Rund 85.000 Menchen, die eine rechtliche Betreuung haben,
können am 26. September erstmals den Bundestag mitwählen
. Das Bundesverfassungsgericht hatte Ende 2019 ihren Ausschluss vom Wahlrecht für verfassungswidrig erklärt. Die Präsidentin des Sozialverbands VdK ruft zwei Wochen vor der Wahl die Parteien dazu auf, diese Erstwählerinnen und -wähler auch gezielt anzusprechen.
Inzwischen hätten immer mehr Parteien eine Fassung ihres Wahlprogramms in Leichter Sprache. Im Hinblick auf einfaches, verständliches Formulieren in Interviews und auf direkte Gespräche zwischen Kandidatinnen und Kandidaten und Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen könne sich aber noch mehr tun. Zumal die Die Wahlprogramme in Leichter Sprache weggingen "wie warme Semmeln": Sie seien auch für viele Jugendlicheattraktiv, die zu lesen, weil sie verständlicher seien. Barrierefreiheit sei insofern eine Chance für die gesamte Gesellschaft.
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Frau Bentele, über wie viele Menschen reden wir hier? Menschen mit Behinderungen, die vorher nicht wählen durften, die jetzt zum ersten Mal wählen dürfen.
Verena Bentele: Wichtig dazuzusagen ist immer: Es geht hier um Menschen, die in allen Angelegenheiten eine rechtliche Betreuung haben, und das sind zirka 85.000 Personen.
Armbrüster: Auf diese Betreuer kommt jetzt eine große Aufgabe zu, wenn es auf einmal darum geht, Stimmzettel auszufüllen oder jemanden auf eine Wahl vorzubereiten.
Bentele: Erst mal kommt ja auf die Menschen selbst eine Aufgabe zu und natürlich auch auf deren Unterstützungspersonen, die Betreuungspersonen, Familie, wen sie für sich als Personen heranziehen wollen, um sich zu informieren. Was spannend ist: Damals haben Menschen geklagt gegen den Wahlrechtsausschuss. Familien von Menschen mit Behinderungen, Menschen mit Behinderungen haben Interessen, haben auch Zugänge zur Wahl, wenn sie zum Beispiel im Fernsehen die bekannten Trielle schauen, oder wenn sie Radio hören, wenn sie Zeitung lesen, und da gab und gibt es immer schon Menschen mit geistigen Behinderungen, die sich für politische Entscheidungen, für politische Personen interessieren. Aus diesem Zusammenhang haben vor einigen Jahren einige geklagt und vorm Bundesverfassungsgericht, wie Sie es in der Anmoderation angekündigt haben, Recht bekommen. Jetzt heißt es für die Menschen tatsächlich, das erste Mal ein Wahlrecht zu haben. Mich fragen dann immer ganz viele Menschen, wie ist das denn, wenn man eine kognitive Einschränkung hat. Ich würde sagen, es ist wie bei allen anderen Menschen auch. Man kann das Wahlrecht in Anspruch nehmen, muss aber nicht. So ist das ja mit einem Recht. Das spannende zweite ist natürlich, wie werden die Menschen informiert. Was haben die Parteien getan in den letzten Jahren, um Menschen, die auch andere Bedürfnisse haben, zu informieren.
Armbrüster: Das sind zwei interessante Fragen. Bleiben wir erst mal bei der ersten. Wie können wir uns das vorstellen? Sie haben das Beispiel eines Menschen mit einer kognitiven Behinderung genannt. Jemand, der möglicherweise nicht unbedingt sofort versteht, was eine Partei eigentlich ist und was sie macht und was sie haben will, wie kann man so einem Menschen erklären, was die Unterschiede zwischen den Parteien beispielsweise sind, oder auch ganz klar, ganz grundlegend, was eine Partei ist? Wie kann man einem Menschen so etwas erklären?
Bentele: Ich glaube, das ist am Ende ein bisschen individueller, als wir beide uns das vielleicht vorstellen können, weil jeder Mensch auch mit einer kognitiven Beeinträchtigung ja andere Voraussetzungen mitbringt, und da sind dann schon die Personen im Umfeld gefragt, hier die richtigen Beispiele zu finden, die richtigen Worte zu finden. Wenn ich das machen würde, würde ich es immer anhand von Beispielen und Vergleichen machen. Dann würde ich mir einzelne Themenbereiche, von denen ich weiß, die sind auch für jemandem, dem ich das gerade erkläre, interessant – wenn wir jetzt Lehrer fragen, wie erklären sie das im Unterricht, ist es ja genauso; da würde man vielleicht als erstes ein Beispiel nehmen aus dem Bereich Bildung. Bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen würde ich zum Beispiel aus deren Umfeld vom Klima, Wohnen, Selbstbestimmung, Teilhabe, Barrierefreiheit, aus diesen Themenbereichen, die die Menschen in ihrem täglichen Leben betreffen, würde ich Beispiele nehmen und es anhand derer erklären.
