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Wallraff zu Cumhuriyet-Prozess in der Türkei
"Es ist ein Unrechtsstaat durch und durch"

Der Investigativjournalist Günter Wallraff verfolgt in der Türkei den Prozess gegen die Journalisten der Zeitung "Cumhuriyet", der am 31. Oktober fortgesetzt wird. Vor Ort beobachte er eine große Verunsicherung: "Man ist jederzeit in Gefahr, wenn man sich kritisch äußert, verhaftet zu werden", sagte Wallraff im Dlf.

Günter Wallraff im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
    Günter Wallraff am 06.07.2017 in Köln bei einem Abend der Solidarität für Deniz Yücel.
    "Wenn ich türkischer Kollege wäre, wäre ich längst eingelocht worden", sagt Investigativjournalist Günter Wallraff. Er ist wegen der Prozesse gegen Journalisten derzeit in der Türkei (dpa/Horst Galuschka)
    Dirk-Oliver Heckmann: Mehr als 100 Tage hat ja bekanntlich der Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner in türkischer Untersuchungshaft verbringen müssen, bevor er in der letzten Woche mit einer Reihe von Mitangeklagten freigelassen wurde und erleichtert nach Deutschland zurückkehren konnte. Ist das nun eine Wende in der türkischen Rechtsstaatspolitik, oder gar im Gegenteil ein Beweis dafür, dass die Justiz in der Türkei eben nicht unabhängig ist? Altkanzler Gerhard Schröder, der hatte sich ja als Emissär der Bundesregierung bei Präsident Erdogan für die Freilassung Steudtner eingesetzt.
    Man darf allerdings auch nicht vergessen: Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel, er sitzt weiter im Gefängnis, ebenso wie Hunderte andere Journalisten. Morgen wird der Prozess gegen die Schriftstellerin Asli Erdogan fortgesetzt, ebenso wie das Verfahren gegen 18 Mitarbeiter der Oppositionszeitung Cumhuriyet, deren Chefredakteur Can Dündar nach Deutschland geflohen ist.
    Günter Wallraff, der Journalist und Buchautor, ist jetzt nach Istanbul gereist, um die Prozesse zu beobachten. Ich habe jetzt die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Schönen guten Morgen, Herr Wallraff!
    Günter Wallraff: Ja guten Morgen!
    Cumhuriyet wirtschaftlich in die Knie gezwungen
    Heckmann: Herr Wallraff, seit Sonntag sind Sie in Istanbul. Wie würden Sie die Atmosphäre in der Stadt beschreiben, bei Freunden, bei Intellektuellen, bei Journalisten?
    Wallraff: Im Alltag merken Sie es nicht, außer dass da immer mehr Verschleierung auch stattfindet, Alkoholausschank und so weiter immer mehr eingeschränkt wird. Aber das ist ja nicht das Thema. Hier bei den Freunden, da ist eine ganz große - Verunsicherung ist da untertrieben. Man muss mit allem rechnen. Man ist jederzeit in Gefahr, wenn man sich denn noch kritisch äußert, unter irgendwelchen Vorwänden auch verhaftet zu werden. Und das erreicht Erdogan ja auch durch seine Abschreckungsmethoden, dass er viele einschüchtert, die dann gar nicht sich mehr zu Wort melden.
    Das Erstaunliche ist aber, dass in der Regel die Kollegen, die ich hier treffe, sich nicht einschüchtern lassen und sogar Gefängnis in Kauf nehmen, und das ist wirklich bewundernswert. Von daher gesehen erreicht er letztlich bei denen das Ziel nicht, die hier noch dagegenhalten.
    Cumhuriyet ist das letzte Organ, die älteste angesehenste Zeitung, mit der Staatsgründung entstanden, die überhaupt noch kritisch dagegenhält, und die ist schon wirtschaftlich so in die Knie gezwungen, dass ihr Bestehen auch in Gefahr ist. Aber die Kollegen hier, die jetzt noch einsitzen, und andere, denen jederzeit Verhaftung droht, das ist bewundernswert, wie die ihre Arbeit weitermachen. Da war ich jetzt auch. Anlässlich meines 75. Geburtstages habe ich die ja schon ermutigt und mich dort als Gast aufgehalten. Und jetzt bei diesem Prozess werde ich weiterhin hier hinreisen.
    "Würde ich hier verhaftet, würden doch viele nachdenklich"
    Heckmann: Herr Wallraff, wenn Sie ein bisschen näher ans Telefon gehen könnten, wäre das nicht schlecht. – Was ist denn der Grund dafür, Herr Wallraff, dass Sie jetzt die beiden Prozesse beobachten wollen, und mit welchen Gefühlen sehen Sie den kommenden Tagen entgegen?
