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Vor 60 Jahren in Rom
Barfuß zum ersten Olympiagold für Afrika

Ihn hatte niemand auf dem Zettel. Völlig überraschend lief der Äthiopier Abebe Bikila bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom barfuß den Marathon in Rekordzeit - und holte so inmitten der Phase Dekolonisierung die erste Goldmedaille für den afrikanischen Kontinent.

Von Eduard Hoffmann | 10.09.2020
    Gemeinsam mit dem späteren Zweitplatzierten Rhadi Ben Abdesselam (Marokko) passiert der 28-jährige Leibgardist von Kaiser Haile Selassie, Abebe Bikila, beim olympischen Marathonlauf in Rom die Porta San Sebastiano.
    Abebe Bikila beim Marathonlauf 1960 vor der Porta San Sebastiano (picture-alliance / dpa / Pool)
    "Genau um 17.30 Uhr wurde der Lauf gestartet, 69 Konkurrenten aus 34 Ländern sind auf die wahrhaft klassische Strecke gegangen, denn man kann sagen, noch niemals fand der Marathonlauf in der olympischen Geschichte seit 1896 in Athen so eine historische Kulisse wie diesmal nun in Rom bei den 17. Olympischen Sommerspiele"
    Auf der 42,195 Kilometer langen Strecke präsentierte die italienische Metropole zum Ende der Spiele am 10. September 1960 nochmals ihre antiken Schätze. Vom Start im Zentrum Roms unter der Reiterstatue Marc Aurels auf dem Kapitolsplatz, führte der Weg etwa am Colosseum und an den Caracalla-Thermen vorbei. Erstmals lagen Start und Ziel außerhalb des Olympia-Stadions. Neu war auch, dass die Athleten in die Dunkelheit hineinlaufen mussten. Über die Via Appia Antica ging es zum Ziel am Konstantinsbogen, als der TV-Kommentator die ersten Läufer ins Ziel kommen sah: "Die Nummer 11 soll vorne sein, das ist der Äthiopier Abebe, ein malerischer Aufzug nun, begleitet von einem Scheinwerferwagen, der erste Mann beim Percorso Maratona, beim Marathonlauf in Rom an der Spitze."
    Leibwächter von Kaiser Haile Selassie
    Eine faustdicke Überraschung. Dem Äthiopier Abebe Bikila hatte kaum jemand eine Medaille zugetraut. Dabei war der Leibgardist Kaiser Haile Selassies noch kurz vor den Spielen in seiner Heimat eine absolute Spitzenzeit gelaufen. Die nahm jedoch außerhalb Äthiopiens niemand ernst. Etwa bei Kilometer 20 war der drahtige, 1,76 Meter große Schwarzafrikaner mit dem Marokkaner Radhi Abdesselam aus der Spitzengruppe davongezogen. 500 Meter vor dem Ziel forcierte Abebe Bikila dann mit scheinbarer Leichtigkeit das Tempo und ließ Radhi chancenlos zurück. Die Zielgerade war mit Fackeln ausgeleuchtet, und die Zuschauer jubelten dem 28-Jährigen zu, und im TV-O-Ton war die Spannung zu greifen: "Noch ungefähr 30 Meter, 40 Meter bis zum Ziel, es ist die Startnummer 11, der Äthiopier Abebe, Abebe Äthiopien. Und da kommt er ganz allein, ein braungebrannter Körper, ein grünes Trikot, schwarze Haare, ein kleines Bärtchen, eine rote Hose, da ist er im Ziel. Dürr und schlank, fast spindeldürr, ausgezehrt sein Körper von der Sonne Afrikas, er wiegt nur 106 Pfund, und dieser Mann gewinnt Gold für Äthiopien."
    Barfuß schneller
    In der Weltrekordzeit von 2 Stunden, 15 Minuten und 16,2 Sekunden. Eine Sensation, zumal Bikila vom Start an barfuß lief. Das war Abebe von Kindesbeinen an als Viehhirte im abessinischen Hochland gewohnt. In Sportschuhen bekam er Blasen, und sein schwedischer Trainer Onni Niskanen, der seit 1946 sportliche Entwicklungshilfe in Äthiopien leistete, hatte bei Tests herausgefunden, dass der Elitesoldat barfuß schneller war. In Roms Zeitungen war zu lesen: "Um Äthiopien zu erobern, brauchte Mussolini Bataillone, ein einziger Soldat Haile Selassies erstürmte Rom."
    Eine Anspielung auf die grausame Besetzung Äthiopiens durch italienische Truppen in den 30er-Jahren, bei der sie auch Giftgas einsetzten.
    Abebe Bikila, 1932 geboren und in ärmlichen dörflichen Verhältnissen aufgewachsen, wurde zum Volkshelden. Es war die erste Goldmedaille für das ostafrikanische Land und der erste Olympiasieg für den afrikanischen Kontinent überhaupt. Ein bedeutendes Signal für einen auch sportlichen Aufbruch der nach Unabhängigkeit strebenden Staaten Afrikas. Insbesondere aber ein Ansporn für die Läufer Ostafrikas, die bis heute die Langstrecken dominieren."
    Zweimal olympisches Marathon-Gold
    1964, bei den Olympischen Spielen in Tokio, gewann Bikila erneut Marathon-Gold. Dieses Mal in Schuhen und wiederum in Weltbestzeit, laufend "wie Junger", heißt es im Fernseh-O-Ton, erreichte er das Zielband, "reißt die Hände hoch, und dann geht er von der Bahn, als wenn nichts gewesen wäre, als wenn er gerade einen Spaziergang hinter sich gebracht hätte".
    Bis heute ist Abebe Bikila mit DDR-Läufer Waldemar Cierpinski, der allerdings im Verdacht des Staatsdopings steht, der einzige Athlet, der den olympischen Marathonlauf zweimal hintereinander gewinnen konnte. Nach einem schweren Verkehrsunfall 1969 blieb Abebe Bikila querschnittsgelähmt. Vier Jahre später starb er an einer Hirnblutung als Spätfolge des Unfalls.