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Wie stark ist der "IS"?
Einblicke in ein Terrorregime

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden haben türkische Kampfflugzeuge Stellungen des sogenannten Islamischen Staats in Syrien bombardiert. Wie stark die Terrormiliz derzeit wohl ist, machen nicht zuletzt Aussagen jener Menschen deutlich, die in vom IS eroberten Gebieten leben.

Von Clemens Verenkotte | 25.07.2015
    Ein Anhänger des IS mit der Flagge der Miliz
    Die Terrororganisation sei dabei, sich in einen funktionierenden Staat zu wandeln, der extreme Gewalt anwende, sagten Einwohner der IS-Gebiete gegenüber der "New York Times". (afp)
    Das absolute Nachrichtenmonopol will die PR-versierte Terrororganisation IS über das aufrechterhalten, was in ihrem Herrschaftsbereich passiert: Wie die mehreren Millionen Syrer und Iraker jeden Tag leben - müssen, wie die wirtschaftliche und soziale Lage tatsächlich ist. Etwa in Mossul, der Millionenstadt im Norden des Irak, seit einem Jahr von der IS-Terrormiliz besetzt.
    Jede Journalistin und jeder Journalist, die oder der Berichte über Hinrichtungen, Kreuzigungen oder andere Verbrechen an der Zivilbevölkerung aus dem selbsterklärten Kalifat absetzt, riskiert das eigene Leben. Wie die irakische Journalistin Suha Ahmed Radi, die für eine Zeitung in ihrer Heimatstadt Mossul arbeitete. Anfang Juli wurde sie nach Angaben des irakischen Journalistenverbandes in Mossul ermordet, Tage, nachdem IS-Milizen in ihr Haus eingedrungen waren und sie verschleppt hatten. Angehörige wurden anschließend verständigt: Sie könnten den Leichnam abholen. Eine Woche später, am 16. Juli, ermordeten Mitglieder der Terrororganisation einen Kameramann in Mossul, Jala al Abadi, der für den lokalen TV-Sender Al Mosulia tätig war. Sein "Verbrechen"? Er habe Informationen an die nationale Presse weitergegeben. Sein Martyrium in IS-Gefangenschaft dauerte 41 Tage.
    Allein im Irak hat der IS 3,1 Millionen Menschen vertrieben
    Das Flüchtlingslager Baharka, am Stadtrand von Erbil, der Hauptstadt der autonomen Region Irakisch-Kurdistan, einige Dutzend Kilometer nordöstlich von Mossul: Ein Kleintransporter überholt. Sechs Kinder, die auf der offenen Ladefläche balancieren, rufen übermütig den Journalisten zu. Allein im Irak ist die IS-Terrormiliz nach Angaben der Vereinten Nationen vom 21. Juli für die Flucht von 3,1 Millionen Menschen verantwortlich: entwurzelte Iraker, die in äußerst provisorischen Lagern auf eine Rückkehr in ihre Heimat hoffen:
    "Wir wollen, dass die Regierung Mossul schnell wieder befreit, dass wir zurückgehen können. Warum leben wir hier in der Wüste, unter der gleißenden Sonne, ohne Wasser oder Elektrizität?"
    "Jetzt sind wir in einem Lager und unsere Lage ist sehr schlecht: Der Sand, die Hitze, ohne Strom, nichts gibt es hier. Wir wünschen, dass unsere Regierung rasch unsere Gegenden befreit: Salahuddin, Mossul, Ramadi und Falluja, um den Menschen zu helfen, damit die Kinder in ihre Häuser zurückkehren können."
    Doch diese Perspektive ist in dem Maße in weitere Ferne gerückt, in dem es der Terrormiliz IS gelungen ist, über einen längeren Zeitraum ihre besetzten Gebiete zu halten und dort, unter Anwendung schierer Gewalt, sogenannte "zivile Strukturen" zu errichten.