    Wallraff: Ich treffe auch heute die Frau von Deniz Yücel und den Anwalt und versuche, hier meine Wenigkeit ins Gewicht zu werfen. Ich bin es auch den in Deutschland lebenden Deutschtürken, den Einwandererfamilien schuldig, die in mir immer noch den sehen, der für sie da zwei Jahre auch mit diese Erniedrigung und so weiter der Arbeitswelt erlebt hat.
    Heckmann: Bei Ihrem Buch "Ganz unten".
    Wallraff: Wenn ich hier verhaftet würde – da lasse ich es drauf ankommen –, dann würden doch viele nachdenklich und würden sagen, dann sitzen die anderen auch zu Unrecht hier. Das ist mit ein Grund, dass ich auch jetzt nach wie vor mich hier nützlich mache und nicht locker lasse, und bisher bin ich ja hier, glaube ich, noch frei.
    Heckmann: Das heißt, Sie schließen auch nicht aus, dass die türkische Justiz selber auch auf Sie zugreift?
    Wallraff: Ich höre Sie ganz schwach nur noch. – Ich selber, wenn ich hier lebender türkischer Kollege wäre, wäre ich längst eingelocht worden unter allen möglichen Vorwänden. – Ich höre Sie nicht mehr. Hallo!
    Heckmann: Sprechen Sie ruhig weiter, wir hören Sie.
    Wallraff: Ich wäre als türkischer Journalist jetzt längst unter allen möglichen Vorwänden eingebuchtet worden. Scheinbar hatte ich hier immer noch einen Sonderstatus. Den nehme ich so lange wahr, wie das geht. Ansonsten sind es Kollegen, so ist es hier bei Deniz Yücel. Den hat Erdogan wie so viele andere vorverurteilt. Er hat ihn verleumdet, öffentlich in Hasstiraden als Agenten, als jemanden, der in fremdem Auftrag hier tätig ist.
    Seine Kolumnen – ich habe Deniz ja dadurch erst kennengelernt. Das muss man auch noch sagen. Erdogan macht Kollegen erst richtig bekannt, auch Schriftsteller wie Dogan Akhanli und so weiter. Deren Werk wird dadurch erst richtig gewürdigt. Das weiß er natürlich nicht, so wie er gestrickt ist, dass er im Grunde genommen sich für die Literatur und den Journalismus – aber das ist ja ein bisschen zynisch – auch noch verdient macht. Das kann man vielleicht rückwirkend irgendwann ihm bescheinigen. Das wird ihm nicht so klar sein.
    Vor Steudtner-Freilassung habe "ein Deal stattgefunden"
    Heckmann: Herr Wallraff, die Freilassung von Peter Steudtner in der vergangenen Woche und einer Reihe von Mitangeklagten, ist das aus Ihrer Sicht ein Beweis dafür, dass die Justiz in der Türkei doch noch funktioniert, wie es die türkische Regierung ja auch immer wieder sagt? Oder würde man der türkischen Regierung da auf den Leim gehen?
    Wallraff: Das ist genau das Gegenteil. Es ist ja auf Weisung von oben geschehen. Es ist ja was ausgehandelt worden. Es hat ein Deal stattgefunden. Man möchte gerne wissen, was war die Gegenleistung? Das heißt, die Justiz als solche funktioniert nicht. Es ist ein Unrechtsstaat durch und durch und es ist eine Willkür und Staatsanwälte, die jemanden freilassen, ohne dass das von oben befehligt wurde oder angewiesen wurde, die werden selber dann entlassen, oder müssen selber mit Inhaftierung rechnen.
    Es ist eine gleichgeschaltete Presse. Es gibt so gut wie keine unabhängige Berichterstattung mehr. Es ist ein System – man nennt das in der Psychologie Projektion -, in dem der Staatspräsident Deutschland als Nazi-Regime bezeichnet. Da muss man ihm selber nachsagen, dass er hier das Ganze zu einem islamo-faschistischen Staat entwickelt und das Eigene versucht anderen zu unterschieben.
    Aber es gibt Hoffnung, dass seine Tage doch nicht von Dauer sind, weil doch innerhalb der Bevölkerung, innerhalb breiterer Schichten doch ein Unmut ist, Widerstand nenne ich es nicht, aber eine immer größere Kritik ihm entgegengebracht wird. Und dass die Kollegen von Cumhuriyet hier so lange durchhalten, das lässt hoffen.
    Andererseits: Es werden in dem Land so viele Gefängnisse gebaut. Jede vierte Lira wird hier in neue Gefängnisse gesteckt. 80 sind im Bau. Ein Drittel des Gesamtetats im Justizwesen wird für Gefängnisse verwandt. Viele sind so überfüllt, Gefangene schlafen auf dem Boden. Es sind hier inzwischen Schwerstverbrecher entlassen worden, um Platz für politische Gefangene zu machen. Es sind 55.000 politische Gefangene, 170 Journalisten, mehr als in China, und das ist ein Land, was sich zunehmend zu einem Regime entwickelt, wo man in Deutschland zum Teil noch viel zu zaghaft sich äußert. Ich denke an die Bundeskanzlerin, dass wir hier das nicht öffentlich genug brandmarken.
