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Weißrussland
Nationaler Wandel oder Kalkül?

Früher wurden Oppositionspolitiker vor Wahlen in Weißrussland verhaftet, jetzt aber haben es immerhin zwei ins Parlament geschafft. Regierungskritiker meinen, dass Präsident Lukaschenko den Weg aus rein taktischem Kalkül ermöglicht hat. Das Gleiche gelte für die Rückbesinnung auf nationale Kultur und weißrussische Sprache.

Von Florian Kellermann | 16.09.2016
    Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko
    Unter dem weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko gab es immer wieder Phasen von Tauwetter, die meist rasch zu Ende gingen. (Imago)
    Vor der Oper in Minsk haben Menschen die weiß-rot-weiße Fahne ausgebreitet - die historische Fahne Weißrusslands. Sie feiern ein Datum, das in der offiziellen weißrussischen Geschichtspolitik keine Rolle spielt: die Schlacht bei Orscha vor über 500 Jahren. Die litauische Armee besiegte damals die Armee des Großfürstentums Moskau. Zu Litauen habe damals auch das Kerngebiet des heutigen Weißrussland gehört, erklärt Nina Baginskaja, eine 69-jährige Rentnerin:
    "Deshalb ist für uns heute der Tag des weißrussischen militärischen Ruhms. Denn damals, vor 502 Jahren, gab es einen großen Sieg über den Eindringling aus Moskau."
    Die Veranstaltung vor der Minsker Oper ist also vor allem gegen den großen Nachbarn Russland gerichtet - den Staat, der aus dem Großfürstentum Moskau hervorging. Und der Weißrussland Ende des 18. Jahrhunderts unter seine Herrschaft brachte.
    "Wir hier sind nur einige Menschen, die nicht vollständig russifiziert wurden wie die meisten Weißrussen. Viele beherrschen ja nicht einmal mehr die weißrussische Sprache."
    Weiche Weißrussifizierung
    Die Weißrussische Nationale Front, kurz BNF, hat die Veranstaltung vor der Oper organisiert. Auch Polizisten sind da - aber niemand greift ein. Noch vor wenigen Jahren wäre das undenkbar gewesen, die Teilnehmer hätten mindestens eine Ordnungsstrafe bekommen.
    Diesmal jedoch lässt das Regime von Präsident Alexander Lukaschenko sie gewähren. Das ist kein Zufall. Experten sprechen von einer "weichen Weißrussifizierung", die von der Regierung betrieben werde. So der Politologe und regimekritische Schriftsteller Viktor Martinowitsch, der auf Russisch und auf Weißrussisch schreibt:
    "Drei Tage vor der Parlamentswahl habe ich mein neuestes Buch in einer staatlichen Buchhandlung signiert. Zum Vergleich: Bei meinem vorigen Roman kam die Polizei, als ich ihn in Grodno präsentiert habe. Es gibt eine Veränderung, hin zur nationalen Kultur und Literatur, auch zur weißrussischen Sprache. Ljawon Wolskij, der auf der schwarzen Liste der Musiker stand, ist in kürzlich Gomel aufgetreten."
    Hoffen auf bessere Beziehungen zum Westen
    Unter Lukaschenko gab es immer wieder Phasen von Tauwetter, die meist rasch zu Ende gingen. Diesmal nimmt die Regierung aber auch kleine institutionelle Veränderungen vor. So wird an den Schulen wieder mehr Weißrussisch unterrichtet. Und bei der Wahl vergangenen Sonntag ließ das Regime zwei Oppositionsabgeordnete ins Parlament - eine von ihnen ist in der Gesellschaft für die weißrussische Sprache aktiv.
    Doch mit mehr Demokratie habe das alles nichts zu tun, meint der Schriftsteller Martinowitsch:
    "Es geht darum, dass Lukaschenko zum russischen Präsidenten Putin sagen kann: Weil ihr uns finanziell nur noch so schlecht unterstützt, sind bei uns Nationalisten ins Parlament gekommen. Wenn ihr uns nicht mehr Kredite und billiges Gas gebt, wird die antirussische, nationalistische Opposition noch stärker."
    Dieses Argument ist umso gewichtiger, als Lukaschenko nach der Parlamentswahl auf bessere Beziehungen zum Westen, zur EU, hoffen kann.
    Hinwendung zur weißrussischen Kultur
    Die patriotische Opposition im Parlament, die Hinwendung zur weißrussischen Kultur - eine zynische Taktik also, mit der Lukaschenko Russland und den Westen gegeneinander ausspielt? Ja, meint der Politologe Valerij Karbalewitsch, aber nicht nur:
    "Was in den vergangenen Jahren in der Ukraine passiert ist, war ein Schock für alle Politiker im postsowjetischen Raum. Niemand hat damit gerechnet, dass Russland die Krim einfach annektiert. Die Ereignisse, auch im Donezbecken, haben gezeigt, dass fehlende nationale Identität in einer Region von Russland ausgenutzt werden kann. Auch, um dem entgegenzuwirken, will Lukaschenko die nationale Identität stärken."
    Allzu scharf sollen die Signale an Russland allerdings auch nicht werden. Die Rentnerin Nina Baginskaja durfte vor der Oper gegen Russland demonstrieren. Ein Bekannter von ihr, der das gleichzeitig vor der russischen Botschaft in Minsk machen wollte, wurde umgehend festgenommen.