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Von G8 zu G9 in Niedersachen
"Es gab keine pädagogische Notwendigkeit für die Eile in der Umstellung"

In Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein soll an den Gymnasien das Abitur wieder erst nach neun Jahren (G9) gemacht werden. Niedersachsen hat die Umstellung schon 2014 beschlossen. Dadurch sei etwas mehr Ruhe eingekehrt, sagt Schulleiterin Ulrike Schade. Sie hätte sich aber mehr Zeit für die pädagogische Anpassung gewünscht.

Ulrike Schade im Gespräch mit Michael Böddeker | 16.06.2017
    Kinder gehen in einem Klassenzimmer eines Gymnasiums in Straubing (Bayern) an einer Tafel vorbei, auf der "G8" und "G9" steht.
    Kinder gehen in einem Klassenzimmer eines Gymnasiums in Straubing (Bayern) an einer Tafel vorbei, auf der "G8" und "G9" steht. (dpa / Armin Weigel)
    Michael Böddeker: Die Koalitionsverträge sind unter Dach und Fach. In Nordrhein-Westfalen kommt Schwarz-Gelb und in Schleswig-Holstein kommt in der Jamaika-Koalition außerdem noch die Farbe Grün dazu. Und in beiden Ländern soll sich damit auch in der Schulpolitik etwas ändern: Das G9 soll nämlich wieder zurückkommen, also das Abitur in neun Jahren am Gymnasium. Das soll wieder zur Regel werden und das kürzere G8 nur noch als Ausnahme bestehen bleiben. Aber wie funktioniert so eine große Umstellung konkret an den Schulen? Einfach wieder die Lehrpläne von vor 15 Jahren aus dem Schrank holen? Etwas komplizierter ist es wohl leider, und Erfahrung damit hat man schon in Niedersachsen gesammelt. Dort wurde die Rückkehr zu G9 schon 2014 beschlossen. Deshalb schauen wir jetzt mal dorthin. Ulrike Schade ist Schulleiterin am Gymnasium im Schloss in Wolfenbüttel und sie hat sich für uns mal etwas Zeit genommen, um zu erklären, was demnächst so auf die Schulen in NRW und in Schleswig-Holstein zukommen könnte. Ich habe sie gefragt, wie es denn bei ihr läuft mit der Umstellung. Ist das viel Arbeit?
    "Die Schülerinnen und Schüler merken natürlich nichts davon"
    Ulrike Schade: Durchaus, durchaus! Aber ich denke, Herausforderungen sind ja dazu da, dass wir sie annehmen. Es ist ein spannender Prozess, der sehr stark organisatorisch zu bewältigen ist, natürlich auch inhaltlich, aber die Schülerinnen und Schüler merken natürlich nichts davon.
    Böddeker: Worin liegen denn die Herausforderungen? Fangen wir vielleicht mal beim Organisatorischen an, was muss da alles umgestellt werden?
    Schade: Wir haben ja mit Beginn der Umstellung auf das neue G9 die Jahrgänge fünf bis acht sofort umstellen müssen. Das heißt, für diese Schülerinnen und Schüler gab es neue Stundentafeln, weniger Unterrichtsstunden. Und das ist der erste Teil, den wir bewältigen mussten. Ich spreche da nur mal Problembereiche an, wie viele Fächer, die nur noch epochal unterrichtet werden …
    Böddeker: Das müssten Sie, glaube ich, kurz erklären, was heißt das?
    "Das bedeutet schon eine längerfristige Planung als bisher"
    Schade: Epochal heißt, dass sie einstündig in der Stundentafel vorgesehen sind, einstündig im Jahr, aber dass man sie in der Regel natürlich nicht eine Stunde pro Woche unterrichtet, sondern in der Regel dann zwei Stunden pro Woche unterrichtet und somit nur ein Halbjahr. Das ist ein Problem, weil dann natürlich zum Beispiel durch die unterschiedliche Kürze von Halbjahren auch unterschiedlich viel Stoff in der einen Klasse beziehungsweise weniger in der anderen Klasse vermittelt werden kann. Das ist eine Herausforderung, mit der sich die Fachkonferenzen auseinandersetzen müssen. Es führt auch dazu, dass natürlich personell Langzeitplanungen erfolgen müssen, weil man sich schon überlegen muss, wer ist sozusagen in der Lage, diese Klasse zwei oder drei Jahre zu begleiten? Es ist schwierig geworden, Teams, Klassenlehrerteams zu bilden, wenn wir viele epochal unterrichtende Kollegen in diesem Bereich haben. Also, das bedeutet schon eine längerfristige Planung als bisher.
    Böddeker: Ändert sich auch was daran, wann der Unterricht stattfindet? Es gab ja vorher viel am Nachmittag auch.
    Schade: Ja, die Kernaussage der Ministerin ist, dass der Pflichtunterricht am Vormittag stattzufinden hat. Das ist bei 30 Stunden wöchentlicher Unterrichtsstundenzahl natürlich auch möglich, bedeutet aber, dass die Kinder in der Regel am Nachmittag keinen Unterricht mehr haben.
    Böddeker: Und insgesamt ist jetzt einfach weniger los bei Ihnen, nachmittags an der Schule?
    "Eine hohe Abstimmungsarbeit mit anderen Schulen"
    Schade: Insgesamt ist etwas weniger los, zum Glück nicht ganz viel. Wir haben wirklich Glück gehabt, dass die Nachmittagsangebote sehr stark angenommen werden, viele am Nachmittag AGs nehmen und momentan ja auch noch die älteren Jahrgänge am Nachmittag viel Unterricht haben.
