Doris Simon: 30 Millionen Akten, voll mit Informationen über Leben und Leid von mehr als 17 Millionen Häftlingen, Zwangsarbeitern und Vertriebenen. Das größte NS-Archiv der Welt, es lagert seit fast 60 Jahren im hessischen Bad Arolsen in den Archiven des internationalen Suchdienstes. Aus der Sicht der Forschung ist das Material ein Schatz, der einen viel genaueren Blick auf das nationalsozialistische Regime in Deutschland erlauben würde, aber es brauchte einen jahrzehntelangen Kampf, bis gestern Vertreter von acht Staaten ein Protokoll unterzeichnet haben, das diesen entsprechenden Zugang zu den Daten erlaubt. Am Telefon ist Volkhard Knigge, der Leiter der Gedenkstätte in Buchenwald. Guten Morgen!
Volkhard Knigge: Guten Morgen!
Simon: Herr Knigge, wann können Sie denn jetzt Einblick nehmen in dieses riesige Archiv?
Knigge: Das wüsste ich auch gerne. Ich hoffe es sind jetzt nur noch praktische Fragen, die zu überwinden sind, und ich würde mir wünschen, sagen wir mal nächste Woche würde es so sein.
Simon: Herr Knigge, in welchen Bereichen der NS-Geschichte erhoffen Sie sich denn noch neue Informationen oder den Schluss von Wissenslücken?
Knigge: Ich glaube man muss sehr genau hingucken. Grundstürzend neue Forschungsergebnisse im Blick auf die Holocaust-Geschichtsschreibung, auf die Geschichtsschreibung NS-Deutschlands sind glaube ich nicht zu erwarten. Wir werden aber doch wohl einen präziseren Blick insbesondere auf die Lagergeschichten bekommen, auf die Geschichte der Lager selbst, auf die Geschichte ihrer Umgebungswelt, der umliegenden Gemeinden und Städte, auf Täter, auf Opfer, auf Verwaltungsvorgänge, auf Kooperationen etwa der Lager auch mit Firmen in ihrer Nähe, mit Bürokratien, mit städtischen Verwaltungen. Hier wird glaube ich unser Blick präziser, mikroskopischer, genauer.
Simon: Herr Knigge, Sie sagten wenn es nach Ihnen ginge, am liebsten nächste Woche anfangen mit der Forschung in Arolsen. Haben Sie denn in der Gedenkstätte Buchenwald ganz konkrete Fragen, Projekte, die Sie dort recherchieren möchten?
Knigge: Auch für uns kommt die Öffnung zu spät. Wir wissen, dass über 90 Prozent der erhaltenen Buchenwald-Verwaltungsakten in Arolsen gelagert sind. Wir wissen, dass ähnlich viele Akten zur Geschichte des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora, das auch zur Stiftung gehört, sich dort befinden. Am 10. September eröffnen wir die letzte neue große Ausstellung zur Geschichte des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora und ich muss sagen mir blutet das Herz. Wir haben in den vergangenen Jahren gerungen, um Zugang zu den Akten zu bekommen. Wir haben die Aktendeckel von außen sehen dürfen. Wir mussten wie viele andere auch Schleich- und Umwege gehen und nun ist es eben so, dass das Museum da ist und gleichzeitig das Archiv aufgeht. Darüber freue ich mich natürlich, aber wie gesagt es kommt zu spät.
Simon: Das heißt, um es noch mal zu verdeutlichen, Sie mussten Schleich- und Umwege gehen für die Gedenkstätte Buchenwald, um an die nötigen Informationen zu kommen. Sie im internationalen Suchdienst haben keinen direkten Zugang bekommen. Mit welcher Begründung?
