finanzieren.
Kapern: Vor Kurzem haben Sie noch eine dritte Variante erwähnt, nämlich ein gemeinsames europäisches schuldenfinanziertes Programm.
"Das Geld fällt nicht vom Himmel"
von der Leyen: Das ist mir ganz wichtig, dass wir uns darüber klar werden, woher man auch die Gelder nimmt, man muss sie auf zwei Arten bedienen, entweder nationale Beiträge oder Eigenmittel. Also etwas anderes gibt es nicht. Auch das Wort Schuldenprogramm gibt es nicht in dem Sinne, weil das Geld fällt ja nicht vom Himmel. Man muss es finanzieren. Und da gibt es nur zwei Wege, nationale Beiträge in das EU-Budget, also gemeinsames europäisches Geld, darüber, oder Eigenmittel für die Europäische Union. Und beide Wege sind gut erfahren und bekannt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.