    Die "New York Times" ließ in dieser Woche Einwohner im Herrschaftsterrain des IS zu Wort kommen, anonymisiert, mit Aussagen, die keinen Zweifel daran lassen, dass die Terrororganisation dabei sei, sich in einen – so wörtlich – "funktionierenden Staat zu wandeln, der extreme Gewalt – Terror – als Mittel" anwende. Die vormals alles durchdringende Korruption sei komplett verschwunden. Mord und Diebstahl gebe es höchstens vereinzelt, angesichts der fundamentalistischen Anwendung der Scharia. Selbst falls er mit einer Million Dollar von Rakka in Syrien nach Mossul fahren würde, niemand würde es wagen, auch nur einen einzigen Dollar anzufassen, wie die "New York Times" einen Händler aus Rakka zitiert, der Provinzstadt im Osten Syriens, die der IS als seine Kapitale betrachtet.
    "Was machen wir, falls der IS gewinnt?"
    Als einer der ersten namhaften amerikanischen Wissenschaftler stellte Stephan Walt, Politologie-Professor an der Harvard University, vor kurzem die ketzerische Frage, im Fachjournal "Foreign Policy": "Was machen wir, falls der IS gewinnt?" Angesichts der Unfähigkeit der irakischen Regierung, eine erfolgreiche Gegenoffensive einzuleiten und die IS-Terrormiliz aus dem sunnitischen Westen des Landes zu vertreiben, erscheine die Entwicklung realistischer als die bislang stets irrigen Prognosen Washingtons.
    US-Verteidigungsminister Ashton Carter, der am Donnerstag zu einem Blitzbesuch in Bagdad war, hatte noch vor Wochen die irakische Armee öffentlich bezichtigt, "einfach keinen Kampfwillen" gegenüber der Terrormiliz IS gezeigt zu haben. Jetzt setzt er auf moderatere Töne, hielt jedoch vor amerikanischen Piloten und Bordmechanikern in Amman realistisch fest:
    "Im Moment haben wir eine enorme Luftüberlegenheit und wir haben keine Bodentruppen, die wir in allen Gebieten brauchen, in denen der IS operiert. Wir arbeiten daran, aber dort, wo wir beides haben, sehen wir die gewaltige Kombination von Luftüberlegenheit und fähigen lokalen Bodentruppen."
    Der US-amerikanische Verteidigungsminister Ashton Carter
    Der US-amerikanische Verteidigungsminister Ashton Carter (picture alliance / EPA / Valda Kalnina)
    Seit über einer Woche versuchen Kampfverbände der irakischen Armee und der schiitischen Milizen, die rund 60 Kilometer westlich von Bagdad entfernte Stadt Falludscha zurückzuerobern. Das sei für die Regierung von Ministerpräsident Haider al Abadi zentral, meinen politische Beobachter in der irakischen Hauptstadt. Ali Hussein:
    "In den Augen der Regierung und der Streitkräfte ist Falludscha ein Arsenal des IS, um neue Rekruten zu gewinnen. Zudem gibt es dort eine Waffenfabrik, die für die Militanten eine wichtige Rolle spielt, um sich bewaffnen zu können. Und geografisch gesehen: Es ist auch ein zentraler Knotenpunkt für die Logistik des IS."
    Später in diesem Sommer soll auf Drängen Washingtons auch Ramadi zurückerobert werden – die Provinzhauptstadt Anbars, der größten sunnitischen Provinz des Landes. In ihrem eigenen Machtbereich schirmt die Terrormiliz IS hermetisch ab: Nichts darf nach draußen dringen, was die Rekrutierung von ausländischen Dschihadisten – seriösen Schätzungen zufolge 1.000 pro Monat – gefährden könnte. Mutige irakische Journalisten, die dennoch die Außenwelt mit Informationen versorgen, müssen mit ihrem Leben bezahlen: Am 7. Juli veröffentlichte das irakisch-kurdische Medienportal "Rudow" eine nicht näher datierte Aufnahme des global wirkenden Medienarms des sogenannten "Islamischen Staates" aus Mossul: Drei Journalisten stehen auf einem Podest, eingekreist von drei schwarz vermummten IS-Extremisten, Schaulustige blicken auf die Männer. Ein Schautribunal, mit der Bildunterschrift: "Öffentliche Verhandlung vor dem IS Scharia-Gericht."