    "Ein Willkür-Regime, wo keinerlei Gesetze mehr gültig sind"
    Heckmann: Die türkische Regierung, die weist das zurück. Die sagt, dass die Justiz unabhängig arbeitet. Es gäbe keine politischen Gefangenen. Und eine Gewaltenteilung funktioniere auch. Das ist die Perspektive Ankaras. – Herr Wallraff, Sie haben gerade von einem islamisch-faschistischen Regime gesprochen. Ist es wirklich angemessen, die türkische Staatsform mit dem Faschismus zu vergleichen?
    Wallraff: Ich habe gesagt, dahin entwickelt es sich, und ich habe das in Zusammenhang gebracht, dass Erdogan Deutschland als faschistisches, als Nazi-Regime bezeichnet hat, und dann muss man das zurückweisen, muss man das umkehren. Das nennt man in der Psychologie Projektion.
    Aber ich nenne Ihnen ein Zitat, was kürzlich gefallen ist und auch hier veröffentlicht wurde, vom türkischen Wirtschaftsminister Zeybekci. Da sehen Sie, wes Geistes Kind die sind. Er hat wörtlich gesagt: "Wir werden sie in Löcher stecken. Wir werden sie nie mehr Allahs Sonne sehen lassen, solange sie atmen. Sie werden nie wieder eine menschliche Stimme hören. Sie werden uns anflehen, sie zu töten, um sie aus ihrem Elend zu erlösen." – Sehen Sie mal, das ist ein Minister, das ist ein staatstragender Minister, und der ist nach wie vor im Amt.
    Es gereicht ihm zur Ehre, wenn er Menschen hier aus der Gülen-Bewegung als Unmenschen bezeichnet. Das Regime, so wie es sich jetzt hier darstellt, ist – - Wie nenne ich es? Finden wir einen neuen Namen dafür? – Ich glaube auch, man sollte mit dem Begriff Faschismus, weil das eine Singularität war, gerade wir Deutschen sollten hier nicht so leichtfertig damit umgehen. Aber es ist ein Willkür-Regime, wo keinerlei Gesetze mehr gültig sind.
    Heckmann: Herr Wallraff, Union, FDP und Grüne sondieren ja derzeit die Chancen für ein Jamaika-Bündnis in Berlin. Eine Frage, die da auch diskutiert wird, ist, ob die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abgebrochen werden sollen oder nicht. Was ist da Ihre Haltung? Klare Kante zeigen, oder würde das die Lage der Inhaftierten beispielsweise noch verschlimmern?
    Wallraff: Ich bin da schwankend. Ich habe einerseits auch immer gefordert, Touristen-Boykott und Hermes-Bürgschaften kündigen. Die sind ja schon reduziert. Ich bin da schwankend. Ich glaube, die Bundesregierung überhaupt befindet sich in der Situation, wie man mit Geiselnehmern umgeht. Hier werden ja auch welche in Haft genommen und auch der ganze Flüchtlings-Deal besteht ja darin, dass man Bedingungen durchsetzen will. Und mit Geiselnehmern muss man im Gespräch bleiben. Man muss sie möglichst lange versuchen, zum Einlenken zu bewegen.
    "Mit Geiselnehmern verhandelt man!"
    Heckmann: Man könnte auch sagen, mit Geiselnehmern spricht man nicht.
    Wallraff: Doch, mit Geiselnehmern verhandelt man! Sehen Sie, mit jedem gewöhnlichen kriminellen Geiselnehmer versuchen auch Sondereinheiten so lange zu reden, bis man etwas erreicht hat. Man will ja was erreichen. Von daher bin ich dann wieder nicht ganz meiner Meinung und sage mir, im Gespräch bleiben, hinter den Kulissen doch versuchen, und das ist ja schon mal was, wenn hier Peter Steudtner und andere erst mal freikamen. Auch bei Deniz Yücel ist die Hoffnung, obwohl er ist kein Deutscher, er ist deutscher und türkischer Staatsangehöriger.
    Da ist es schon schwieriger. Aber bei Mesale Tolu ist die Hoffnung, sie ist Deutsche, dass man bei ihr auch was erreicht. Das kleine Kind ist da ohne Mutter jetzt und war in einer engsten Zelle mit ihr erst mal zusammen in einer Massenzelle. Hier schlafen auch Menschen auf dem Boden, so eng sind die Verhältnisse in den Gefängnissen. Ich meine, man sollte doch verhandeln und sollte zweigleisig vorgehen.
    Heckmann: Morgen wird in Istanbul der Cumhuriyet-Prozess fortgesetzt. Günter Wallraff ist vor Ort und beobachtet den Prozess und mit ihm konnten wir sprechen. Herr Wallraff, ich danke Ihnen für das Gespräch!
    Wallraff: Ja gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.