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Vor 150 Jahren
Die ersten epilepsiekranken Jungen ziehen in Bethel ein

Es begann mit drei epilepsiekranken Jungen, die am 14. Oktober 1867 in einem alten Bauernhof am Rand von Bielefeld Unterkunft und Hilfe fanden. Die daraus entstandenen "von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel" sind heute eines der größten diakonischen Unternehmen Europas.

Von Andrea Westhoff |
    Behinderte Mitarbeiter in einer Werkstatt der Bethel-Stiftung in Bielefeld
    Behindertenwerkstätten stehen in der Kritik, ihre Mitarbeiter viel zu selten auf den Ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. (imago/epd)
    "Wir können Orte schaffen helfen, von denen der helle Schein der Hoffnung in die Dunkelheit der Erde fällt."
    So hat der evangelische Pfarrer Friedrich von Bodelschwingh einmal die Aufgabe der Kirchen im 19. Jahrhundert beschrieben. Es ist die Hoch-Zeit der industriellen Revolution in Deutschland, die gleichermaßen Fortschritt und soziales Elend mit sich bringt. Vor allem Kranke und Behinderte werden zunehmend an den Rand der Gesellschaft gedrängt – Menschen wie der 14-jährige Adolf Strate. Er stammt aus Dortmund und leidet schon früh unter epileptischen Anfällen. Als seine Mutter stirbt, wird er als Betteljunge auf die Straße geschickt. Seinen Namen kennt man, weil er der "Erstling" war in der "Kolonie für Epileptische bei Bielefeld". Ina Herbell, Mitarbeiterin im Projekt "150 Jahre Bethel":
    "Der Vorläufer der heutigen Diakonie in Westfalen und im Rheinland, die haben den Entschluss gefasst, 1865, eine Heil- und Pflegeanstalt für Kinder eigentlich aufzubauen, und da hat man den Bauerhof gefunden und hat dann eben die Anstalt gegründet."
    "Beth-El", hebräisch "Haus Gottes"
    Am 14. Oktober 1867 ziehen Adolf Strate und zwei weitere "Pfleglinge" ein. Der Hof mit Platz für 20 Menschen reicht aber bald nicht mehr, und so wird 1871 ein größerer Neubau errichtet. Der bekommt den Namen "Beth-El", hebräisch "Haus Gottes". 1872 übernimmt Friedrich von Bodelschwingh die Leitung und ist so prägend für die ganze Einrichtung, dass sie schließlich seinen Namen erhält.
    "Jeder wird gebraucht, keiner ist ohne Gaben."
    Das ist einer seiner Grundsätze, die bis heute gelten. Er lässt Arbeitsstätten errichten, vor allem zur Versorgung von Bethel selbst, aber auch zur Finanzierung: eine Ziegelei und Handwerksbetriebe wie Bäckerei oder Wäscherei. Außerdem wird Landwirtschaft und Gartenbau betrieben. Denn, so Bodelschwingh:
    "Es kommt hinzu, dass für viele die Beschäftigungslosigkeit das Gemüt aufs äußerste gedrückt hat".
    In den Pflegehäusern leben alle, Jugendliche und Erwachsene, streng nach Geschlecht getrennt. Es gibt große Schlafsäle und praktisch keine Privatsphäre. Diakonissen oder Diakone mit ihren Ehefrauen führen als "Hauseltern" ein strenges Regiment. Nächstenliebe und Züchtigung schließen sich nicht aus.
    In den 1880er Jahren kommen neben Epileptikern auch arbeits- und obdachlose Männer dorthin, psychisch Kranke, Suchtabhängige und männliche Jugendliche, die der Fürsorge bedürfen.
    Zwangssteriliserungen von Menschen in Bethel-Krankenhäusern
    "Familien und Armenverwaltungen suchten eben Unterbringungen, weil: es gab nichts. Und daraufhin hat man dieses Feld dann auch ausgeweitet."
    Um die Jahrhundertwende gibt es schon 70 Pflegehäuser; mehr als 3500 Menschen finden in Bethel einen "Schutz- und Schonraum". Doch das ändert sich in der Nazi-Zeit. Denn gerade in Anstalten lebende geistig und seelisch Kranke geraten ins Visier der nationalsozialistischen Rassenpolitik. Über Tausend Menschen werden auf Grundlage des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" von 1934 in Bethel-Krankenhäusern zwangssterilisiert.
    "Hier war Bethel kritiklos mitgegangen. Anders war es, als ab Frühjahr 1940 feststand, dass geistig behinderte und psychisch kranke Menschen in Tötungsanstalten gebracht und dort ermordet wurden."
    Heißt es in der Broschüre zur 150-jährigen Geschichte Bethels. Der neue Leiter, Friedrich von Bodelschwingh der Jüngere, war kein Widerstandskämpfer – wie nach 1945 oft behauptet wurde. Aber immerhin ist es ihm gelungen, den systematischen Abtransport von Menschen aus Bethel zu verhindern.
    Über 200 Standorte in Deutschland
    Nach 1945 werden die "von Bodelschwinghschen Anstalten", später "Stiftungen", schnell wieder zu einem Zentrum christlicher Sozialarbeit. Und Ende der 1960er Jahre halten dann auch moderne Pflegegrundsätze Einzug in "Bethel". Heute steht es für gelebte Inklusion, erzählt Nicole Zielke, die im Theaterprojekt Bethel in Bielefeld arbeitet:
    "Keine Struktur mehr, wo man an einem Ort zusammenlebt, sondern dass es sich in so ein Stadtbild mit eingliedert. Und dann gibt es natürlich auch noch die Wohngruppen, aber die sind letztendlich nicht mehr so wie damals, dieses Hauselternmodell, sondern dass man seine eigenen Ziele, seine eigenen Bedürfnisse verfolgen kann."
    "Bethel" ist inzwischen eines der größten diakonischen Unternehmen Europas, mit über 200 Standorten in Deutschland. Die Betreuung und Behandlung von Epilepsiekranken stellt immer noch einen Schwerpunkt dar, aber der Name steht auch für Behinderten- und Sozialarbeit, inklusive Bildung sowie Altenpflege- und Hospizeinrichtungen.