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Vorteile und Probleme der EU
Das Ende Europas?

Die Frage des Titels ist Rhetorik - der Schriftsteller Thomas Lehr hält ein flammendes Plädoyer für den Erhalt von Europa als EU. Als Realist beschreibt er in seinem Essay den Geist Europas als ein ziemlich ramponiertes, überaus erwachsenes Mädchen im blauen Sternenkostüm, das sich hart auf dem Subkontinent der Vernunft durchschlagen musste.

Von Thomas Lehr | 14.04.2017
    Menschen demonstrieren in Berlin für Europa
    Menschen demonstrieren in Berlin für Europa (imago / Christian Mang)
    In 16 kurzen Kapiteln untersucht Thomas Lehr die verloren gegangene Vision eines Europas, die nachweislichen Vorteile und unübersehbaren Problemzonen der EU, und er schlägt den Bogen zum Grand Design des dauerhaften Verbundes, der über viele Jahrzehnte europäisches gelebtes Leben ist. Kassandrarufe haben hier keinen Widerhall, dennoch ist ein anderer Anspruch Europas an sich selbst vorstellbar.
    Thomas Lehr, geboren 1957 in Speyer, lebt seit 1979 in Berlin. Er studierte Biochemie/Naturwissenschaften an der FU Berlin. Seit 1999 ist er freier Schriftsteller und erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Zuletzt veröffentlichte er den Roman "September", "Fata Morgana" (2010) und den Aphorismenband "Größenwahn passt in die kleinste Hütte" (2012). Im August 2017 erscheint der neue Roman "Schlafende Sonne" im Hanser Verlag.

    Primavera/Der Frühling
    Am vermeintlichen Ende möchte man noch einmal den Geist Europas als schöne, gebildete, unschuldige Königstocher im Botticelli-Stil heraufbeschwören, selbstvergessen an der Küste des heimatlichen Phöniziens wandelnd. Doch die Zeit der naiven Fresken scheint endgültig vorbei. Wenn man freundlich sein will, erblickt man anstelle der blühenden Jungfrau ein ziemlich ramponiertes, überaus erwachsenes Mädchen im blauen Sternenkostüm, das sich nach der Rauschzeit der Entführung und Verführung hart auf dem Subkontinent der Vernunft durchschlagen musste. Nach jahrzehntelangen Agrarstreits, nach endlosen Expeditionen im Paragrafendschungel, nach wüsten Nächten in den Bars mit Brüsseler Bürokraten, deutschen Zahlmeistern, Londoner Brexitern und ungarischen Stacheldrahttaktikern, hat es das Feiern schließlich aufgegeben, Ende der Vision. Die zertanzten Schuhe in der Hand, geht Europa wieder zur Küste und wartet auf ein Schiff, das sie zurückbringt nach Phönizien, jenem schmalen, krisenbeladenen Landstrich, den sich der Libanon, Syrien und Israel teilen.
    Minotaurus/Der Stier
    Das wäre ein Europa, das resigniert hätte, um sich gewissermaßen selbst auszuweisen, wenigstens seinen guten Geist. Im Rücken des emigrierten Mädchens würde der Grenzzaun um die kontinentale Festung aufgelassen und durch Dutzende von nationalen Grenzmauern ersetzt, die den neuen Abwehrsperren gleichen, wie sie sich um das Theresa-May-England, das Putin-Russland und das Trump-Amerika schließen. Der Stier, die dunkle schnaubende Muskelmasse des neuen Weltungeists, der Europa in den vergangenen Monaten immer entschlossener aus Europa fortzutragen oder schlicht niederzutrampeln drohte, wäre ein Konglomerat aus Nationalismus, Populismus und Protektionismus und jener Fremdenfeindlichkeit, die Frankreich den Front National, Deutschland die AfD, England die Ukip, den Niederlanden die PVV, den Dänen die Dänische Volkspartei DF beschert hat. Fast scheint es, als würde ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der bipolaren Welt des Kalten Krieges eine neue weltweite Spaltung eintreten, die den alten Konflikt zwischen demokratisch-kapitalistischen und staatssozialistischen Systemen ablöste durch den Antagonismus zwischen demokratischen Systemen mit noch funktionierender parlamentarischer Demokratie und autoritär‑populistischen Präsidialsystemen, die sich wahrscheinlich bald nicht mehr die Mühe machten, überhaupt noch als Demokratie zu firmieren. Und plötzlich sind wir froh, wenn ganz Österreich mit einem "großen" Vorsprung von knapp vier Prozent einen rechtspopulistischen Präsidenten verhindern kann.