Knigge: Immer mit der Begründung, dass dieses Archiv keinen Forschungsauftrag hat, dass das Archiv einzig dazu da ist, Schicksalsklärungsfragen direkt von Angehörigen gestellt zu beantworten, dass ansonsten der entsprechende Datenschutz gilt. Man hat dann manchmal, wenn der Druck offenbar zu groß wurde, signalisiert, dass man vielleicht doch eine Ausnahme macht, dass man vielleicht doch in einem Sonderfall Aktenzugang bekommt, aber immer wenn es dann ernst wurde, klappte die Tür wieder zu. Wie gesagt von außen habe ich die Aktendeckel häufiger sehen können, wie viele andere Kollegen auch, aber aufgeschlagen worden sind diese Aktendeckel für uns nie.
Simon: Herr Knigge, bei dieser Argumentation Datenschutz und nicht für die Forschung, das war ja am Anfang des Suchdienstes ganz anders. Da hat man gesagt, sehr wohl möchte man das später auch der Forschung zugänglich machen. Ist Ihnen das von irgendeiner Stelle mal erklärt worden, warum denn nicht für die Forschung?
Knigge: Nein, das ist nie wirklich erklärt worden und man merkte, dass das Archiv zunehmend in Begründungsschwierigkeiten gekommen ist, denn es macht natürlich überhaupt keinen Sinn. Es erscheint auch nicht als legitim, 50 oder 60 Jahre nach Kriegsende dieses Archiv geschlossen zu halten und gleichzeitig etwa parallel ein Holocaust-Denkmal in Berlin zu bauen. Ich hatte immer den Eindruck es sind Ausreden, es sind Hinhaltetaktiken. Es geht darum, dass das Archiv sich zunächst selbst erhält, fast wie eine kafkaesk-bürokratische Behörde, die um sich selber kreist. Wirklich plausible Argumente habe ich eigentlich zu keinem Zeitpunkt gehört.
Simon: Das Archiv wird ja komplett bezahlt vom deutschen Steuerzahler, aber es brauchte den massiven Druck aus den USA, damit es nun zu dieser Öffnung kam. Ist das nicht auch ein bisschen traurig, dass Druck aus Deutschland, zum Beispiel von den versammelten Gedenkstätten, nicht ausgereicht hat?
Knigge: Ja. Das habe ich immer als sehr bitter empfunden. Wir selber haben ja mehrfach auch mit deutschen Stellen gesprochen. Wir haben auf das Forschungsproblem hingewiesen, aber auch darauf hingewiesen, dass es keinen guten Eindruck in der Welt macht, wenn Deutschland sich hier nicht bemüht. Das alles hat nichts genützt. Es hat genauso wenig genützt wie eine Tagung der Überlebendenverbände etwa Ende der 90er Jahre in Straßburg. Es sind ja nicht nur wir abgeblitzt, sondern wie gesagt auch Überlebende weltweit. Insofern habe ich es als sehr traurig empfunden, dass hier wieder der Eindruck entstanden ist, wenn nicht heftig mit großer Macht gewunken und gedroht wird, dann tun die Deutschen nichts. Das Gegenteil ist eigentlich der Fall. Wir haben in den letzten 15 Jahren qualitativ und auch quantitativ ungeheuere Fortschritte gemacht in den Gedenkstätten, in der Erinnerungskultur überhaupt. Mir hat es immer ein bisschen wehgetan, dass man dort sein Licht unter den Scheffel stellt und wie gesagt den Eindruck erweckt, in Deutschland hat sich nichts geändert. Wenn man die Deutschen nicht ein bisschen kneift und tritt, dann tun sie nichts. Sie sind immer noch am Verdrängen. Das hätte wirklich nicht sein müssen!
Simon: Dem unverminderten Interesse, Forschungsinteresse deutscher Wissenschaftler und auch ausländischer Wissenschaftler steht ja eine Haltung – auch in Deutschland – gegenüber die sagt, wieso müssen wir denn noch mehr wissen zu der NS-Geschichte, wir haben doch schon so viel. Was sagen Sie dazu?
