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Wissenschaft und Ideologie
Wehrhaft, blond und blauäugig - der Mythos des Germanentums

Die Germanen als kühne, freiheitsliebende, rotblonde Krieger - ein bis heute prägendes Bild, das einer romantisch-nationalistischen Konstruktion des 18. und 19. Jahrhunderts entspringt. Diese ging nahtlos in eine völkisch-rassische Ideologie über, auf die Rechtsextreme bis heute rekurrieren.

Von Ingeborg Breuer | 03.12.2020
Das Hermannsdenkmal in Hiddesen bei Detmold
Das Schwert gereckt in Richtung Frankreich: "Hermann der Cherusker" als Projektionsfigur des deutschen Nationalgefühls im 19. Jahrhundert (dpa / picture alliance / Horst Ossinger)
"Germanen essen zum Frühstück Fleischstücke, gliedweise gebraten. Und sie trinken dazu Milch und den Wein in ungemischter Form." Poseidonios, etwa 80 vor Christus.
"Das ganze Leben der Germanen besteht aus Jagden und aus den Bemühungen um das Kriegswesen; von klein auf bemühen sie sich um Arbeit und Abhärtung. Jenen, die am längsten ohne sexuellen Kontakt bleiben, bringen sie das größte Lob entgegen: Sie glauben, dass dadurch der Körperbau und die Kräfte gefördert und die Muskeln gestärkt werden." Cäsar, Vom Gallischen Krieg, ca. 50 vor Christus.
"Die Stämme Germaniens sind ein eigenwüchsiges, unvermischtes Volk von unvergleichlicher Eigenart. Darum ist auch die äußere Erscheinung bei allen die gleiche: alle haben trotzig blaue Augen, rotblondes Haar und hünenhafte Leiber, die freilich nur zum Angriff taugen. In mühseliger Arbeit und Strapazen haben sie nicht die gleiche Ausdauer." Tacitus, Germania, 98 nach Christus.
"Wenn man überhaupt wüsste, wer genau die Germanen sind, würde es schon leichter fallen. Aber es handelt sich hier um eine Fremdzuschreibung, die sich dann sukzessive in der Neuzeit etabliert hat. Wir haben es hier mit ganz unterschiedlichen Völkerschaften und Völkergruppen zu tun, die in dem Raum leben, in dem wir uns befinden, also im deutschen Raum." Uwe Puschner, Professor für Neuere Geschichte an der FU Berlin, 2020 nach Christus.
Cäsar "erfand" die Germanen
In der Antike wurde der Grundstein gelegt – für das Bild von den kriegerischen Germanen. Deren Schlachtruf schaurig über grausige Sümpfe und durch finstere Wälder hallte. Die gern einen über den Durst tranken mit einem Saft "von Gerste oder Weizen bereitet". Sie siedelten im "Barbaricum", rechts des Rheins, der die Grenze zum Römischen Reich war. Cäsar, so der Tübinger Althistoriker Prof. Mischa Meier, nannte sie "Germani". Damit erfand er sie als homogene Gruppe.
"Also Cäsar musste seinen Zeitgenossen erklären, warum er Gallien erobert hat und das Land rechts des Rheins nicht. Und das hat er dadurch versucht, dass er gesagt hat, zum einen ist das Land viel zu groß und zum anderen sind die Leute, die da leben viel zu wild und schlecht zu bezwingen und da lässt man lieber die Finger von. Und indem er das getan hat, hat er auf ein sehr traditionelles, aber etabliertes Reservoir von Barbarenstereotypen zugegriffen. Auf Eigenschaften, die auch auf ganz andere Gruppen angewendet wurden."
Cäsars Schilderungen war von politischen Interessen bestimmt. Ähnliches gilt auch für den Geschichtsschreiber Tacitus, der "Germania" ein ganzes Buch widmete: "Tacitus brauchte die Germanen, um einen Spiegel für das, was er als römische Dekadenz und Verdorbenheit diagnostiziert hat, zu erschaffen und musste dementsprechend die Germanen als das nicht Römische konstruieren."