    EU-Bashing
    Das letzte Mal, das die allseits beschworene Vision Europa noch zu wirken schien, war die bereits vergessene Bewältigung der internationalen Finanzkrise und die Abwendung des griechischen Staatsbankrotts. Offenkundig gehören solche Dinge zu den unerotischen Vorgängen, die wie das Ende der längst vergessenen brutalen Wirtschaftskämpfe in der Stahlindustrie, der sinnlosen Grenzgebietskonflikte oder wie die Etablierung der europäischen Friedensordnung keinen Eindruck auf große Teile des Wahlvolks schinden konnten. Offenbar reist auch keiner aus der nationalistisch-populistischen Fraktion, dem die Vorteile einer gemeinsamen europäischen Währung ins Auge hätten stechen können. Die Infrastrukturmaßnahmen der EU zur Verbesserung der Verkehrsbedingungen, der Erhaltung und Qualifizierung landwirtschaftlicher Betriebe oder zur Durchführung lokal kaum finanzierbarer Umweltprojekte, verschwinden stets hinter den historisch längst verschimmelten Butterbergen. Nichts ist in Europa wohlfeiler zu haben als das EU-Bashing. Die Bürokraten in Brüssel sitzen in Kafkas Schloss und verkürzen seit Jahren mit undurchdringlichen Erlassen jeden Sommertag. Vielleicht liegt darin die Ursache der tiefen Frustration der Pro-Europäer: dass man mit rationalen Argumenten und ökonomischer Vernunft immer weiter zurückfällt hinter die Wuttiraden und schillernden medialen Inszenierungen von Vorurteilen.
    Fehlendes Forum
    Deshalb wäre erneut und dringlich darüber nachzudenken, wie man über einzelne Unternehmungen wie den Fernsehsender Arte oder das gescheiterte Zeitungsprojekt "The European" hinaus ein dauerhaftes gesamteuropäisches publizistisches Forum schaffen könnte, das EU‑Projekte bekannt macht und zur Diskussion stellt. Wenn die Eurovision des ökonomischen, militärstrategischen und kulturellen Nutzens seltsam krampfhaft und blass wirkt, dann sollte man doch einmal tiefer hinabsteigen in die Substanz und sich fragen, was wir eigentlich meinen, wenn wir Europa sagen, es zu rühmen versuchen oder seinen Untergang befürchten. Anscheinend meinen wir nicht alles, was zur Geschichte unseres Subkontinents gehört. Weder möchten wir von der Christenverfolgung sprechen noch von den Kreuzzügen, weder von der Inquisition noch von der vernichtenden Eroberung Lateinamerikas. Wir meinen nicht die Bartholomäusnacht oder die chronisch ausbrechenden Judenpogrome, nicht den 30-jährigen Krieg, die imperialistischen Gräuel, die Weltkriege und den Holocaust. Aber aus diesen historischen Erfahrungen und im Widerspruch zu den Verheerungen und Katastrophen ist etwas hervorgegangen, das uns doch verteidigungswert erscheint. Unser positiver Europabegriff ist eine sehr kräftige Idealisierung von Tendenzen, Episoden und Epochen in einem Kulturraum, von dem man wohl sagen kann, dass er in den vergangenen 2.000 Jahren das Raumschiff Erde am stärksten materiell und geistig geprägt und versehrt hat.