Knigge: Ich glaube die Aufgabe der Zukunft wird sein, größere Tiefenschärfe zu gewinnen. Wir merken in der Pädagogik, wie wichtig es ist, über Einzelschicksale, die dann in den historischen Kontext gestellt werden, überhaupt Interesse an diesem Thema zu wecken, diese schwierigen, auch zum Teil hoch abstrakten Verwaltungs- und politischen Vorgänge, die zu diesem Massenmord führen, erklärbar zu machen. Da erwarte ich mir in der Tat doch einiges von den Akten. Diese Tiefenschärfe, diese Plastizität des Einzelfalls im Kontext des einzelnen Menschen, im Kontext Opfer wie Täter, dort weiterzukommen, dort plastischer zu werden, das wäre eine ganz großartige Sache.
Volkhard Knigge: Guten Morgen!
Simon: Herr Knigge, wann können Sie denn jetzt Einblick nehmen in dieses riesige Archiv?
Knigge: Das wüsste ich auch gerne. Ich hoffe es sind jetzt nur noch praktische Fragen, die zu überwinden sind, und ich würde mir wünschen, sagen wir mal nächste Woche würde es so sein.
Simon: Herr Knigge, in welchen Bereichen der NS-Geschichte erhoffen Sie sich denn noch neue Informationen oder den Schluss von Wissenslücken?
Knigge: Ich glaube man muss sehr genau hingucken. Grundstürzend neue Forschungsergebnisse im Blick auf die Holocaust-Geschichtsschreibung, auf die Geschichtsschreibung NS-Deutschlands sind glaube ich nicht zu erwarten. Wir werden aber doch wohl einen präziseren Blick insbesondere auf die Lagergeschichten bekommen, auf die Geschichte der Lager selbst, auf die Geschichte ihrer Umgebungswelt, der umliegenden Gemeinden und Städte, auf Täter, auf Opfer, auf Verwaltungsvorgänge, auf Kooperationen etwa der Lager auch mit Firmen in ihrer Nähe, mit Bürokratien, mit städtischen Verwaltungen. Hier wird glaube ich unser Blick präziser, mikroskopischer, genauer.
Simon: Herr Knigge, Sie sagten wenn es nach Ihnen ginge, am liebsten nächste Woche anfangen mit der Forschung in Arolsen. Haben Sie denn in der Gedenkstätte Buchenwald ganz konkrete Fragen, Projekte, die Sie dort recherchieren möchten?
Knigge: Auch für uns kommt die Öffnung zu spät. Wir wissen, dass über 90 Prozent der erhaltenen Buchenwald-Verwaltungsakten in Arolsen gelagert sind. Wir wissen, dass ähnlich viele Akten zur Geschichte des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora, das auch zur Stiftung gehört, sich dort befinden. Am 10. September eröffnen wir die letzte neue große Ausstellung zur Geschichte des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora und ich muss sagen mir blutet das Herz. Wir haben in den vergangenen Jahren gerungen, um Zugang zu den Akten zu bekommen. Wir haben die Aktendeckel von außen sehen dürfen. Wir mussten wie viele andere auch Schleich- und Umwege gehen und nun ist es eben so, dass das Museum da ist und gleichzeitig das Archiv aufgeht. Darüber freue ich mich natürlich, aber wie gesagt es kommt zu spät.
Simon: Das heißt, um es noch mal zu verdeutlichen, Sie mussten Schleich- und Umwege gehen für die Gedenkstätte Buchenwald, um an die nötigen Informationen zu kommen. Sie im internationalen Suchdienst haben keinen direkten Zugang bekommen. Mit welcher Begründung?
Knigge: Immer mit der Begründung, dass dieses Archiv keinen Forschungsauftrag hat, dass das Archiv einzig dazu da ist, Schicksalsklärungsfragen direkt von Angehörigen gestellt zu beantworten, dass ansonsten der entsprechende Datenschutz gilt. Man hat dann manchmal, wenn der Druck offenbar zu groß wurde, signalisiert, dass man vielleicht doch eine Ausnahme macht, dass man vielleicht doch in einem Sonderfall Aktenzugang bekommt, aber immer wenn es dann ernst wurde, klappte die Tür wieder zu. Wie gesagt von außen habe ich die Aktendeckel häufiger sehen können, wie viele andere Kollegen auch, aber aufgeschlagen worden sind diese Aktendeckel für uns nie.