Ausstellungsansicht,James-Simon-Galerie, 2020
Blick in die Ausstellung in der James-Simon-Galerie in Berlin (Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker)
Was man über die Germanen weiß
Den historischen Germanen auf die Spur kommen und althergebrachte Klischees hinterfragen will eine – im Corona-Lockdown allerdings geschlossene - Germanenausstellung auf der Museumsinsel in Berlin. Flankierend dazu erschien im Oktober 2020 eine Veröffentlichung der Bundeszentrale für Politische Bildung, die sich mit der "Germanenideologie" befasst - damit, wie die germanischen Recken später von den Deutschen zu politischen Zwecken vereinnahmt wurden. Was wissen wir wirklich über die Germanen?
"Was wir wissen ist, dass es germanische Sprachen gegeben hat, dass sich bestimmte Leute, die ein Idiom gesprochen haben, das wir heute als germanisch beschreiben würden, vermutlich auch untereinander verstanden haben."
Die Germanen siedelten in einem Gebiet, das im Westen durch den Rhein, im Süden durch die Donau und im Norden durch den Ozean begrenzt war. Nach Osten allerdings erstreckte sich der Siedlungsraum weit in die Steppe hinein und verlor sich, wie es Mischa Meier nennt, "in einer diffusen Märchenwelt". Und trotz sprachlicher Gemeinsamkeiten, weiß der Althistoriker "dass es offensichtlich kein germanisches Zusammengehörigkeitsgefühl gegeben hat. Es gibt keine stichhaltigen Belege dafür, dass in der Antike jemand gesagt hat, wir müssen zusammenhalten, weil wir doch alle Germanen sind."
Auch über gemeinsame Sitten, Religion oder Kultur ist wenig bekannt.
"In der älteren Forschung hat man gern Zeugnisse aus allen möglichen Regionen und Epochen herangezogen. Und man hat dann mit isländischer Saga-Literatur versucht, eine germanische Religion zu rekonstruieren. Das ist methodisch alles nicht haltbar. Und das gilt auch für die Archäologie. Wenn man etwa sagt, es gibt den Typus des Wohnstallhauses, in denen Menschen mit ihrem Nutzvieh zusammengelebt haben, dann bedeutet das eher, dass das für diese Region ein typischer Haustyp ist, der aber auch von ganz anderen Gruppen benutzt werden konnte. Also man kann das nicht ethnisch fassen."
Aus einem römischen Gefäß hergestellter Schildbuckel, aus dem sog. Fürstengrab vonGommern, Lkr. Jerichower Land, Mittleres Drittel 3. Jh. n. Chr
Schildbuckel aus dem Fürstengrab von Gommern (Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt / A. Horentrup)
Deutsche entdecken ihr Germanentum
Angetrieben durch die Wiederentdeckung der "Germania" des Tacitus begann man sich seit dem Humanismus verstärkt für die Vorfahren zu interessieren. Als dann im 18. Jahrhundert Ideen von nationaler Identität aufkamen, fragten sich die Deutschen mehr und mehr, ob es ein einendes Moment angesichts des Flickenteppichs unzähliger deutscher Kleinstaaten geben könnte. Uwe Puschner:
"Insbesondere im 18. Jahrhundert, als dann diese Gedanken von Nation und Nationalismus aufkommen und man danach fragte, woher kommen wir eigentlich, wie können wir uns beschreiben und dann die Germanen in den Vordergrund traten. Zunächst mal in der Sprache und Kultur wurde diese Verbindung hergestellt und man hatte sozusagen einen Ursprungsmythos."
Als dann Napoleon zu Beginn des 19. Jahrhunderts große Teile Europas besetzt hatte, erwachte in den Deutschen ein neues, universales, vom Hass auf die Besatzer getriebenes Nationalbewusstsein. Erinnerungen wurden wach, an die Zeit als die Römer Germanien besetzt hatten.
"Europa ruft in diesem Augenblick: Ist kein Hermann da? – kein neuer Hermann, der die neuen Adler vor sich in die Flucht jagt? Auf, Deutsche! Euer Hermann muss sich finden." hieß es in einem "Aufruf an die Deutschen" im Jahr 1813. So wie Arminius - auch bekannt als Hermann der Cherusker - 9 nach Christus die germanischen Stämme geeint und die Römer aus Germanien vertrieben hatte, so müssten auch jetzt die Franzosen in ihre Schranken gewiesen werden.