    Das tiefere Bild
    Versuchen wir, das ideale Europa, das wir gerne meinen, in einzelne Begriffe zu fassen. Den meisten werden die griechische Antike und die Demokratie einfallen, sie werden an die individuelle Freiheit denken, an die Menschenwürde und die Menschenrechte. Die Rechtsordnung der Gesellschaft überhaupt kommt hinzu, ein Erbe des Imperium Romanum, aber auch die sozialstaatlichen Ideen von bürgerlicher Sicherheit und materiellem Wohlstand für alle Gemeinschaftsmitglieder, die sich stärker der christlichen Tradition verdanken. Die monotheistische christliche Religion und die parallel und im Widerspruch dazu fortentwickelte abendländische Philosophie bilden eine geistige Wirbelsäule in Form einer Doppelhelix. Mit der Forcierung von Naturwissenschaft und Technik hat Europa die Grundlage der modernen Welt geschaffen und über die sich neu gestaltende Gesellschaft im Humanismus und in der Aufklärung nachgedacht bis zur Formulierung der Freiheits-, Gleichheits- und Brüderlichkeitsideale der Französischen Revolution. Vom europäischen Bürgertum wurden individuelle Kunst, individuelle Kultur und Lebensweise eingeführt und etabliert. Europa hat den Kapitalismus erfunden und seine kommunistische Nemesis, die einmal die Welt spalteten, aber auch den Liberalismus und die Idee einer sowohl freien als auch geregelten, gesellschaftlich kontrollierten Ökonomie. Dass wir heute recht viel meinen, wenn wir nur Demokratie sagen, dass wir nicht nur von allgemeinen, gleichen und freien Wahlen sprechen, sondern auch von der Gewaltenteilung in einer rechtsstaatlich organisierten, sozialstaatlich engagierten, vom Souverän des Volkes her legitimierten Gesellschaft, verdankt sich vor allem den europäischen Auseinandersetzungen und konstitutionellen Festlegungen der vergangen fünf Jahrhunderte. Nach wie vor prägen Kunst und Kultur, die in Europa entstanden sind, die Welt.
    Globalisierung der Globalisierten
    Dass etwas in Europa entstanden ist, bedeutet nun aber nicht, es sei auch dort geblieben oder dort am besten verwahrt worden. Nordamerika, als einstiger Traum europäischer Flüchtlinge und Auswanderer, ist schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts die militärisch und wirtschaftlich stärkste Macht und übte spätestens seit 1945 den stärksten kulturellen Einfluss aus. Nach wie vor sind die USA die erfolgreichste Demokratie, auch wenn sie sich nun jeden Tag von einem chauvinistischen Präsidenten beleidigen lässt und bei einer ihrer schwierigsten Bewährungsproben angelangt scheint. Das Englisch, Spanisch und Portugiesisch sprechende Lateinamerika verfolgt seit Jahrzehnten seine eigene Entwicklung, für die es Europa nicht braucht. Die größte Demokratie der Welt ist Indien, und weitere Demokratien gibt es in Israel, Japan, Südkorea und auch in Afrika.
    Die stärksten Werte, Ideen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Innovationen, die Europa entwickelt hat, sind weit über den Globus verbreitet und tief in das internationale gesellschaftliche Genom eingeschrieben. Selbst das komplette Auseinanderbrechen der EU würde das europäische Projekt nicht beenden. Es hat sich an die Menschheit vererbt so wie es selbst der Erbe der in ihm aufgegangenen antiken Welt und der altorientalischen Kulturen gewesen ist.
    Das Grand Design
    Indes ist der totale politische Zerfall kaum zu befürchten. Es war schließlich die außerordentliche Anziehungskraft, die wirtschaftliche, kulturelle und sozialpolitische Attraktivität der EU, die zu einer Großgemeinschaft von 28 Staaten führte, und es ist nicht anzunehmen, dass der Brexit eine rasche Kettenreaktion von Austritten verursacht, selbst wenn dieser Teufel gern an die Wand gemalt wird. Wenn die in der EU verbleibenden Staaten weiterhin ihre vier- und vierteljährlichen Krisen meistern, dann kann es durchaus zur Rückkehr von ehemaligen Gemeinschaftsmitgliedern kommen, etwa zum BRIT-IN oder BRITURN im Jahre 2023. Auch wenn es unpopulär klingt: Politik bleibt das Bohren harter Bretter, und bei aller Euroskepsis sollte man den eigentlichen Masterplan, das humane europäische Grand Design, nicht vergessen. Der wichtigste Grund für das politische Zusammengehen der europäischen Nationen, das bislang in der EU und in der Euro-Zone gipfelte, war ein politischer Grund. Nach zwei Weltkriegen mit fast 70 Millionen Todesopfern ging es um nichts mehr als um die Errichtung eines dauerhaften Friedenszustandes in Europa, indem man die nationalstaatlichen Konflikte durch einen dauerhaften Verbund der europäischen Völker beseitigte. Dieses Grand Design ist seit über 60 Jahren Realität. Das ist für Zeitgenossen beeindruckend - aber für den historischen Weitblick keineswegs zureichend angesichts der vorausgegangenen 2.000 Jahre, in denen ein Krieg in Europa den anderen ablöste. Die unabdingbare Voraussetzung für die haltbare Völkerfreundschaft, jenseits des Euro und des gemeinsamen Marktes, sind friedfertige, nicht-nationalistische Einzeldemokratien. Mit ihrem immer noch schwachen Parlament, der Dominanz des Europäischen Rats und der Kommission, ist die EU noch lange kein demokratischer Bundesstaat, sondern ein Staatenverbund mit semi-demokratischen inneren Strukturen, dessen demokratische Legitimität am stärksten auf der Legitimität der einzelnen, in den Nationalstaaten gewählten Regierungen beruht. Fatal wäre daher die zersetzende Aufweichung der demokratischen Standards und der humanen Politik, die aus der EU eine unkenntliche und unappetitliche Staatenmasse machen würde.