Simon: Herr Knigge, bei dieser Argumentation Datenschutz und nicht für die Forschung, das war ja am Anfang des Suchdienstes ganz anders. Da hat man gesagt, sehr wohl möchte man das später auch der Forschung zugänglich machen. Ist Ihnen das von irgendeiner Stelle mal erklärt worden, warum denn nicht für die Forschung?
Knigge: Nein, das ist nie wirklich erklärt worden und man merkte, dass das Archiv zunehmend in Begründungsschwierigkeiten gekommen ist, denn es macht natürlich überhaupt keinen Sinn. Es erscheint auch nicht als legitim, 50 oder 60 Jahre nach Kriegsende dieses Archiv geschlossen zu halten und gleichzeitig etwa parallel ein Holocaust-Denkmal in Berlin zu bauen. Ich hatte immer den Eindruck es sind Ausreden, es sind Hinhaltetaktiken. Es geht darum, dass das Archiv sich zunächst selbst erhält, fast wie eine kafkaesk-bürokratische Behörde, die um sich selber kreist. Wirklich plausible Argumente habe ich eigentlich zu keinem Zeitpunkt gehört.
Simon: Das Archiv wird ja komplett bezahlt vom deutschen Steuerzahler, aber es brauchte den massiven Druck aus den USA, damit es nun zu dieser Öffnung kam. Ist das nicht auch ein bisschen traurig, dass Druck aus Deutschland, zum Beispiel von den versammelten Gedenkstätten, nicht ausgereicht hat?
Knigge: Ja. Das habe ich immer als sehr bitter empfunden. Wir selber haben ja mehrfach auch mit deutschen Stellen gesprochen. Wir haben auf das Forschungsproblem hingewiesen, aber auch darauf hingewiesen, dass es keinen guten Eindruck in der Welt macht, wenn Deutschland sich hier nicht bemüht. Das alles hat nichts genützt. Es hat genauso wenig genützt wie eine Tagung der Überlebendenverbände etwa Ende der 90er Jahre in Straßburg. Es sind ja nicht nur wir abgeblitzt, sondern wie gesagt auch Überlebende weltweit. Insofern habe ich es als sehr traurig empfunden, dass hier wieder der Eindruck entstanden ist, wenn nicht heftig mit großer Macht gewunken und gedroht wird, dann tun die Deutschen nichts. Das Gegenteil ist eigentlich der Fall. Wir haben in den letzten 15 Jahren qualitativ und auch quantitativ ungeheuere Fortschritte gemacht in den Gedenkstätten, in der Erinnerungskultur überhaupt. Mir hat es immer ein bisschen wehgetan, dass man dort sein Licht unter den Scheffel stellt und wie gesagt den Eindruck erweckt, in Deutschland hat sich nichts geändert. Wenn man die Deutschen nicht ein bisschen kneift und tritt, dann tun sie nichts. Sie sind immer noch am Verdrängen. Das hätte wirklich nicht sein müssen!
Simon: Dem unverminderten Interesse, Forschungsinteresse deutscher Wissenschaftler und auch ausländischer Wissenschaftler steht ja eine Haltung – auch in Deutschland – gegenüber die sagt, wieso müssen wir denn noch mehr wissen zu der NS-Geschichte, wir haben doch schon so viel. Was sagen Sie dazu?
Knigge: Ich glaube die Aufgabe der Zukunft wird sein, größere Tiefenschärfe zu gewinnen. Wir merken in der Pädagogik, wie wichtig es ist, über Einzelschicksale, die dann in den historischen Kontext gestellt werden, überhaupt Interesse an diesem Thema zu wecken, diese schwierigen, auch zum Teil hoch abstrakten Verwaltungs- und politischen Vorgänge, die zu diesem Massenmord führen, erklärbar zu machen. Da erwarte ich mir in der Tat doch einiges von den Akten. Diese Tiefenschärfe, diese Plastizität des Einzelfalls im Kontext des einzelnen Menschen, im Kontext Opfer wie Täter, dort weiterzukommen, dort plastischer zu werden, das wäre eine ganz großartige Sache.