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"Wir gehen mit bürgerlichen Maßstäben auf die armen Menschen zu"

Franz Meurer, katholischer Pfarrer in einem sozialen Brennpunkt in Köln, hält das Bildungspaket grundsätzlich für richtig, sieht aber Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung. So seien nur wenige in der Lage, "sich mit bürokratischen Dingen zu beschäftigen".

Franz Meurer im Gespräch mit Gerd Breker |
    Gerd Breker: Wegen der bislang schwachen Nachfrage nach den Leistungen aus dem Bildungspaket findet heute im Bundesarbeitsministerium ein Runder Tisch statt. Unter Leitung von Ministerin von der Leyen soll mit Vertretern der Kommunen darüber beraten werden, wie das Interesse der betroffenen Familien an den Angeboten geweckt werden kann. Von der Leyen denkt daran, dem Paket einen Brief beizulegen. Am Telefon sind wir nun verbunden mit Franz Meurer, katholischer Pfarrer in einem sozialen Brennpunkt hier in Köln, sozusagen ein Mann der Praxis. Guten Tag, Herr Meurer.

    Franz Meurer: Hallo!

    Meurer: Herr Meurer, haben Sie schon Erfahrungen sammeln können, bezogen auf dieses Bildungspaket?

    Meurer: Ja. Wir versuchen natürlich, die Leute bei uns zu motivieren, den Antrag zu stellen. Zum Beispiel heute Morgen hatte ich 130 Kinder aus vier verschiedenen Kindertagesstätten in der Kirche. Natürlich habe ich vorher und nachher die Eltern angesprochen. Aber es gibt ein Grundproblem. Bischof Wanke aus Erfurt hat gesagt, was der Feudalismus im Mittelalter war, sind heute Besitzgier und Bürokratie, ein seltsames Paar, Besitzgier und Bürokratie. Das ist das Los der Armen. Das heißt, zum einen müssen sie für zweimal 480 Euro arbeiten, ganz viele, und sie sind nur ganz wenig in der Lage, sich mit bürokratischen Dingen zu beschäftigen. Wir haben hier bestimmt zwölf bis 15 Prozent Analphabeten. Wir wissen aus der PISA-Studie, dass 35 Prozent der Kinder von der Hauptschule gehen mit rudimentären ganz kleinen Lese- und Schreibkenntnissen, von den Förderschülern mal gar nicht zu sprechen. Das heißt, die Grundidee finde ich ja super: endlich alle Mittagessen, endlich Nachhilfe, endlich Musikschule. Aber die Praxis muss es bringen.

    Breker: Das heißt, wenn wir aus der Politik hören, den Antrag zu stellen, das sei einfach, die Eltern sollten sich kümmern, dann müssen Sie aus der Praxis heraus sagen, den Antrag zu stellen, sei eben nicht einfach, weil viele den Antrag gar nicht lesen können.

    Meurer: Helmut Schmidt hat mal gesagt, ich könnte keinen Antrag auf Wohngeld stellen. Das war zwar ein bisschen übertrieben, aber wenn wir den Leuten nicht helfen, die Antragsflut zu bewältigen, wenn sich zum Beispiel im Haushalt eine Person verabschiedet, weil sie eben heiratet oder so, muss ein Paket von über 50 Seiten ausgefüllt werden, um Wohngeld zu bekommen. Das können die Leute gar nicht schaffen. Das heißt, die große Problematik ist immer die gleiche: Wir gehen mit bürgerlichen Maßstäben auf die armen Menschen zu. Wir verstehen nicht, dass das, mit Heinz Bode gesprochen, schon Exklusion, Ausschluss bedeutet, weil sie können an einer solchen Art der Kommunikation fast gar nicht teilnehmen. Gut, wir machen vor Ort was wir können, dass wir praktisch das immer wieder ersetzen, dass wir eine eigene Beratungsstelle hier haben, dass wir Ehrenamtliche haben, die dabei helfen. Der Weg ist nur falsch. Richtig ist grundsätzlich, man muss die mündigen Bürger einfordern, aber dafür muss man ganz, ganz lange fördern, bis die Leute dazu in der Lage sind. Leider!

    Breker: Was etwas irritiert, Herr Meurer, aber vielleicht können Sie uns da Aufklärung geben: Den Antrag müssen ja die Erziehungsberechtigten stellen.

    Meurer: Ja.

    Breker: Und das waren doch genau die, denen man misstraut hat, wo man gesagt hat, die werden das Geld gar nicht an ihre Kinder weitergeben.

    Meurer: Das Problem mit dem Weitergeben ist doch ganz einfach. Die Leute machen auch Fehler. Das heißt, wenn ich jetzt Hartz IV bekomme und die anderen Kinder haben alle einen super Schulranzen bekommen, dann kaufe ich den, und an den letzten zehn Tagen vom Monat habe ich nichts mehr zu essen. Wir haben zum Beispiel vorigen Sommer 300 Schulranzen an die Schulen verteilt. Das heißt, bei der Schulanmeldung haben schon die Rektorinnen und Rektoren gesagt, bei uns kriegt ihr einen super Schulranzen von Scout - zum Glück haben wir die diesmal geschenkt bekommen vorigen Sommer, mal sehen, was jetzt ist. Das heißt, man muss das umdrehen. Oder ich bringe mal das Beispiel Nachhilfe. Die Lehrerin, der Lehrer muss Nachhilfe anstoßen. Die Eltern schämen sich doch. Die sagen, mein Kind ist doch nicht blöd. Es ist nicht blöd, aber es ist noch zu dumm. Okay, es hat Lebenswissen. Es ist irgendwie in der Lage, den Alltag zu bewältigen, aber zum Lernen, zu begreifen, jetzt muss dieses Kind in Mathe gefördert werden oder in Deutsch, das kriegen die Eltern gar nicht so einfach auf die Reihe. Das heißt, man muss den Lehrerinnen und Lehrern, den Schulen das in die Hand drücken.

    Breker: Herr Meurer, wenn ich zusammenfassend feststelle: Sie finden das Bildungspaket gut gemeint, ...

    Meurer: Ja!

    Breker: ... , aber in der Ausführung mangelhaft, weil es ist zu bürokratisch und entspricht überhaupt nicht der Lebenswirklichkeit eben dieser Empfängerfamilie?

    Meurer: Super! Das haben Sie topp zusammengefasst.

    Breker: Herr Meurer, dann danke ich Ihnen sehr für dieses Gespräch und wünsche Ihnen noch einen guten Tag.

    Meurer: Okay, Ihnen auch. Tschüss!