    Utopisches Europa?
    Solange die Abstriche, die man vom kaum erreichbaren und vielleicht auch nicht um jeden Preis wünschenswerten Ideal einer Gemeinschaft von 28 oder 27 Staaten mit gleicher Währung, gleicher Wirtschafts- und Sozialpolitik, gleicher Bildungs- und Migrationspolitk machen muss, nicht die demokratische Substanz der EU betreffen, wird die EU ein attraktiver Wirtschafts- und Gesellschaftsraum bleiben. Nach wie vor ist die EU der größte Binnenmarkt der Welt. Nach wie vor übertrifft ihr Bruttoinlandsprodukt das der USA. Nach wie vor besitzt die EU die beste Infrastruktur der modernen Industriestaaten. Dass Europa schon lange nicht mehr das große leuchtende Ziel darstellt, ein Menschheitsutopia, nach dem jeder sich sehnt, liegt auch mit an seinem weltweiten historischen Erfolg. Im Zeitalter der Globalisierung ist Europa nur noch Teil der Lösung, die bei aller kulturellen Differenz die sichere und würdige, den Menschenrechten gemäße Lebensform für jeden einzelnen ermöglichen sollte und bezüglich der internationalen Konfliktgestaltung immer noch hinstreben muss zur Utopie des Kantschen Ewigen Friedens.
    Vier Hauptprobleme
    Wenn man sich fragt, welches die großen inneren Probleme sind, die zum Auftrumpfen des Populismus geführt haben, dann sieht man unweigerlich vier Felder. Anfangen sollte man wohl mit dem hausgemachten Problem, das sich naturgemäß um die Kontrolle der Macht dreht. Nach wie vor ist der Rat der Regierungschefs der handelnde Souverän der EU, der in seinen Entscheidungen nicht substanziell vom EU-Parlament abhängt. In Krisenzeiten tritt das scharf hervor, ebenso wie durch die mittlerweile äußerst wichtige Rolle der Europäischen Zentralbank der Eindruck verstärkt wird, Chefs und Bosse würden hinter verschlossenen Türen die wichtigen Entscheidungen ohne wirkungsvolle Kontrolle treffen. Deshalb sollten die Prinzipien und längerfristigen Ziele der EU erneut und ständig in den öffentlichen Diskurs rücken, jenseits von Integrationsautomatismen und vermeinten schicksalsgemeinschaftlichen Alternativlosigkeiten. Aber auch wenn die Gemeinschaft sich vollkommen über ihr Ziel im Klaren wäre, stellten die drei anderen aktuellen Problemfelder große Herausforderungen dar. Das weiteste und schlimmste Feld ist die sozialökonomische und kulturelle Zerteilung der modernen Gesellschaften. Sie hat soweit geführt, dass man nicht mehr von der Zweidrittel-Gesellschaft, sondern mehr wohl schon von einer halbierten Gesellschaft sprechen könnte, ganz so, wie es das Brexit-Votum oder die amerikanischen und die österreichischen Präsidentenwahlen mit knappsten Ergebnissen an der Fünfzig‑Prozent‑Grenze der Wahlbeteiligten nahe legen. Eine chronische Schizophrenie, die ein populistisch angeführtes von einem noch von demokratischen Parteien geleitetes politisches Lager fortwährend an der Fünfzig-Prozent-Frontlinie einander gegenüberstellen würde, wäre denkbar gefährlich. Sie würde mit ihrer Aufkündigung des gesellschaftlichen Konsens die Demokratie bei jeder Wahl radikal in Frage stellen. Wenn auch aus ganz anderen historischen Gründen, so haben wir doch eben diese Situation von unversöhnlich gespaltenen Gesellschaften direkt vor Augen. Sie verursacht den permanenten inneren Unfrieden der arabischen Welt. Und es ist die politische Entwicklungskatastrophe der arabischen Länder, welche die beiden anderen akuten Problembereiche der westlich orientierten Demokratien mit hervorruft: den Immigrationsdruck und die Nemesis des islamistischen Terrorismus.
