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Vor EU-Gipfel
Ungarns Spagat zwischen Russland und der EU

Bislang hat Ungarn die Sanktionsschritte der EU gegen Russland mitgetragen. Doch das Land ist nicht nur abhängig von russischen Gaslieferungen, sondern ist auch in Sachen Atomkraft einen Deal mit Russland eingegangen.

Von Stephan Ozsvath |
    Tiszabecs ist nur ein kleines Städtchen. 1100 Einwohner hat es. Aber der kleine Ort im Osten Ungarns ist auch Grenzübergang zur Ukraine. Anfang März waren plötzlich einige Hundert Ungarn da - von jenseits der Grenze. Mehr als sonst. Sándor Szabó zeigt die Ankommenden auf seinem Handy.
    "Man sieht auf den Aufnahmen, dass sehr viele junge Leute die Grenze überquert haben. Sie haben Angst vor einer Mobilmachung gehabt. An diesem Wochenende kamen so viele Leute aus der Ukraine wie noch nie. Wir dachten, sie haben Angst."
    Die jungen Männer aus der Ukraine hatten Gerüchte gehört von einer Generalmobilmachung. Auch ein restriktives Sprachengesetz der Regierung in Kiew sorgte für Unruhe. Ministerpräsident Orbán kam per Hubschrauber, um an der Grenze nach dem Rechten zu sehen. Zoltán Balog ist als Superminister in Budapest auch für Minderheiten zuständig. Er sagt im Interview mit dem ARD-Studio Südosteuropa:
    "Das ist eine Herausforderung, die nicht nur Ungarn betrifft, sondern die ganze Europäische Union, ganz Europa. Aber wir sind Nachbarn. Auch die Slowaken und die Polen sind Nachbarn. Wir haben eine besondere Verantwortung und auch eine besonder Gefährdung."
    103 Kilometer lang ist die Grenze zwischen Ungarn und der Ukraine. Aber nicht nur das: Jenseits der Grenze, in der Ukraine, leben auch 150.000 ethnische Ungarn - eine Folge des Friedensvertrages von Trianon nach dem Ersten Weltkrieg, durch den Ungarn zwei Drittel seines Territoriums an die Anrainerstaaten verlor. Die nationalkonservative ungarische Regierung umwirbt diese Minderheiten jenseits der Grenze: mit Doppelpass und Wahlrecht. Und sie fühlt sich verantwortlich für das Wohlergehen der Minderheit jenseits der Grenze. Zoltán Balog:
    "Rechte von Minderheiten - das ist keine nationale innere Angelegenheit, sondern es ist eine europäische, eine internationale Angelegenheit. Insofern haben wir da nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, da vorzugehen in der Hilfe der europäischen Institutionen."
    Bislang hat Ungarn die Sanktionsschritte der EU gegen Russland mitgetragen. Außenminister János Mártonyi verurteilte die russische Krim-Politik als Verstoß gegen das Völkerrecht. Allerdings machte er bei einem Treffen der vier Staaten der Visegrad-Gruppe - also Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn - in Budapest am Wochenende deutlich.
    "Wir Visegrader sind in verschiedener Hinsicht in ähnlicher Situation. Uns würden Sanktionen oder ein Wirtschaftskrieg am schlimmsten betreffen. Wir sind da sehr ausgesetzt. Und wenn es zu jener dritten Stufe von Sanktionen kommt, hoffen wir auf die Solidarität aller EU-Mitgliedstaaten. "
    Ungarn ist abhängig von russischen Energielieferungen, Moskau liefert 65 Prozent des ungarischen Gas-Bedarfs. Hinzu kommt: Auch in Sachen Atomkraft machte sich Ungarn weiter abhängig von Moskau. Der nationalkonservative Ministerpräsident Orbán schloss jüngst hinter verschlossenen Türen einen Milliarden-Deal mit den Russen ab, um das einzige ungarische Kernkraftwerk Paks zu modernisieren. Ungarn bekommt einen zweistelligen Milliarden-Kredit. Russland hat künftig in Paks den Fuß in der Tür. Das ist Teil der ungarischen Schaukelpolitik zwischen Moskau und Brüssel: Hinwendung nach Osten, um Brüssels Kritik an der ungarischen Regierungspolitik die Spitze zu nehmen. Oder vulgo: finanziell - zumindest von Brüssel - weniger erpressbar zu sein.