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Vor 50 Jahren uraufgeführt
Luis Buñuels Filmdrama "Der diskrete Charme der Bourgeoisie"

Als Provokateur und Tabubrecher suchte Luis Buñuel in seinen Filmen immer wieder den Konflikt. In seinen Spätwerken machte er sich häufig über die Rituale und Konventionen der Reichen und Mächtigen lustig - so auch in seiner Gesellschaftssatire „Der diskrete Charme der Bourgeoisie".

Von Hartmut Goege | 15.09.2022
Filmausschnitt aus "Der diskrete Charme der Bourgeoisie" - sechs Personen sitzen am gedeckten Tisch
In dem Film "Der diskrete Charme der Bourgeoisie" plant eine Gruppe von sechs Menschen ein stilvolles Essen (picture alliance / United Archives)
"Welche Überraschung! Ich habe Sie heute Abend gar nicht erwartet. Wir waren doch erst morgen Abend verabredet." - „Aber Henri hat uns doch für heute zum Abendessen gebeten.“ - „Nein, nein, das muss ein Missverständnis sein. Heute Abend ist Henri nämlich gar nicht da. Er hat eine geschäftliche Verabredung.“
Es wird nicht bei diesem einen Missverständnis bleiben, das ein stilvolles Luxusmahl in geselliger Runde verhindern soll. Hundert Minuten lang hat Regisseur Luis Buñuel genüsslich Widrigkeiten entworfen, die den sechs Mitgliedern eines elitären Freundeskreises regelmäßig die heiß ersehnten Gaumenfreuden verwehren. Mal sind die Gastgeber plötzlich verschwunden, mal ist just der Inhaber eines Gourmet-Tempels gestorben: 

„Warum ist die Aufbahrung denn hier?“ -„Das Beerdigungsinstitut wollte ihn abholen, Madame. Wir warten noch auf die Leute. Ich darf Ihnen versichern, dass Sie trotzdem bei uns ausgezeichnet essen.“ - „Aber ich könnte keinen Bissen runterbringen.“

Gesellschaftssatire wird größter Kassenerfolg

Als Luis Buñuels Film „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ am 15. September 1972 in Paris uraufgeführt wurde, sollte diese surreale Gesellschaftssatire ein später Triumph des 73-Jährigen und nach über 30 Filmen sein größter Kassenerfolg werden. Buñuel hatte für dieses Projekt nach einem Motiv für eine sich ständig wiederholende Handlung gesucht. In seinen Erinnerungen hielt der Filmemacher fest:
„In meinem Leben wie in meinen Filmen habe ich mich immer von Dingen angezogen gefühlt, die sich wiederholen. Ich weiß nicht, warum das so ist, ich versuche es auch gar nicht erst zu erklären.“
So findet in früheren Filmen etwa das andauernde sexuelle Verlangen eines alten Mannes nie seine Erfüllung, oder ein Paar versucht vergeblich, endlich zusammenzukommen. Für „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ lieferte Buñuels Produzent Serge Silberman die banale Grundidee. Silberman hatte Freunde zum Essen eingeladen, ohne seine Frau darüber zu informieren.
„Man brauchte das nur weiterzuentwickeln, ohne der Wahrscheinlichkeit allzu viel Gewalt anzutun. Es ging darum, das richtige Gleichgewicht zu finden zwischen der Realität der Situation und der Häufung von unerwarteten Widerständen, (…).“

Kombination von Farce und Tragödie

Doch die Handlung, die eigentlich keine ist, steigert sich langsam zu einer absurden Situation: Sechs Personen tun nichts anderes, als sich pausenlos mit den immer gleichen netten Komplimenten gegenseitig einzuladen und tauschen sich dabei vornehm über exquisite Kaviar-Sorten aus oder dozieren über das Zerlegen einer Lammkeule.
Immer wieder überrascht Buñuel mit grotesken Wendungen. „Hatten Sie eine glückliche Kindheit?“ fragt etwa ein junger Soldat in einem Kaffeehaus die Runde an seinem Nachbartisch. Um dann in Rückblenden von der Erscheinung seiner toten Mutter zu erzählen, die ihn aufgefordert habe, den Vater zu vergiften, der ihren Liebhaber auf dem Gewissen habe. „Das ist dein wahrer Vater. Der andere hat ihn im Duell getötet vor vielen Jahren. Wir haben uns sehr geliebt.“
Mit für ihn typischen Kombinationen von Farce und Tragödie reiht Buñuel Episode an Episode, um allmählich mit surrealistischen Erzählelementen Traum und Wirklichkeit zu verwischen: „Was hast Du, Henri?“ - „Ach, nichts Schlimmes, ein alberner Traum. Wir aßen alle beim Colonel, und plötzlich waren wir alle auf der Bühne.“ 

Buñuel entlarvt sinnlose Rituale der Bourgeoisie

Während Alpträume und makabre Visionen sich häufen, tritt Buñuels beißender Spott deutlich hervor: Er entlarvt die zur Schau getragene Eleganz der Bourgeoisie, ihre sinnlosen Rituale und macht auch vor der katholischen Kirche nicht halt. In der an kuriosen Anekdoten und Wendungen reichhaltig gespickten Filmgroteske wird das Sextett des Freundeskreises gelegentlich um einen Bischof erweitert, der sich völlig überraschend einem der Ehepaare als Gärtner anbietet.

„Sie brauchen doch einen Gärtner, nicht wahr?“ - „Aber Monsignore!“ - „Nun, ist denn das so ungewöhnlich, Madame? Wissen Sie, bei der Kirche hat sich auch manches geändert. Sie haben doch sicher schon von Arbeiterpriestern gehört? Jetzt gibt es ebenfalls Arbeiter-Bischöfe.“
Am Ende läuft die Gruppe ziellos über eine einsame Landstraße. Buñuel, dem Erfolg und Zuspruch zuweilen suspekt waren, liebte es zu provozieren. Nach dem international beachteten Start seines Films von mexikanischen Journalisten auf seine Oscar-Chancen angesprochen, bemerkte er im Scherz, dafür habe er schließlich 25.000 Dollar Bestechungsgeld bezahlt. Die Empörungswellen schlugen hoch bis nach Hollywood. Buñuels Produzent Silberman hatte alle Hände voll zu tun, das Missverständnis auszuräumen. Den Oscar für den besten ausländischen Film gewann er dann tatsächlich. Buñuel kommentierte trocken, man könne über die Amerikaner sagen, was man wolle, aber ihr Wort würden sie halten.