    Ungleichheit als Sprengkeil
    Hier wie dort sind die Lager allerdings alles andere als eindeutig. In zahlreichen westlichen Ländern tritt noch keinesfalls eine Spaltung zwischen populistisch Verführten und Anhängern tradierter Programmparteien an der Fünfzig-Prozent-Grenze auf. Gerade Deutschland darf einmal, begünstigt durch die gute ökonomische Situation, zu der die EU und der Euro vieles beigetragen haben, als Hort der politischen Vernunft gelten. Aber populistische Erfolge an der Zwanzig-Prozent-Grenze sind ein Grund für die Alarmstufe Rot. Das Augenmerk sollte sich auf die doppelte Grundlage der Verführbarkeit zu radikal-populistischen Phrasen richten. Das eine Moment der Vernebelung ist schlicht politisch-medial. Es beruht auf der Aufpeitschung von akuten Stimmungslagen durch die Manipulation von Öffentlichkeit, sei es durch Brandreden auf Marktplätzen oder Facebook‑Kampagnen. Hier kann die Antwort wieder nur kulturell und medial sein, indem man eben den Streit aufnimmt, kritische Zustände moniert und in den Medien dagegenhält. Die zweite Ursache der Manipulierbarkeit liegt tiefer. Sie verweist auf das geborstene oder doch vielmehr zu bersten drohende Fundament der solidarischen Gesellschaft, die drastische Ungleichheit, wie sie zum Beispiel Thomas Piketty empirisch fundiert angeprangert hat. Wenn man zurückdenkt an die prägenden Ideale des europäischen Wertekanons, dann stehen angesichts der sich zerklüftenden Gesellschaft nicht nur sozialstaatliche oder sozialdemokratische Vorstellungen in Frage, sondern auch die allgemeineren Vorläuferideale der Französischen Revolution von Brüderlichkeit und Gleichheit und letztlich auch die christlichen Gebote von Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Keiner wird die europäische Idee in Europa bewahren können, der nicht eine dauerhafte politische Lösung des sozialen Ausgleichs und der gesellschaftlichen Teilhabe findet.
    Die Schutzhülle
    Das Thema Immigration und Asyl, das gegenwärtig den Populisten einen starken Auftrieb verschafft, enthielte viel weniger Explosivstoff, wenn es einen ausgewiesenen, deutlich und dauerhaft verkündeten Konsens zur gesellschaftlichen Grundsicherung gäbe. Was spricht eigentlich dagegen, dass man es anstrebt, jedem Bürger unserer reichen demokratischen Gesellschaften das lang reklamierte Recht auf Arbeit, Wohnung, Gesundheitsfürsorge, genügend Altersversorgung und ausreichendes Grundeinkommen zuzusichern, wenigstens als konkrete Utopie - und zwar EU-weit? Würde man es politisch forcieren und deutlich verfolgen, so dass die Bürger den zuverlässigen Eindruck erhielten, man bemühte sich ernsthaft um die Erschaffung einer Art stabilen sozialen Schutzhülle, einer materiellen und sozialen Grundsphäre, auf die sie ein Anrecht hätten und die ihnen niemand nehmen könne, dann hätten es die Angstmacher jeglicher Couleur sehr schwer.