"Dann haben die Germanen natürlich eine gewisse Vorbildfunktion erfüllt, weil man in ihnen die Bezwinger Roms gesehen hat. Und wenn man sich selbst als die Nachkommen der Germanen sieht, dann sieht man die Franzosen als die Nachkommen der Römer und dann sind die Germanen eben auch die Bezwinger der Franzosen."
Zwar war es eine europäische Koalition, die Napoleon 1813 schließlich besiegte. Aber die national gesinnten Deutschen verglichen die Leipziger Völkerschlacht mit einer zweiten Hermannsschlacht.
"Also eine neuerliche Befreiung von Fremdherrschaft, wie sie Arminius/Hermann 9 nach Christus bereits ins Werk gesetzt hat, das habe sich nun 1813 wiederholt. Und dann nimmt diese Dynamik der Germanenideologie des 19. Jahrhunderts, die dann bis ins 20. Jahrhundert reicht, ihre Anfänge."
"Germanen im Wald bei einer rituellen Opferung"
Mit der historischen Wirklichkeit haben romantisierende Illustrationen wie diese nicht allzuviel zu tun (imago / United Archives)
Germanenkult wird zunehmend mit völkischen Ideen durchsetzt
Das 19. Jahrhundert feierte die Germanen – oder was man darunter verstand. Siegfried, Wotan, aufrechte blonde Recken, oft – archäologisch nicht haltbar – in Rüstung und mit Flügelhelm - wurden in Gemälden, in Gedichten und Romanen, Bühnenstücken und Opern verewigt. Mit der Errichtung des Hermannsdenkmals im Teutoburger Wald wurde Arminius als deutscher Nationalheld gefeiert. Und zunehmend wurde der Mythos um die Germanen völkisch-rassisch ausgedeutet. Die Rede war von der Existenz einer germanischen, nordischen Rasse, die anderen Völkern und Kulturen überlegen sei. Uwe Puschner:
"Groß gewachsen, blond, blauäugig, dieser Längstschädel spielt eine zentrale Rolle und das Ganze ist auch verbunden im Zeitalter des Imperialismus mit einem Herrschaftsanspruch, der schon den Germanen zugeschrieben wurde und den man sich auch selbst als den Nachkommen von Germanen zuschreibt."
"Der Reinhaltung der Rasse messen wir eine besonders hohe Bedeutung bei. Ungeeignete Blutmischung führt zum Verfall. Unserem Volk muss der germanische Charakter erhalten bleiben." hieß es in einer Broschüre des völkischen "Deutschbundes" in den frühen 20er Jahren des 20. Jahrhunderts. Rassenhygiene war denn auch für die Nationalsozialisten die zentrale Aufgabe aller Politik.
"Deutlich wird, dass es Anhänger dieser Germanenideologie und dieser Germanenmythos gab, hier sind Heinrich Himmler, Alfred Rosenberg zu nennen. Aber es gibt auch Skeptiker, zu denen Hitler und Goebbels zu zählen sind. Nichtsdestotrotz, wenn man sich dann das Schrifttum oder die Propaganda ansieht, da schwirrt es nur so von Germanen und Germanenideologie."
Männergestalten aus Wagner-Opern. Wotan. Liebig Sammelbild 1906
Richard Wagner griff bei seinem Zyklus "Der Ring des Nibelungen" die nordisch-germanische Mythenwelt auf (Münchner Stadtmuseum)
Das Germanenbild heutiger Rechtsextremer
Auch heute noch gibt es diesen Kult ums Germanische in neonazistischen Gruppen, wie etwa bei der RechtsRock-Band "Die Lunikoff-Verschwörung". "Wotan mit uns, niemand über uns, Heil dem Herr der Heere" heißt es bei der NPD-nahen Band.
"Denn was uns bahnt zu Sieg und Schlacht / hat Gott ja selber angefacht, Wotan, allein dir Ehre."