Bentele: Risiko der Beeinflussung überschätzt
Armbrüster: Wenn es jetzt tatsächlich auf die Betreuer oder auf Familienmitglieder so sehr ankommt, wie groß ist dann die Gefahr des Missbrauchs, dass da jemand ganz deutlich sagt, das und das musst Du wählen, mach da Dein Kreuz?
Bentele: Das Argument kam natürlich auch in der Zeit der Verhandlungen vorm Bundesverfassungsgericht und in den Vorinstanzen immer wieder, dass die Gefahr des Missbrauchs da ist, aber ich habe auch als damalige Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung immer entgegnet, dass natürlich in einem Land wie Deutschland, wo wir wirklich zum Glück freie Wahlen haben, wo wir ein Wahlrecht haben, das jeder ausüben kann mit Briefwahl oder in der Wahlkabine, alle einen Kontext haben, in dem wir sind. Bei Ihren Hörerinnen und Hörern würde ich gerne mal eine Umfrage machen, wie viele reden mit ihren Eltern, mit ihren Kindern, mit ihren Arbeitskolleginnen und Kollegen, mit allen Menschen im Umfeld, die dann alle irgendwelche guten Tipps haben und sagen, Du musst unbedingt Partei X oder Y oder Person X oder Y wählen. Solche Empfehlungen kriegen wir alle und wir alle haben dann die Möglichkeit zu sagen, nee, ist nicht meine Entscheidung, sondern ich treffe eine andere. Ich glaube, diese Missbrauchsgeschichte, dass hier wirklich die Wahlen manipuliert werden, das ist nicht das Hauptproblem. Das ist nicht das größte Thema, das wir hier haben, sondern ich finde wirklich mehr die andere Herangehensweise spannend, wie bemühen sich eigentlich die Kandidatinnen und Kandidaten und Parteien um die Menschen.
Armbrüster: Das wollte ich Sie gerade fragen. Sie haben das schon angedeutet. Was ist denn da Ihr Eindruck? Wie einfach machen die Parteien das den Menschen mit Behinderung, ihre Programme zu verstehen?
Bentele: Seit 2013 passiert da schon mehr. Da gab es meines Wissens damals das erste Wahlprogramm in Leichter Sprache und das ist schon eine wichtige Sache. Inzwischen haben viel mehr Parteien ihr Wahlprogramm in Leichter Sprache. Aber haben die Parteien auch andere Zugänge? Gehen sie zum Beispiel auch mal in Einrichtungen von Menschen mit Behinderungen? Bemühen sie sich, auch in Interviews mal etwas einfacher zu sprechen und nicht Sätze mit fünf Kommata zu formen? Räusper, räusper, mache ich auch gerade. Aber das ist genau der Punkt: Wie einfach sprechen wir? Wie verständlich ist das? Gibt es von Parteien, von Politikerinnen und Politikern auch mal Beispiele, die für Menschen verständlich sind? Gibt es auch einen zugehenden Wahlkampf, soweit es die Pandemie erlaubt, dass die Kandidatinnen und Kandidaten das Gespräch mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen suchen? Das ist das Spannende, wo ich glaube oder wo ich sehr überzeugt bin, da kann immer noch viel mehr passieren.
Was wir auch wissen: Die Wahlprogramme in Leichter Sprache gehen, wie ich sagen würde, weg wie warme Semmeln. Das war auch für viele Jugendliche in der Schule wahnsinnig spannend und attraktiv, die zu lesen, weil sie einfach verständlicher waren. Ich würde sagen, hier ist die Barrierefreiheit auch eine Chance für alle, wenn eine etwas einfachere Sprache benutzt wird, um wirklich klar zu sagen, wofür wer steht.
Vertrauensperson mit in die Wahlkabine nehmen
Armbrüster: Frau Bentele, noch eine ganz praktische Frage. Ein Mensch mit Behinderung, der nicht lesen kann, der aber genau weiß, welche Partei oder welche Parteien er oder sie wählen will, darf der jemanden mitnehmen in die Wahlkabine, um sich den Stimmzettel vorlesen zu lassen?
Bentele: Genau! Sowohl bei der Briefwahl gibt es neben dem Wahlschein noch ein Beiblatt. Der Wahlschein kommt in einen Umschlag. Dann gibt es eine Vollmachtserklärung, die eine Hilfsperson unterschreiben kann, und in der Wahlkabine geht es genauso. Ich hatte das auch schon. Für mich, wo ich nicht sehe, gibt es für die Bundestagswahl zum Beispiel eine Schablone, wo ich den Wahlschein reinlegen kann, und dann ist genau markiert, damit ich weiß, wo welche Partei ist und ich mich dann entscheiden kann, wo ich welches Kreuz mache. Wenn ich das aber nicht habe wie zum Beispiel für die Kommunalwahl, weil die Stimmzettel so groß sind, mache ich das ganz genauso. Dann nehme ich auch eine Person mit rein, der ich vertraue, und sage der, wo sie für mich bitte das Kreuz macht oder wo sie meine Hand hinführt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.