    Immigration und Asyl
    Zu dem quantitativen Problem der Einwanderung sollte doch eigentlich ein Konsens möglich sein: Immigration kann man beschränken - Asyl nicht. Jedes Land, das Einwanderer aufnimmt, hat das Recht, die Zahl der Einwanderer und die Voraussetzungen für die Aufnahme und das Dableiben zu definieren. Gerade deswegen wäre die klare Selbstbestimmung Deutschlands als Einwanderungsland vorteilhaft. Und selbstredend wird man in einer Demokratie über die Details und die Grenzen streiten dürfen. Asyl dagegen sollte jeder humane Staat grenzenlos gewähren. Es stellte einen temporären Schutz dar, einen elementaren Akt der Menschlichkeit, christlich, europäisch, universell. Es ist eine ganz andere Frage, wie das Asyl gestaltet wird und was man von den Flüchtenden erwarten kann. Selbstverständlich darf ein Asylbewerber nicht kriminell oder terroristisch werden, selbstverständlich muss er sich an die wichtigsten allgemeinen Regeln im Alltagsleben der Gastgesellschaften halten. Wenn man die Fakten sieht, dann weiß man, dass die meisten Menschen, die in den europäischen Ländern Asyl genießen, nicht kriminell werden und dass sich auch im Durchschnitt die Kriminalität von Menschen im Asylstatus nicht sonderlich vom Bevölkerungsmittel unterscheidet. Dennoch macht es keinen Sinn, die Augen vor akuten Brennpunkten zu verschließen. Wenn Dörfer in der Provinz mehr Asylbewerber verkraften sollen, als sie Einwohner haben oder wenn Stadtviertel Gettocharakter annehmen, dann helfen abstrakte Prinzipien nicht weiter, sondern nur eine offensive Politik. Man kann durchaus für eine tolerante Asylpolitik sein und zugleich wirksame Maßnahmen gegen den islamistischen Terrorismus befürworten.
    Der islamische Nachbar
    Dass man bei der Betrachtung der europäischen Angelegenheiten so viel über den Islam reden muss, hängt mit der jahrzehntelang währenden Krise der arabischen Welt zusammen und mit der unumstößlichen Tatsache, dass der Vordere Orient nun einmal die unmittelbare Nachbarschaft Europas darstellt. Wenn wir aber heute von einer krisengeschüttelten, von Bürgerkriegen und Nachbarkriegen versehrten nahöstlichen Region sprechen, die uns beunruhigt, mit Flüchtlingswellen konfrontiert und mit Terroranschlägen quält, so war Europa - und das insbesondere von Deutschland ausgehend - umgekehrt für viele Jahrzehnte eine notorisch zerstrittene, aggressive Region, die die ganze Welt mit Krieg überzog. Und auch nach 1945 haben Europa und die USA in der islamischen Welt große Verwerfungen ausgelöst, angefangen bei der Zusammenarbeit mit fragwürdigen Regimen wie dem des persischen Schahs oder dem Saudi‑Arabiens bis hin zu den verhängnisvollen Kriegen gegen den Irak und der unglücklichen Rolle in Syrien. Dagegen stand und steht der produktive Austausch auf den Gebieten von Literatur und Kunst, Architektur und Film, die Handelsbeziehungen, der Tourismus und der Wissenschafts- und Techniktransfer. Schon längst hat sich auf der materiellen Basis das Goethe‑Wort von der Untrennbarkeit des Orients vom Okzident verwirklicht. Die Krisen, in der sich die arabischen Staaten befinden, werden Europa immer weiter betreffen. Allein schon aus diesem Grund sollte Europa sich nicht bloß belästigt oder von Terroristen heimgesucht fühlen, sondern versuchen, den gesamten Nahen Osten als Entwicklungsregion und enge Nachbarschaft zu begreifen, die auf eine jahrhundertelange künftige Zusammenarbeit angelegt ist. Nur in der Zusammenarbeit mit den islamischen Ländern ist es möglich, den islamistischen Terrorismus zu besiegen, nur in Kooperation mit dem dialogbereiten, moderaten Islam. In einem erweiterten, menschheitsgeschichtlichen Sinn gehört der Islam ja tatsächlich zu Europa, denn gemeinsam mit dem Christentum und dem Judentum ruht er auf der zivilisatorischen Basis der altorientalischen Reiche. In der gemeinsamen Wurzel liegt die Zukunft eines weltoffenen Europas. Europa ist ohne die lebendige Nachbarschaft mit der Islamischen Welt nur als ewige Kreuzritterburg auf eigenem Boden denkbar. Weshalb gründen wir nicht eine Kette von Think Tanks entlang der Mittelmeerküste, um gemeinsam voranzukommen? Es gibt einen Defätismus in Europa, der aus Aufgaben Katastrophen macht. Ihn gilt es zu überwinden.