In den Nischen des Rechtsrock lebt die Verherrlichung von "Germanenblut", von "Kampf" und dem "Herrn der Heere" weiter. Vielen Rechten gilt das allerdings heute als "Muff der NS-Nostalgie", so der Rechtsextremismus-Experte und Leiter des Archäologischen Freilichtmuseums Oerlinghausen, Karl Banghard. Und trotzdem sei für die extreme Rechte der Bezug aufs germanische Erbe auch heute unabdingbar:
"Als ein Verständnis von Deutsch aus der Urzeit heraus. Dort lassen die langen Zeiträume uns glauben, dass das Deutschsein quasi naturgesetzliche Gültigkeit hat. Und das ist eine extrem rechte Kernüberzeugung."
Allerdings habe sich das Germanenbild der sogenannten "Neuen Rechten" gewandelt: sie wenden sich ab von dem Klischee der martialischen Krieger und hin zu den Germanen als einem "fröhlichen Volk, freundlich und offen, mit einem hoch entwickelten Ehrbegriff, in Ehe einander verbunden und treu." Karl Banghard:
"In den 70er Jahren wollten sich einige Rechte lösen vom Muff der NS-Nostalgie. Dazu erfanden sie neue Erzählungen. Jetzt gings nicht mehr um arische Zuchtbullen, sondern um unterdrückte Ethnien, die eine organische Demokratie hatten und deren Frauen nicht unterdrückt waren. Bedrohte Völker eben, diese Erzählung war sehr zukunftsträchtig."
Varusschlacht als Blaupause für aktuelle Konflikte
In der Erzählung der Neuen Rechten gilt es dann, das Erbe dieses "sympathischen Völkchens" zu schützen. So schlägt es zum Beispiel die sogenannte "Identitäre Bewegung" mit ihrem Konzept des "Ethnopluralismus" vor. Den Identitären zufolge gibt es geschlossene, ethnisch homogene Kulturen, die von äußeren fremden Einflüssen reingehalten werden müssen.
"Ein wesentlicher Kern der Identitären ist die Geschichtsempathie. Es geht um ein Überzeitliches, mit langer Geschichte angereichertes Verständnis von Volk. Prinz Eugen ist dabei für die Österreicher da, Karl Martell für die Franzosen und unter anderem Arminius für die Deutschen."
Wie Karl Banghard erläutert, kann zum Beispiel Arminius und die Varusschlacht in der aktuellen Netflix-Serie "Barbaren" auch heute noch als Blaupause für aktuelle Konflikte dienen, indem man "die Erzählelemente der Varusschlacht notorisch auf das Hier und Jetzt bezieht. Wenn man sich z.B. die Kommentare zur Netflix-Serie Barbaren anschaut, da werden Römer mit Flüchtlingen identifiziert, Widersacher von Arminius mit Linken und so weiter."
Nun gibt es in vielen Völkern Ursprungsmythen, die von der gemeinsamen Herkunft eines Volkes von legendären Vorfahren erzählen und damit zur nationalen Identität beitragen. Oft sind solche mythischen Erzählungen heroische Ausschmückungen der historischen Wirklichkeit. In Deutschland trug der Mythos von den ‚unvermischten‘, freiheitsliebenden, kämpferischen Germanen allerdings zu einem der finstersten Kapitel der deutschen Geschichte bei. Insofern, so Mischa Meier, ist es Aufgabe der Historiker, entmythisierende Arbeit zu leisten:
"Das ist die Gegenreaktion in der Forschung. In Fachkreisen ist das ja längst bekannt, dass man mit der ‚Germania‘ zu fragen, was die Deutschen sind, nichts anfangen kann. Das Problem ist nur, dass sich die Identifikation der Deutschen mit den Germanen in Deutschland sehr tief ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt hat. Und deswegen gibt es auch heute noch verbreitet die Vorstellung, dass die Germanen die unmittelbaren Vorfahren der Deutschen seien. Ich würde sagen, dass man Vorfahren eines Volkes nicht bestimmen kann, weil dafür müssten sie ein Volk als eine feste Einheit definieren, das sie über Stammbäume bis in die Vorzeit zurückverfolgen können, das geht ja nicht. Völker sind ja viel fluidere Gebilde als man sich das im 19. Jahrhundert vorgestellt hat."