    Böddeker: Sie haben eben angefangen bei den unteren Jahrgängen. Es wird ja auch nach und nach umgestellt, erst fängt man mit den jüngsten Jahrgängen an und dann werden die eben älter und dann geht es auch in die älteren Jahrgänge hinein. Was ist in der Oberstufe, was muss da konkret geändert werden?
    Schade: Im neuen System, in der neuen Oberstufe ist es so, dass die Leistungskurse wieder fünfstündig unterrichtet werden, die anderen Fächer dreistündig und Sport und das Seminarfach zweistündig. Das bedeutet, dass praktisch der Stundenplan nicht mehr so einfach zu handeln ist. Die zweite Schwierigkeit, die dahintersteckt, ist noch, dass es eine hohe Abstimmungsarbeit mit anderen Schulen gibt, denn wir kooperieren in der gymnasialen Oberstufe mit unseren beiden Nachbargymnasien. Die müssen ja sozusagen die gleiche Taktung dann übernehmen, denn sonst klappt das Ganze nicht.
    "Es müssen circa acht bis zehn Lehrkräfte pro Schule neu eingestellt werden"
    Böddeker: Wie sieht es mit den Unterrichtsinhalten aus? Jetzt könnte man ja meinen: Wenn es insgesamt ein Jahr mehr gibt, in dem man den Unterricht durchnehmen kann, dann könnte man da auch mehr Stoff durchnehmen. Ist das so oder wird der vorhandene Stoff gestreckt?
    Schade: Im Prinzip wird der vorhandene Stoff gestreckt. Er ist anders verteilt, das ist auch sinnvoll. Es gibt ja auch immer noch so Bereiche, die so freiwillig sind oder wo man vielleicht sagt, hier geht man ein bisschen mehr in die Tiefe. Diese Chancen haben wir jetzt, die hatten wir bisher nicht, darüber freuen wir uns sehr.
    Böddeker: Am Ende wird es ein ganzer Jahrgang mehr sein. Das muss ja auch irgendwie logistisch bewältigt werden. Also, reichen da noch die Klassenräume aus und die Anzahl der Lehrkräfte, die Sie haben?
    Schade: Bei beiden stellt sich bei uns ein großes Fragezeichen, da haben Sie vollkommen recht. Wir sind schon in der Planung, wie viele Räume wir zusätzlich benötigen, und die haben wir momentan nicht. Es werden sicherlich Gebäude bei uns insbesondere noch umgebaut werden, damit man bisher nicht richtig nutzbare Räume zu Klassenzimmern bekommt. Aber das ist in allen Kommunen sicherlich eine große Herausforderung. Die zweite Herausforderung stellt sich natürlich an das Land Niedersachsen, die für diese Situation, wenn plötzlich für einen ganzen Jahrgang viele Lehrkräfte – das sind circa acht bis zehn Lehrkräfte pro Schule, bei größeren Schulen so wie wir – neu eingestellt werden müssen. Wir versuchen schon, ein bisschen vorzubauen, aber mal sehen!
    Böddeker: Also unterm Strich schon eine ganze Menge Arbeit, die da vor allem auf Sie organisatorisch zukommt. Was würden Sie sagen: Ist dieser ganze Umbau jetzt wieder zurück zu G9 sinnvoll aus Ihrer Sicht? Also, die Studienlage scheint da nicht so ganz eindeutig zu sein, manche Bildungsforscher sagen: Ob jetzt G8 oder G9 besser ist, kann man gar nicht so genau sagen, aber vor allem dieser Umbau sorgt für Schwierigkeiten. Sehen Sie das auch so?
    "Insgesamt gesehen kehrt etwas mehr Ruhe ein"
    Schade: Dem stimme ich zu. Ich habe damals nicht verstanden, warum man vom 13-jährigen Bildungsgang auf den 12-jährigen geht, es gab keine pädagogische Notwendigkeit. Und aus meiner Sicht gab es auch keine pädagogische Notwendigkeit, diese Eile der Umstellung wieder zurückzuhaben. Ich begrüße das System, auf G9 zu gehen. Ich hätte mir gewünscht, dass es aufsteigend erfolgt, von Klasse fünf aufsteigend, dann hätten wir etwas mehr Zeit gehabt. Aber wir haben uns dieser Situation gestellt, ich denke, wir haben es auch ganz gut hinbekommen. Mir fehlt ein bisschen der Raum, den wir einfach benötigen, um also sozusagen auch pädagogisch das alles umstellen zu können. Also, das macht man ja alles noch so nebenher.
    Böddeker: Viele Eltern wünschen sich ja G9, Umfragen zufolge. Glauben Sie, die bekommen jetzt das, was sie sich gewünscht haben?
    Schade: Ich glaube schon. Insgesamt gesehen kehrt etwas mehr Ruhe ein, hat man schon das Gefühl. Ich glaube, dass wir mit einer gewissen Gelassenheit sowohl die Umstellung auf das achtjährige System wie auch jetzt auf das neunjährige System ganz gut hinbekommen haben. Ich merke aber in der Elternschaft, dass sie insgesamt sagen, sie sind froh, weil sie das Gefühl haben, es entsteht nicht diese Hetze, die natürlich auch sicherlich von dem einen oder anderen Kollegen formuliert wurde, dass er sagte: Oh, das müssen wir noch schaffen, das müssen wir noch schaffen!
    Böddeker: So weit Ulrike Schade, Schulleiterin am Gymnasium im Schloss in Wolfenbüttel. Mit ihr habe ich darüber gesprochen, was demnächst auf Gymnasien in NRW und Schleswig-Holstein zukommen könnte. Dort soll der Weg zum Abitur wie in Niedersachsen in Zukunft voraussichtlich wieder neun Jahre dauern.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.