    Die russische Karte
    Zu den dauerhaft zu lösenden Aufgaben des europäischen Westens gehört die Pflege der Beziehungen zu Russland, die infolge des Ukraine-Konflikts und des Kriegs in Syrien schwer beschädigt wurden. Im Augenblick ist kaum vorstellbar, dass es bald wieder besser werden könnte. Jedoch könnten zwei Aspekte eine gewisse Hoffnung nähren. Zum einen ist Russland ein Teil Europas, wenigstens bis zum Moskauer Längengrad zutiefst mit der europäischen politischen und kulturellen Geschichte verflochten. Man kann sich nicht vorstellen, dass die Bürger Russlands diese Zugehörigkeit auf Dauer verleugnen oder verleugnet sehen möchten. Zum anderen steht die Großmachtpolitik des Wladimir Putin ökonomisch auf tönernen Füßen. Russland kann seine Rohstoffe nicht essen und mit Computerviren und Atombomben lässt sich nur sehr bedingt politischer Einfluss sichern. Pessimisten werden jetzt wahrscheinlich noch den Teufel eines neuen USA‑GUS-Blocks unter Trumputin an die Wand malen - aber bis die Wasser der Wolga in den Mississippi fließen, scheint es doch noch lange hin.
    Supermacht - so what?
    Entgegen der Wahrscheinlichkeit und entgegen aller Hoffnungen kann es dennoch sein, dass die EU scheitert - zumindest als supranationaler Bundesstaat, der ein Maximum an Stärke mit sich bringen könnte. Manchen frustriert die mangelnde militärische Potenz der EU ganz besonders. Aus historischen Gründen, bei Berücksichtigung der kulturellen und sprachlichen Unterschiede, kann man sich in der Tat kaum eine einheitliche und schlagkräftige EU-Armee in der nächsten Zukunft vorstellen, die der wirtschaftlichen Bedeutung der Gemeinschaft entspräche und es ihr erlaubte, neben den USA, Russland und China als führende Militärmacht aufzutreten. Die Frage ist allerdings, ob das eine solch bedeutende Rolle spielt und ob sich mit der EU als Militär-Supermacht die Dinge zum Besseren wenden würden. Wenn statt dessen die EU eine große Insel der weltoffenen erfolgreichen Demokratie darstellte, die zwar nicht den militärischen Global Player spielen, aber sich selbst verteidigen und ihre sozialstaatlichen und demokratischen Standards wahren kann, dann könnte man sich doch durchaus als Bürger darin wohl fühlen. Und sind wir denn tatsächlich so verzweifelt weit davon entfernt, wie manche Kommentatoren es glauben machen? Die ökonomische Krise in einigen EU-Staaten ist bedrohlich. Aber sie kann im Rahmen der Gemeinschaft besser gelöst werden als von einzelnen sich abschottenden Nationalstaaten - mag dies auch nur ein Glaube an die volkswirtschaftliche Vernunft sein. Die erreichten Fortschritte im Umgang der europäischen Länder untereinander können aber auch Kritiker kaum bezweifeln, wenn sie sich anschauen, mit welcher Angst, Hysterie, Desinformiertheit und Aggressivität sich die europäischen Nationen vor 100 Jahren, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, begegneten.
    Primavera II/Ein langer Sommer?
    Bei nüchterner und realistischer Betrachtung scheint mir die EU um einiges besser und stärker zu sein, als es viele Kassandrarufe befürchten lassen. Sie hat sich, ihre Vorläuferorganisationen mitgerechnet, über Jahrzehnte gehalten, sie hat etliche Krisen überstanden und bietet zu viele offensichtliche Vorteile, als dass sich in der nächsten Zeit der Großteil ihrer Mitglieder dem Beispiel der Briten anschließen wollten. 60 Jahre Frieden in Europa, 60 Jahre intensiver ökonomischer und kultureller Austausch haben eine bislang einzigartige breite Basis kultureller Nähe geschaffen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das niemand unterschätzen kann, der sich schon einmal in Dublin, Paris, Wien, Madrid, Kopenhagen oder Amsterdam als Europäer mit Europäern unterhalten hat. Europa als Vorbild für andere Weltregionen, als Vision oder als Utopie ist freilich am Ende und dahin, Europa kann und braucht auch nicht mehr zu führen. Ein sich neu erfindendes Europa mit weniger narzisstischer Prägung, mit stärkerer demokratischer und sozialstaatlicher Teilhabe und mehr Odysseusschem Mut könnte jedoch als überaus erfolgreiche ehemalige Migrantin wieder in Phönizien ankommen, mit offenen Händen und als Botschafterin einer auf friedliche Kooperation und fairen Ausgleich bedachten Politik. So würde eine Figur entstehen, die nach dem Frühlingsbild zu einem Sommergemälde inspirieren könnte.